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de Wette, Wilhelm Martin Leberecht

(1780-1849)

(erstellt: Januar 2013)

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1. Leben

Wette, de 1

Wilhelm Martin Leberecht de Wette wurde am 12. Januar 1780 in Ulla bei Weimar als Pfarrerssohn geboren. Er besuchte die Stadtschule in Buttstädt und das Gymnasium in Weimar, wo er von Johann Gottfried Herder (1744-1803) und von der Klassik Goethes und Schillers geprägt wurde. 1799 immatrikulierte sich de Wette an der Universität Jena zunächst an der juristischen Fakultät, wechselte aber nach wenigen Wochen zum Studium der Philosophie und Theologie. Wichtige Impulse empfing er in dieser Zeit vom Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773-1843), dessen Kollege er später in Heidelberg wurde und mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, sowie von den Theologen → Johann Jakob Griesbach (1745-1812), → Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) und → Johann Philipp Gabler (1753-1826). 1805 promovierte de Wette in Jena mit einer Arbeit über das Deuteronomium („Dissertatio critico-exegetica …“) zum Dr. phil. und erhielt im gleichen Jahr die venia legendi. Zum Sommersemester 1807 wurde de Wette außerordentlicher, 1809 ordentlicher Professor für Altes und Neues Testament in Heidelberg. Im Juli 1810 erreichte ihn der Ruf an die neu gegründete Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin auf den dritten Lehrstuhl der Theologischen Fakultät neben Friedrich Schleiermacher (1768-1834) und Philipp Marheineke (1780-1846), ab 1812 erweitert um August Neander (1789-1850).

In den Berliner Jahren baute de Wette sein theologisches System aus und verfasste eine Reihe von grundlegenden Schriften. Nachdem der Theologiestudent und Burschenschafter Karl Ludwig Sand am 23. März 1819 in Mannheim den Schriftsteller und russischen Generalkonsul August von Kotzebue (1761-1819) ermordet hatte, richtete de Wette am 31. März 1819 an dessen Mutter einen „Trostbrief“, in dem er zwar die Tat als solche nicht billigte, jedoch die hohe ethische Gesinnung des Täters würdigte. In der politisch aufgeladenen Stimmung, die im selben Jahr zu den Karlsbader Beschlüssen führte, war eine solche Haltung für König Friedrich Wilhelm III. untragbar; er verfügte am 30. September 1819 die Entlassung de Wettes als Lehrer der Universität. De Wette siedelte nach Weimar über, war einige Jahre als freier Forscher und Schriftsteller tätig und unternahm zahlreiche Reisen, u.a. eine längere in die Schweiz. Eine Berufung als zweiter Prediger an die St. Katharinenkirche in Braunschweig scheiterte, weil der Landesherr, König Georg IV. von England, mit Rücksicht auf Preußen die Bestätigung der einstimmigen Wahl der Kirchgemeinde verweigerte. Am 7. März 1822 nahm de Wette den Ruf auf den dritten theologischen Lehrstuhl (für Ethik und Praktische Theologie) der Universität Basel an. Dort wirkte er bis zu seinem Tod am 16. Juni 1849 als nicht unumstrittener, aber hochgeehrter Lehrer und fünfmaliger Rektor der Universität sowie als Autor zahlreicher Schriften und Prediger.

W.M.L. de Wette war einer der letzten theologischen Universalgelehrten und einer der produktivsten theologischen Autoren des 19. Jahrhunderts. Seine 52 Bücher (davon manche in mehreren neu bearbeiteten Auflagen), 66 Artikel und Aufsätze und zahlreichen Rezensionen erstrecken sich über das gesamte Gebiet der Theologie, d.h. alt- und neutestamentliche Wissenschaft, Biblische Archäologie, Kirchen- und Theologiegeschichte, Dogmatik, Ethik und Praktische Theologie, umfassen zwei Bildungsromane und ein Schauspiel sowie zahlreiche Predigten und Stellungnahmen zu gesellschaftlichen und wissenschaftspolitischen Fragen. Als historisch-kritischer Bibelwissenschaftler wirkte er ebenso wie als Systematiker, Prediger und religiöser Schriftsteller.

2. Werk

2.1. Bibelwissenschaft

Die Bibelwissenschaft verdankt de Wettes konsequent historischem Ansatz verschiedene Impulse und grundlegende exegetische Einsichten, die die Forschung auf Jahrzehnte hinaus befruchten sollten.

De Wettes Dissertation von 1805 nannte die entscheidende These bereits im Titel: Dissertatio critico-exegetica qua Deuteronomium a prioribus Pentateuchi libris diversum, alius cuiusdam recentioris auctoris opus esse monstratur („Kritisch-exegetische Erörterung, in der gezeigt wird, dass das Deuteronomium ein von den vorderen Büchern des Pentateuchs verschiedenes, auf einen anderen, jüngeren Verfasser zurückgehendes Werk ist“). Dass das (Ur-) Deuteronomium im Zusammenhang mit den Reformen → Josias (2Kön 23) eine entscheidende Rolle spielte, war keine neue Einsicht. De Wette zeigte jedoch, dass das → Deuteronomium die Reformen nicht nur auslöste, sondern aus sprachlichen und theologischen Gründen in der Josiazeit überhaupt erst verfasst worden sein kann. Die Spätdatierung des Deuteronomiums gegenüber dem Rest des Pentateuchs eröffnete die → Pentateuchforschung des 19. Jahrhunderts und stellt einen „archimedischen Punkt“ (O. Eissfeldt) der Pentateuchforschung dar, indem sie erste Anhaltspunkte für die relative und absolute Datierung der literarischen Schichten des Pentateuchs lieferte.

Von noch weiter reichenden Folgen waren die „Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament“ (1806/07), das „Glanzstück von de Wettes kritischem Jugendwerk“ (R. Smend), in deren erstem Band de Wette die Spätdatierung der Chronikbücher im Verhältnis zu den vorderen Propheten begründete. Als historische Quelle für die Rekonstruktion der Geschichte Israels ist jedoch nicht nur die Chronik, sondern die gesamte mosaische Geschichte nicht verwendbar. Diese ist nicht Geschichtsschreibung, sondern Religion, die ihre Form im → Mythos findet. Der Pentateuch ist als Sammelwerk zu verstehen, an dessen Anfang ein altes Epos steht, das fortlaufend ergänzt wurde durch verschiedene erzählerische und gesetzliche Einzelstücke sowie das Deuteronomium. Unterstellte man de Wette später gerne, dass er damit den Glauben zerstöre, so ist es umgekehrt sein Anspruch, durch die historische Kritik am Alten Testament und die Widerlegung des historischen Missverständnisses im Dienst der Theologie den Weg frei zu machen für den richtigen, ästhetisch-religiösen Gebrauch der Bibel.

Eine Reihe von weiteren grundlegenden Einsichten verdankt die alttestamentliche Wissenschaft dem Psalmenkommentar de Wettes (1811, 4. Aufl. 1836). Schon J.G. Herder hatte gefordert, die Psalmen aus ihrer Zeit heraus zu verstehen (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 1782/83). Dieses Programm setzte de Wette konsequent um und entwickelte eine „ästhetisch-psychologische Hermeneutik“ (E. Otto). Im Gegensatz zur vorwiegend literarkritisch orientierten Psalmenforschung seiner Zeit, deren Hauptanliegen die Datierung und die Literaturgeschichte der Psalmen war, fragte de Wette nach ihrer „Dichtungsart“. Mit der von ihm erstmals entwickelten Klassifizierung der Psalmen (Hymnen, volkstümliche Psalmen, Zions-/Tempelpsalmen, Königspsalmen, Klagepsalmen, religiöse und moralische Psalmen sowie Mischformen), die sich auf die Beobachtung von „häufig wiederkommenden, gleichsam stehenden Gedanken, Phrasen und Bilder“ stützte, nahm de Wette wesentliche Erkenntnisse der späteren Gattungsforschung → H. Gunkels vorweg. De Wettes Psalmenkommentar ist ein „Meisterwerk“ (K. Seybold), das im 19. Jahrhundert ohne Parallele blieb.

Der Psalmenkommentar blieb de Wettes einziger alttestamentlicher Kommentar. Im 1835-48 erschienenen, mehrfach neu bearbeiteten und aufgelegten „Kurzgefaßten exegetischen Handbuch zum Neuen Testament“ kommentierte de Wette dagegen sämtliche Schriften des Neuen Testaments. Die Kommentarreihe ist bis heute eine wichtige Quelle für die Forschung, weil sie die ältere Forschung akribisch aufarbeitet. Mit ihrer sorgfältigen philologischen und historischen Arbeit ist sie auf der Höhe der Zeit, jedoch insgesamt vorsichtig im Urteil. Die Auslegung verbindet „umsichtige Gelehrsamkeit“ und „ungeheuchelte Frömmigkeit“ (H. Weder). Wie im Alten Testament ist es de Wettes Ziel, durch die historisch-kritische Arbeit die „symbolisch-poetische“ Dimension der neutestamentlichen Texte freizulegen und für Theologie und Glauben zu erschließen.

2.2. Theologie

Wie Fries und Schleiermacher verankert de Wette die Religion in der Anthropologie. Wissen und Glauben sind verschiedene Formen des Zugriffs auf die Welt: Wissen der Zugriff des Verstandes auf die sinnlich-endliche Welt, Glauben der Zugang der Vernunft zur übersinnlich-ewigen Welt. Beide sind verknüpft durch die „Ahndung“ des Gefühls, die in der Endlichkeit, besonders im Schönen und Erhabenen, das Ewige zu erkennen vermag. Die grundlegenden religiösen Gefühle Begeisterung, Demut und Andacht werden in der biblischen Tradition in Symbole und Mythen gekleidet. Diese sind nicht als historische Tatsachen zu verstehen, sondern in ihrem jeweiligen zeitbedingten Rahmen zu deuten, um daraus Orientierung zu gewinnen.

Mit dieser Verhältnisbestimmung von Glaube und Wissen, Offenbarung und Vernunft steht de Wette in der Tradition der „Vermittlungstheologie“, die einen Weg zwischen dem Dogmatismus konfessionalistischer oder pietistischer Frömmigkeit auf der einen und dem platten Rationalismus der Aufklärungstheologie auf der anderen Seite suchte. Von der einen Seite trennte ihn sein Verständnis der Bibel als eines Buches, das nicht Geschichte, sondern Mythen und Traditionen enthält, deren Gehalt sich im übertragenen Sinn und mittels „ästhetischer“ Interpretation erschließt. Von der anderen Seite trennte ihn die Reduktion der christlichen Religion auf Moral, die er als blutleer und kalt empfand. Im Gefühl und in der Kunst erkannte de Wette den Weg, die Religion als solche von ihren äußeren Erscheinungsformen zu unterscheiden, Vernunft und Offenbarung zu verbinden und zugleich eine zeitgemäße religiöse Existenz und Lebensform zu begründen. Indem er einen Weg jenseits von Rationalismus und Orthodoxie aufzeigte, begründete de Wette die Freiheit der Theologie sowohl von philosophischer als auch von kirchlicher Bevormundung. Zugleich verstand er seine Theologie zutiefst kirchlich.

Von besonderem Interesse ist die Gestalt de Wettes in ihrer inneren Widersprüchlichkeit, die ihn im Laufe seines Lebens zu einem „Theologen zwischen den Fronten“ (R. Smend) werden ließ. In ihrer spannungsvollen Zweideutigkeit vermag die Theologie de Wettes zu faszinieren als Versuch, intellektuelle Redlichkeit und wissenschaftliche Qualität zu verbinden mit christlicher praxis pietatis.

Literaturverzeichnis

1. Werke (in Auswahl)

  • Dissertatio critico-exegetica qua Deuteronomium a prioribus Pentateuchi libris diversum, alius cuiusdam recentioris auctoris opus esse monstratur, Jena 1805 (wieder abgedruckt in: Opuscula theologica, Berlin 1830; Neudruck mit Übersetzung: Hans-Peter Mathys, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Dissertatio critico-exegetica von 1805, in: Kessler-Wallraff, 2008, 171-211)
  • Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament, Jena 1806/07
  • Beytrag zur Charakteristik des Hebraismus, Heidelberg 1807
  • Commentar über die Psalmen, Heidelberg 1811 (4. Aufl. 1836, 5. Aufl. 1856 postum von Gustav Baur)
  • Lehrbuch der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwickelung dargestellt, Erster Teil: Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments oder kritische Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und Urchristenthums. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, Berlin 1813 (Die biblische Dogmatik enthaltend, Berlin 3. Aufl. 1831), Zweiter Teil: Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche nach den symbolischen Büchern und den älteren Dogmatikern. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, Berlin 1816 (Die Dogmatik der protestantischen Kirche enthaltend, Berlin 3. Aufl. 1840)
  • Lehrbuch der hebräisch-jüdischen Archäologie nebst einem Grundriss der hebräisch-jüdischen Geschichte, Leipzig 1814, 3. Aufl. 1842
  • Über Religion und Theologie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuche über Dogmatik, Berlin 1815, 2. Aufl. 1821
  • Die neue Kirche oder Verstand und Glaube im Bunde, Berlin 1815 (anonym)
  • Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments, Erster Teil: Die Einleitung in das Alte Testament enthaltend, Berlin 1817, 6. Aufl. 1845, Zweiter Teil: Die Einleitung in das Neue Testament enthaltend, Berlin 1826, 5. Aufl. 1848
  • Christliche Sittenlehre, Berlin 1819-23
  • Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen, Berlin 1822 (anonym), 2. Aufl. 1828
  • Vorlesungen über die Sittenlehre, Berlin 1823/24
  • Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken, Berlin 1825-28
  • Über die Religion, ihr Wesen, ihre Erscheinungsformen und ihren Einfluss auf das Leben. Vorlesungen, Berlin 1827
  • Heinrich Melchthal oder Bildung und Gemeingeist. Eine belehrende Geschichte, Berlin 1829
  • Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, Heidelberg 1831, 3. Aufl. 1838/39
  • Lehrbuch der christlichen Sittenlehre und der Geschichte derselben, Berlin 1833
  • Kurz gefasstes exegetisches Handbuch zum Neuen Testament, Basel 1835-48 (mehrere Neuauflagen z.T. postum)
  • Das Wesen des christlichen Glaubens vom Standpunkte des Glaubens, Basel 1846

2. Sekundärliteratur

  • Barth, Karl, Die protestantische Theologie, Zürich 6. Aufl. 1994, 433-441
  • Kessler, Martin / Wallraff, Martin (Hgg.), Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftliche Studien. Aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Neue Folge 5), Basel 2008
  • Mathys, Hans-Peter / Seybold, Klaus (Hgg.), Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Neue Folge 1), Basel 2001
  • Rogerson, John W., W.M.L. de Wette, Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (JSOT.S 126), Sheffield 1992
  • Smend, Rudolf, Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 38-52
  • Smend, Rudolf, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, Basel 1958
  • Staehelin, Ernst, Dewettiana. Forschungen und Texte zu Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Leben und Werk (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel II), Basel 1956

Abbildungsverzeichnis

  • Wilhelm Martin Leberecht de Wette.

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