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Bildung / Erziehung

(erstellt: Juni 2011)

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1. Begriffe

Für unsere Ausdrücke Bildung und Erziehung finden sich in der Antike keine völlig äquivalenten Begriffe, aber das griechische Wort paideia (παιδεία) scheint zentrale Bedeutungsaspekte der beiden Ausdrücke abzudecken (Christes, 1997; Christes, 1998; Christes, 2000). Paideia bezeichnete die Erziehung und Bildung des Kindes und des jungen Menschen, und beinhaltete sowohl den Prozess als auch die erzielten Ideale, die sich als Qualitäten (Tugenden) des erwachsenen Menschen zeigen sollten.

Im modernen Sprachgebrauch weisen die zwei Begriffe Bildung und Erziehung sich überschneidende Bedeutungsfelder auf. Sie sind freilich keine Synonyme, sondern zeigen der Funktion nach unterschiedliche Schwerpunkte. Erziehung betrifft vermutlich zunächst Sitte und Moral; man redet eher davon, dass ein Kind erzogen wird als ein Erwachsener. Als Kontext denkt man eher an Haus / → Familie, während mit Bildung eher die Schule als Kontext verbunden wird. Bildung kann man auch als Erwachsener suchen, wobei auch meist eine literarische Bildung einbezogen ist.

Die Begriffe lassen sich nicht neutral und mit klaren Bedeutungen definieren und werden meist normativ verwendet; sie sind mit Werten verbunden. Mit Erziehung und vielleicht noch mehr mit Bildung können all diejenigen positiven Vorstellungen verbunden werden, von denen man möchte, dass sich ein Mensch in deren Richtung entwickelt. Insofern es unterschiedliche Ideale gibt, gibt es auch unterschiedliche Bildungsbegriffe. Auf die Diskussion dieser Begriffe in unserer neueren Geistesgeschichte kann hier nicht eingegangen werden (→ Erziehung / Erzieher) (Lindemann). In der Antike gab es einen Disput über den Inhalt oder auch die Verwendung der Bildungsbegriffe, wie z.B. zwischen Rhetorik und Philosophie, oder wenn Juden argumentierten, dass ihre → Weisheit andere Weisheit übertraf, oder wenn Paulus von der bisher verborgenen, aber nun in der Lehre der Apostel offenbarten Weisheit Gottes schrieb, eine Weisheit, durch welche die Gotteserfahrungen der Juden und die Weisheit der Griechen überboten wurden (1Kor 1-2).

In Zusammenhang mit diesem Streit um die Begrifflichkeiten steht eine Schwierigkeit für die Problematisierung von Erziehung / Bildung im frühen Christentum. Die fachliche Diskussion leidet immer noch unter einer etablierten und zu scharfen Unterscheidung zwischen der klassischen und späteren griechisch-römischen Bildung auf der einen Seite und dem Christentum auf der anderen (vgl. Lindemann). Diese Differenzierung hat vermutlich mehrere Ursachen. Historisch dürfte die christliche Entfaltung des vom Judentum geerbten Exklusivitätsanspruchs eine Rolle gespielt haben, den die ersten Christen auch bei der Ausformung einer selbstständigen Identität nutzten. Dieser Anspruch schloss ein monotheistisches Gottesbild ein, das neben einem kultischen Exklusivismus – nur der eine Gott sollte verehrt werden – auch eine lehrmäßig-philosophische Seite hatte, die in → Lernen und Bildung zum Ausdruck kam. Der daraus resultierende Exklusivitätsanspruch hat Vorstellungen von Singularität und Überlegenheit gefördert, welche in Sekten und kleineren Gruppen identitätsstärkend wirkten.

Diese identitätsbezogene Polarisierung (Identität wird immer in einem dialektischen Prozess verhandelt) verhinderte allerdings nicht, dass das Christentum – wie das Judentum und andere Teilkulturen – allgemeine hellenistische Kulturelemente (wie Ausbildung und Sprache) aufgenommen hat, und auch, dass klassische Kultur durch das Christentum bewahrt wurde. Wegen dieser Polarisierung und der späteren kulturellen Entwicklung in Europa wird für die Antike der Begriff Bildung / paideia gelegentlich für die griechisch-römische Bildung (klassische Literatur und Philosophie, rhetorische Bildung) reserviert. Wenn mit diesem Bildungsbegriff untersucht wird, wie es um die Bildung im frühen Christentum bestellt war, ergibt sich ein ernüchterndes Bild. Die christliche Literatur schrieb sich nicht in die klassische literarische Tradition durch Zitate und Hinweise ein, und auch nicht durch Verwendung von rhetorisch und literarisch gehobenem Stil.

Die folgende Darstellung zielt nicht auf eine Verwischung der Unterschiede, sondern auf eine Differenzierung zwischen Kulturelementen, von denen einige besonders identitätsmarkierend wirkten und andere nicht. Z.B. funktionierten Sprache und religiöse Riten in dieser Hinsicht unterschiedlich. Wenn die Fragestellung auch etwas vom Inhalt der klassisch-griechischen Tradition gelöst wird, kann erkannt werden, dass verschiedene literarische und moralische Traditionen in einer Bildungsperspektive vergleichbar funktionieren können.

Die maßgeblichen Quellen zu Erziehung und Bildung in der Antike finden sich zunächst in der griechischen und lateinischen Literatur, in der sich die Ideale und der soziale Kontext der literarisch gebildeten Kreise widerspiegeln. Über entsprechende Ideale in anderen Kreisen und anderen Teilkulturen können nur mehr oder weniger qualifizierte Vermutungen angestellt werden. Die aus den genannten Quellen erhobenen Kenntnisse bilden den Hintergrund für eine Thematisierung von Bildung im frühen Judentum und Christentum. Wir können dabei mit strukturellen Ähnlichkeiten in Bezug auf Rollen in Erziehungs- und Bildungsrelationen, in Bezug auf Normen für gutes Benehmen, in Bezug auf Methoden für die Einübung von literarischen Fähigkeiten und in Bezug auf soziale Kontexte für die Anwendung literarischer Bildung rechnen.

Soweit wir wissen hat, ein Großteil der Schüler die griechische literarische Sprache (Koine) gelernt. Koine war als die gemeinsame administrative und kulturelle Sprache in der frühen römischen Kaiserzeit folglich auch die bildungsmäßige Basis des frühen Christentums.

Wir müssen allerdings mit vielen lokalen, kultur- und traditionsbedingten Variationen rechnen, besonders wenn es um die konkreten Bildungsinhalte und deren Funktion bei der Identitätsbildung geht. „Identität“ funktioniert dialektisch und Identitätsbildung impliziert immer eine Markierung von sozialen und symbolischen Grenzen, die in Auseinandersetzung mit anderen Gruppen errichtet werden (vgl. Moxnes).

2. Erziehung / Bildung in hellenistisch-römischer Zeit

Typische, paradigmatische Kontexte für Erziehung und Bildung sind Haus(gemeinschaft) / Familie und Schule. Paradigmatische Rollen sind die der Eltern, Ammen, Pädagogen und Lehrer. Bei den Begriffen, die den essentiellen Inhalt andeuten, sind Sittlichkeit, Tugend, Weisheit, Kenntnis, Tüchtigkeit, Ehre zentral, die entsprechenden negativen Gegenbegriffe lauten etwa Unsittlichkeit, Laster, Unmoral, Unkenntnis, Unverstand und Torheit. Ferner können auch besondere Mittel oder Methoden mit Erziehung / Bildung verbunden werden: die Anleitung, die Überredung, die Gewöhnung, das Vorbild, der Unterricht (Zenkert).

2.1 Kinder und Erziehung

Die Erziehung sollte möglichst auf die späteren Rollen in der Gesellschaft vorbereiten, was in den oberen Schichten bedeutete, dass die Jungen für die Rolle als pater familias, oder auch für die Leitung der Geschäfte des Hauses und für Funktionen im öffentlichen und politischen Leben ertüchtigt werden sollten. Für Mädchen galt es, die Funktionen als Leiterin des Haushalts und die Meisterung von häuslichen Aufgaben zu erlernen (vgl. Christes / Klein / Lüth, 44f.). Die Elite war klein, und eine große Mittelklasse wie in unseren Gesellschaften gab es nicht. Für Familien, die nicht zu den obersten sozialen Schichten gehörten, darf wohl allgemein vermutet werden, dass die Eltern bemüht waren, ihren Kindern Tüchtigkeit bei ihrer künftigen Arbeit zu lehren, und die meisten meinten wohl, dass sie sich für ihre Kinder eine literarische Ausbildung um der Bildung selbst willen nicht leisten konnten.

Üblicherweise wurde das Kind als unfertiger Mensch aufgefasst, dem bestimmte Qualitäten erst implementiert werden mussten. Als „ungeformtes Lebewesen“ benötigte das Kind „eine physische und psychische Formung“ (Christes / Klein / Lüth, 42f.). Die ersten zwei Monate lag das (neugeborene) Kind meist in Tüchern straff gewickelt, und danach wurden Massagen eingesetzt, beides um die gewünschte Körperform zu erreichen (Christes / Klein / Lüth, 49). Auch die psychische Formung sollte so früh wie möglich anfangen, wobei unterschiedliche Bezugspersonen ihre Rolle beim Vermitteln von Sitten, gutem Benehmen und korrekter Sprache hatten.

Die Bezugspersonen waren Vorbilder für die Kinder. Laut dem in Rom lebenden Rhetoriklehrer Quintilian (1. Jh. n. Chr.) solle eine Amme möglichst zu den besten Frauen gehören, mit guter Moral und einer fehlerfreien Sprache. Die Worte der Ammen seien die ersten, die das Kind hört, und das Erste, das die Natur präge, lasse sich am schwierigsten wegradieren. Auch die Sklavenkinder, mit denen das Kind spiele, sollten fehlerfrei reden, und der Pädagoge sollte sich durch gute Moral und Sprache auszeichnen. Solche idealen Voraussetzungen gab es natürlich nicht immer. Laut Quintilian sollten die Eltern aber mindestens dafür sorgen, dass das Kind eine Person in seiner Nähe habe, welche die umweltbedingten Fehler korrigieren könne (Quintilian, Institutio oratoria I.1.4-9). Die Ideale, wie sie bei Quintilian zu lesen sind, wurden vermutlich bei einigen in den obersten Schichten der Gesellschaft angestrebt, geben aber vielleicht auch eine Vorstellung von den etwas weiter verbreiteten Auffassungen von Kindern sowie ihren Qualitäten und Bedürfnissen wieder.

In Bezug auf Ausbildung und Bildung formulierte Quintilian recht nuancierte Ideen. Die Kinder seien verschiedenartig und der Unterricht müsse darauf Bezug nehmen, dass die Natur die Kinder in unterschiedliche Richtungen führe (Quintilian, Institutio oratoria II.8). Der Unterricht müsse den natürlichen Vorgaben des Schülers folgen (I.3; I.2.28). Eine Grundstimmung der Ausgewogenheit solle die Beratung der Schüler begleiten. In der Beurteilung der Leistungen der Schüler dürfe weder Lob noch Tadel maßlos ausgeteilt werden. Ein verschwenderischer Gebrauch von Lob erzeuge bei den Schülern Selbstzufriedenheit, der übermäßige Einsatz von Tadel führe zu Arbeitsunlust (II.2.6). Die vom Lehrer anzustrebenden guten Beziehungen seien schließlich auch die Voraussetzung für die Akzeptanz des vom Lehrer vorbereiteten Unterrichts. Wenn die Beziehung gut sei, werden Schüler gern dem Vorbild ihres Lehrers folgen (II.2.8). Die Lehrer sollen den Schülern Aufgaben stellen, die den Anlagen und Voraussetzungen der Kinder angepasst seien. Sie müssen auch, obwohl die Schüler Tadel nicht gern hören, offen deren Fehler kritisieren. Ziel sei die selbständige Arbeit des Schülers (II.6.3–7).

Körperliche Züchtigung könne dagegen nichts zur Kultivierung der Anlagen eines freien Menschen beitragen. Am stärksten verabscheute Quintilian die Prügelstrafe im Unterricht. Sie sei hässlich und sklavenmäßig und jedenfalls ein Unrecht. Wo Ermahnungen nicht bessern können, werden auch keine Schläge helfen. Schläge bringen Schmerz und Angst, Schmerz und Angst wiederum rufen Scham hervor. Die Scham breche und lähme den Mut (Quintilian, Institutio oratoria I.3.14–17). Auch in den jüdischen Schulen galten körperliche Züchtigungen als unerwünscht und als ungeeigneter Ersatz für guten Unterricht (Safrai, 954f.).

Die Grundhaltung oder Gesinnung des Lehrers den Schülern gegenüber scheint nach Quintilian der entscheidende Faktor für die gesamte Erziehung, Ausbildung und Bildung in der Schule zu sein. Die durch Strenge und Freundlichkeit gekennzeichnete „Gesinnung eines Vaters“ (Quintilian, Institutio oratoria II.2.4), könne Liebe und Verehrung bei den Schülern erzeugen, und dies schaffe die entscheidende Voraussetzung für die gelungene Bildung.

2.2 Literarische Ausbildung und Bildung

Zu der spezifischeren literarischen Bildung konnten das elementare Lesen und Schreiben sowie der weiterführende literarische Unterricht (Grammatik), Rhetorik und Philosophie gerechnet werden. Öffentlich finanzierte oder geregelte Schulen gab es nicht. Bildung und Schulung erforderten persönliche Initiative und Planung und mussten auf allen Stufen eigenfinanziert werden. Eine kleine Minderheit der Kinder ging zu einem Lehrer um Lesen und Schreiben zu lernen. Im Großen und Ganzen dürften in hellenistischer Zeit kaum mehr als 10% der Gesamtbevölkerung über eine Lese- und Schreibfähigkeit verfügt haben (Harris, 328f.; Christes / Klein / Lüth, 17f.). Sie gehörten überwiegend zur Elite, aber auch einige Handwerker sowie Sklaven waren schreibkundig. Die selbstständige und freie Beherrschung literarischer Sprache war allerdings einem weit kleineren Teil der Bevölkerung vorbehalten.

Für diejenigen, die in eine Schule kamen, fing das Lernen einer literarischen Sprache beim grammatistes an, dessen Aufgabe es war, die Kinder die Buchstaben des Alphabets und das elementare Lesen und Schreiben zu lehren. In der weiterführenden Ausbildung bei dem grammatikos wurden dann Texte gelesen und erklärt, einfache Texte wurden selbst geschrieben (Cribiore; Morgan; Hock). Den Schwerpunkt des Unterrichtsstoffes bildeten die klassischen Autoren Homer, Vergil, Euripides und Menander (Quintilian, Institutio oratoria I.8. Vgl. Morgan; Hock). Die Textarbeit beinhaltete Lesen (anagnosis), Exegese (exegesis) und Beurteilung (krisis). Es scheinen immer wieder die gleichen Textausschnitte benutzt worden zu sein. Die Texte wurden laut gelesen, rezitiert und vermutlich zumeist auch auswendig gelernt. Durch die Exegese wurden unbekannte, archaische und poetische Wörter erklärt und deren Inhalt ausgelegt, wodurch der Schüler Wissen über Personen, Orte und Ereignisse vermittelt bekam. Das Anliegen der Beurteilung (krisis) war in erster Linie ein moralisches: Literatur galt als Fundgrube heroischer Beispiele menschlicher Perfektion. Hellenistische Lehrer haben versucht, aus den Klassikern, besonders aus Homer, einen moralischen Kodex herzuleiten.

Die weitere Einübung in literarische Textkompetenz geschah durch die „Progymnasmata“, die schulischen Übungen der Textgestaltung: Chrie (chreia), Gnome (gnome), Fabel (mythos), Erzählung (diegesis), Topos (topos), Beschreibung (ekphrasis), Prosopopoiie (prosopopoiia), Lob / Tadel (enkomion/psogos), Vergleich (synkrisis), Thesis (thesis) und Nomos (nomos) (Quintilian, Theon aus Alexandrien [1. Jhdt. n. Chr.]). Die Bezeichnungen entstammen z.T. den Gattungen, die als Ansatzpunkte für die sprachlichen Übungen dienten. Nach Theon sind die „Gymnasmata“ seiner Schule nicht nur für werdende Redner, sondern auch für künftige Dichter oder Geschichtsschreiber unbedingt erforderlich, sowie für jene, die sich irgendwie sonst der Schriftstellerei widmen möchten. Denn die Übungen seien als Fundament für jede Form von Textgestaltung zu betrachten (Theon, Progymnasmata 70). Durch die „Progymnasmata“ wurden formale Sprachkompetenzen wie Textgliederung und Stil erlernt. Weiter forderte die Auswahl des Stoffes (inventio) eine größtmögliche Kenntnis der Literatur und aktueller Wissensbereiche. Eine wirkungsvolle Anwendung in Texten setzte außerdem die Vertrautheit mit Werten und Tugenden voraus. Diese Momente waren deshalb zentrale Bestandteile einer literarischen Bildung (Vegge, 137-173).

2.3 Bildung

Quintilian empfiehlt, dass die ersten Sätze, womit Kinder üben, seien es Aussagen berühmter Männer oder Sätze aus den Dichtern, eine gute Moral enthalten sollen. Diese Sätze prägen sich in den noch ungebildeten Geist der Kinder ein. Sie werden die Lebensführung positiv beeinflussen, werden die Kinder bis zum Alter begleiten (Quintilian, Institutio oratoria I.1.35-36). Die Schüler werden mit zentralen Passagen aus der griechischen literarischen Tradition bekannt gemacht. Die Personen in den Texten, ob Götter oder Menschen, stellen sich öfters jedoch nicht als moralische Vorbilder dar. In der Schrift De audiendis poetis geht Plutarch auf die Beziehung zwischen den Texten und der Moral der Schüler ein. Was den Texten der Poeten entnommen werden sollte, war keineswegs die faktische Nachahmung ihrer oftmals negativ zu beurteilenden Handlungsverläufe, sondern die Kunst, solche Handlungen in Texten nach- und abzubilden (Plutarch, Moralia [De audiendis poetis] 18B; 18D).

Sprache und literarische Ausbildung bildeten den Kern in Erziehungs- und Bildungskonzepten. Die Sprache war der Schlüssel zu Kultur und Bildung. Dies ist vielleicht bei den Rhetorikern am deutlichsten. Aber auch in der Moralphilosophie war die Sprache das Medium, durch das Erkenntnis und Weisheit erlernt wurden. Ähnliches gilt für die jüdische Tradition: Die überlieferten Texte, ja schon die erste Einübung des Alphabets galten als Schlüssel zur Weisheit.

2.3.1 Rhetorik

Nicht zuletzt Isokrates (436-338 v. Chr.) trug dazu bei, dass die gängige Auffassung von der Bildung und den Tugenden eines gebildeten Menschen durch die Rhetorik bestimmt wurde. Der Rhetorik wurde eine humanisierende Funktion zugemessen. Die Rhetorik sei Kultur schlechthin, sie gewährleiste die Tradierung humaner Werte und scheide den Menschen vom Barbaren. Die Sprache sei der Schlüssel. Isokrates betont einen Zusammenhang zwischen Rede, Gedanke und Leben, der gerade durch die Redekunst gewährleistet wird. Laut Isokrates besitzt die Rhetorik die Kraft, sittliche Bildung zu vermitteln (Isokrates, Antidosis 254-257). Diese Ideale wurden von Cicero und Quintilian weitergeführt (Cicero, De oratore I.31-33). Nach Quintilian muss der Redner zunächst ein guter Mensch sein. Darum sei „die Rhetorik die Wissenschaft, gut zu reden“ (Quintilian, Institutio oratoria II.15.34). Und „gut“ hat hier neben der ästhetischen auch eine ethische Bedeutungskomponente. Quintilian geht auf die ideale (Redner-)Persönlichkeit ein und nennt dabei Kennzeichen wie Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo), Enthaltsamkeit (abstinentia), Maßhalten / Besonnenheit (temperantia) und Frömmigkeit (pietas) (Quintilian, Institutio oratoria XII.2.17). An anderer Stelle spricht er vom weisen Menschen (vir sapiens) (Quintilian, Institutio oratoria I.Pro.18) und vom guten Menschen (vir bonus) (Quintilian, Institutio oratoria XII.1.3). Quintilians Ideal ist der Mensch, der diese Tugenden „selbst in seinen Geist aufgenommen hat und wirklich so fühlt“ (Quintilian, Institutio oratoria XII.2.17).

Quintilian hat zweifelsohne seine Studenten dazu angehalten, sich diese Tugenden anzueignen. Und da die gute Beherrschung der Redekunst impliziert, dass der Redner ein guter Mensch sei, sieht Quintilian die Redekunst als Gottesgabe: Durch diese Gabe habe Gott den Menschen von den anderen Lebewesen am deutlichsten unterschieden (Quintilian, Institutio oratoria II.16.11f.). Die Redegabe sei eine Himmelskraft des Geistes (animus caelestis). Die Menschen hätten nichts Besseres von den Göttern erhalten und in keiner Kunst werde sich die Mühe guter Ausübung besser auszahlen als in der Kunst der Rede (Quintilian, Institutio oratoria II.16.17f.).

Mit diesem Fokus auf die Tugenden befanden sich die Rhetoriklehrer in Übereinstimmung mit den Philosophen der Vergangenheit, die sie auf diesem Gebiet durchaus als autoritativ anerkannten. Sie befanden sich jedoch in Opposition zu den Philosophen ihrer eigenen Zeit. Angeprangert wurde vor allem, dass die Philosophen sich aus dem öffentlichen Leben zurückzogen, dass sie ihren Studenten viel mehr versprachen, als sie halten konnten, und dass ihre Diskussionskunst für das menschliche Leben in der Polis völlig ohne Nutzen war. Das Lernen der Tugenden war indes von öffentlichem Interesse: Es sollte dem Leben in der Polis dienen. Die Redekunst bildete in dieser Sichtweise die Grundlage der Zivilisation, deren Verkörperung das geordnete Zusammenleben in der Gesellschaft war.

2.3.2 Philosophie

Die Philosophenschulen verstanden sich mehr oder weniger als Alternativen zu der von der Mehrheit gesuchten Bildung. Die berühmten philosophischen Gestalten der Vergangenheit waren allerdings sehr bekannt, und viele hatten vielleicht auch eine Idee von dem, was Sokrates, Platon, Aristoteles, Epikur, Zenon und Diogenes unterrichtet hatten. Persönlich konnte man der Philosophie in den Philosophenschulen der Stadtstaaten begegnen. Es war möglich, sich den Unterricht eines Philosophen in einer Säulenhalle anzuhören oder auch sich einer Schule als Schüler anzuschließen. Ein Lehrer und ein paar Schüler machten schon eine Schule aus.

Nach dem Stoiker → Seneca gäbe es ohne Erkenntnis keine Bildung (Epistulae morales 90.46). Die Philosophie ist die Liebe zur Weisheit und das Streben danach. Laut Seneca hatte das Streben nach Weisheit einen göttlichen Anstoß und war von entsprechenden Tugenden begleitet (Epistulae morales 89.4-5 und 90.1-3). Die Kultur der Menschen, also das Zusammenleben in Gesellschaften sowie die Künste und Wissenschaften, sind nach Isokrates und Cicero durch die Sprache hervorgebracht und durch die Kunst der Rede entwickelt und veredelt worden (Isokrates, Antidosis 254f.; Cicero, De oratore I.33f.). In ähnlicher Weise argumentiert Seneca für die Überlegenheit der Philosophie. Diese gehe allerdings auch über die von der Klugheit und Erfindungsgabe der Menschen entdeckten oder gestifteten Künste, Wissenschaften und Handwerke hinaus und bestehe ausschließlich in der Suche nach der Wahrheit göttlicher und menschlicher Dinge (Epistulae morales 90).

Besonders unter Philosophen wurde der Bildungsprozess als solcher zu ergründen versucht. Bildung bestand im Fortschreiten auf einem Bildungsweg, dessen Ziel die Vollkommenheit bildete, selbst wenn viele meinten, die Vollkommenheit sei für einen Menschen unerreichbar. Der Prozess der Bildung vollzog sich in einem psychischen, moralischen und intellektuellen Fortschritt, der „prokope“. Der Vollkommene hat die Furcht vor Göttern und Menschen abgelegt, steht auf festem Grund und hat das nützliche und notwendige Wissen in Gänze erfasst und Harmonie mit der Natur erlangt (Seneca, De beneficiis VII.1.7). Fortschritt (prokope) erforderte Konzentration auf das Innere. Der eigene Charakter sollte bearbeitet werden, wodurch Bildung als Übung von Wille und Entschlusskraft sinnfällig wurde. Nach Auffassung einiger Philosophen führte dieser Fortschritt keineswegs zu einem gesteigerten Beifall der Mitbürger. Nach Epiktet konnte der Fortschreitende damit rechnen, als einfältig oder töricht angesehen zu werden (Epiktet, Encheiridion 13). Philosophen räumten allerdings bereitwillig ein, dass im tatsächlichen Leben eine Diskrepanz zwischen Lehre und Leben bestand, und wenn Seneca auf sich selbst zu sprechen kam, sah er sich weit von der Vollkommenheit entfernt (Seneca, De vita beata XVII-XVIII).

2.3.3 Bildung und literarisches Schaffen / Literatur

Literarisches Schaffen war ebenfalls ein Charakteristikum der Rhetoren- und Philosophenschulen. Die Schulen verfügten über Bibliotheken, die das Selbststudium, den Unterricht und das literarische Schaffen förderten. Die Form des mündlichen Unterrichts scheint einige der literarischen Formen geprägt zu haben. Der philosophische Unterricht in Form der Diatribe konnte literarisch nachgebildet werden, und der Brief konnte als Ersatz für das Gespräch oder den mündlichen Unterricht dienen. Die literarische Form des Briefs war besonders beliebt, und ebendies ist für die Frage der frühchristlichen Bildung von besonderem Interesse. Zu philosophischen literarischen Formen gehörten u.a. auch Sentenzen, Lehrgedichte, Hymnen, Dialoge, Memorabilien, Essays, Werbeschriften (Protreptik), Paränesen und Trostschriften (Erler; Snyder; Stowers).

2.4 Bildung im jüdischen Kontext

Auch jüdische Kinder wurden von ihren Eltern zu griechischen Schulen geschickt, wo sie Abschnitte aus Homer lesen lernten und auch einfaches Schreiben übten (Hezser, 240). Insbesondere in der Oberschicht wurde eine griechische Bildung für die Kinder vorgezogen (Hezser, 68; 90ff.). Eine fortgeschrittene literarische Bildung, die auch ein hebräisches Torastudium inkludieren konnte, war auch unter Juden nur wenigen vorbehalten. Einige lernten Hebräisch in der → Synagoge oder bei einem Lehrer, um die → Tora lesen zu können oder auch im Hinblick auf das Vorlesen im Syngagogengottesdienst (Hezser, 242). In einigen Fällen mag auch der jüdische Elementarunterricht auf das Lesen der Tora ausgerichtet gewesen sein. Solcher Unterricht hatte meist im Rahmen des privaten Haushalts seinen Ort (Hezser, 49; 67f.). Einige jüdische Elementarlehrer scheinen Hebräisch und die Tora unterrichtet zu haben als Ausdruck einer bewussten Wahl in Bezug auf jüdische Identität als Alternative zu griechischer Identität (Hezser, 70f.).

Es ist im → Talmud angedeutet, dass man beim Lernen der Tora mit Abschnitten im Buch → Leviticus angefangen hat. Dies ist wichtig, weil viele über diese Texte nicht hinauskamen (Hezser, 77). Die rituellen Gesetze des Leviticus waren spezifisch jüdisch und konnten als Merkmal jüdischer religiöser Praxis und jüdischer Identität gelten. Außerdem wurde den Schülern durch das (auswendig) Lernen des Shema Jisrael (Dtn 6,4f.) der exklusive Glaube an den einen Gott vermittelt. Die Kenntnis einiger ritueller Gesetze und das Vermögen, das Shema Jisrael vortragen zu können, transportierten zudem die Kenntnis von dem, was die Jungen von den gleichaltrigen nicht-jüdischen Kindern unterschied (Hezser, 78).

Eine spezifisch höhere Bildung wäre in diesem Zusammenhang ein Unterricht bzw. ein Studium, bei denen man zunächst um die jüdischen Texte und Überlieferungen sowie um die jüdische Theologie und das jüdisches Ethos bemüht war. Man kann vermuten, dass zur Zeit des zweiten Tempels in Jerusalem ein Lehrhaus existierte und dass jüdische Lehrer Kreise von Schülern um sich sammelten, um die schriftliche und mündliche Tora zu studieren (Hengel, 260f.; Byrskog, 67-77). Ferner gibt es aus → Qumran Hinweise auf Bildungsaktivitäten (Byrskog, 69ff.), und es kann angenommen werden, dass es eine höhere Schule in Alexandria gegeben hat, mit der man → Philo in Verbindung bringen kann (Sterling). Die Rede in → Jesus Sirach von einem „Haus der Bildung“ (οἶκος παιδείας; oikos paideias) (Sir 51,23) mag bildlich die jüdische Lehrtradition und ihren Sitz bezeichnen, konnte sich allerdings auf eine Schule in Jerusalem beziehen (Byrskog, 67ff.), wo auch Sirach in den ersten Jahrzehnten des 2. Jh. v. Chr. unterrichtet haben kann (vgl. Sir 24,30-34; 51,23). Seine Schrift ist von einer spezifischen Bildungssprache geprägt.

Im „Haus der Bildung“ (Sir 51,23) ging es zunächst nicht um die Vermittlung der elementaren Fertigkeiten des Lesens und Schreibens, sondern um eine Weisheit, die Ethos und eine geschlossene Wirklichkeitsauffassung beinhaltet, was diese Schule den hellenistischen Philosophenschulen vergleichbar macht.

Allgemein kann angenommen werden, dass die Pflege der schriftlichen und mündlichen Traditionen, wie sie in Qumran, unter den Schriftgelehrten in Jerusalem und in → pharisäischen Kreisen betrieben wurde, nicht nur eine allgemeine Ausbildung in Lesen und Schreiben voraussetzt, sondern eine weiterführende Bildung, die die Interpretation von Texten beinhaltete und in der die Voraussetzungen für die Vermittlung der Interpretationen in Predigten und im Unterricht erarbeitet wurden.

Die durch → Augustin überlieferte Charakterisierung von Juden durch Seneca ist wohl auf Juden in der Diaspora zu beziehen. Nach Seneca zeichneten sich die Juden vor allem durch eine genaue Kenntnis der eigenen Traditionen aus (Augustin, De civitate dei VI.11). Nach → Josephus, dessen Wurzeln in Palästina liegen und der aus jüdischer Perspektive schreibt, bestehe die Eigenheit jüdischer Bildung in der Verflechtung von Unterricht, Wort und der Einübung von Verhaltensweisen; weiterhin gewähre das jüdische Gesetz die grundlegendste wie auch hervorragendste Bildung, weshalb alle Juden einmal pro Woche alles übrige unterließen, um in einer Zusammenkunft das Gesetz zu hören und zu lernen (Josephus, Contra apionem II.171, 175. Vgl. Philo, Legatio ad Gaium 210). Hinter dieser idealisierenden Argumentation steckt wohl die Tatsache, dass schon in der Zeit des zweiten Tempels das Lernen – wobei die literarische (schriftliche und mündliche) Tradition als Quelle der Weisheit galt – als genuiner religiöser Akt in der jüdischen Religion verstanden wurde.

3. Frühes Christentum und Neues Testament

Funktionen von Bildung und Erziehung bei den ersten Christen müssen auf Grund von Indizien in den Texten und vor dem Hintergrund der aus anderen antiken Quellen gewonnenen Kenntnis erörtert werden. Wir können davon ausgehen, dass Christen die oben skizzierten Vorstellungen von Kindern und deren Bedürfnis an Formung, Erziehung und Bildung teilten. Dabei ging es darum, den Kindern herkömmliche Traditionen in Bezug auf Sitte und Brauch zu vermitteln, die zur Ausbildung von Ehre und Scham führten, so dass sie alles lernten, um tüchtige und gesellschaftlich adäquate erwachsene Menschen zu werden.

In christlichen Gruppen entstanden schon sehr früh bemerkenswerte literarische, zumeist Griechisch sprachige Texte. Von Anfang an gab es Leute mit der nötigen Fähigkeit und dem entsprechenden Interesse für die Formulierung der kognitiven Dimension des Glaubens und für die Vermittlung desselben durch Formen und Gattungen, die in der literarischen Bildung üblich waren. Einige wenige brachten eine fortgeschrittene Bildung mit, als sie sich einer Gruppe von Christusgläubigen anschlossen. Und einige haben auch ihre Kinder in die Schule geschickt. Wir können annehmen, dass sich die soziale Gliederung dieser Gruppen nicht besonders von der übrigen Gesellschaft unterschieden hat, so dass davon auszugehen ist, dass auch nicht mehr als 10% der Christen über eine Lese- und Schreibfähigkeit verfügten. Vielleicht waren einige Sklaven literarisch gebildet, und einige Christen mögen als Lehrer tätig gewesen sein. Einige, aber vermutlich sehr wenige, haben eine vollständige literarische Bildung absolviert und einige hatten sich in einer Philosophenschule aufgehalten.

Die Schriften des frühen Christentums geben indirekt Auskunft über Ideale und Praxis von Erziehung und Bildung. Es heißt in Lk 2 von Jesus , dass er im heimatlichen Elternhaus wuchs und stark wurde, während er von Weisheit erfüllt wurde (Lk 2,40). Jesus wird mit einer für einen zwölfjährigen Junge erstaunlichen Bildung dargestellt, indem er im Gespräch mit den Lehrern im Tempel durch Fragen und Antworten Verstand zeigt (Lk 2,46f.). Er wird aber auch als gut erzogen beschrieben, wenn er mit seinen Eltern nach Hause geht und ihnen untertan ist (Lk 2,51) (Lindemann, 108). Ferner heißt es: „Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen“ (Lk 2,52). Dies konnte wohl von den Lesern als Ausdruck einer vorbildlichen Erziehung interpretiert werden. Die Bewertung „gut erzogen“ bekommen Jugendliche von der übrigen Familie, von Verwandten, Bekannten und anderen Leuten mit denen man in Berührung kommt. Es entspricht ferner jüdischer Auffassung, dass die Erziehung und die Bildung auf der Weisheit und den Geboten Gottes beruhen. Das gut erzogene Kind findet Wohlgefallen unter den Menschen und bei Gott.

3.1 Haustafeln

Mit einem entsprechenden sozialen Klangboden können auch die sogenannten Haustafeln im Neuen Testament (Kol 3,18–4,1; Eph 5,21–6,9) gelesen werden. Ihre Grundidee ist ein Zusammenleben, das interne Spannungen in Familie und Haushalt und in Gemeinden abbauen kann und das Ansehen in der Gesellschaft fördert, sofern ihre Aufforderungen allgemeinen Werten entsprechen.

Die Haustafeln zeigen eine Konventionalität, die mit ihrer literarischen Form verbunden ist. Auch die widergespiegelten Werte sind konventionell. Die Haustafeln sind in ihrer Form sehr allgemein und fordern zu gegenseitiger Unterordnung auf. Sie nennen Werte wie Unterordnung, Liebe, Sanftmut, Gehorsam, Verantwortlichkeit und Gerechtigkeit. Die Texte spiegeln eine Variante äußerer Muster für Rollenverteilungen und für soziale Beziehungen zwischen Rollen wider. Kinder werden direkt angesprochen und zu Gehorsam gegenüber den Eltern ermahnt. Dabei wird in der Haustafel im Epheserbrief auf das entsprechende Gebot im → Dekalog verwiesen: „Ehre Vater und Mutter …“ (Eph 6,2). Dies widerspiegelt wohl, dass die zehn Gebote eine Rolle in der Erziehung spielten und zum elementaren Lernen gehörten, wie auch in der jüdischen Erziehung. Die Väter werden ihrerseits angehalten, ihre Kinder in Zucht (paideia) und Ermahnung zu erziehen. Beachtenswert ist die Warnung an die Väter, dass die Erziehung die Kinder nicht zum Zorn reizen soll (Eph 6,4). Eine strenge und autoritäre Erziehung war also keineswegs die allgemeine Norm; das Ideal von der Milde eines Vaters wird wie bei Quintilian hervorgehoben. Wenn Quintilian bei Lehrern gern die Gesinnung eines guten Vaters sehen würde, dann denkt er konkret an Verstand und eine zielgerichtete Mischung von Strenge und Freundlichkeit (Quintilian, Institutio oratoria 2.2.4-6). Ferner begegnet die Vorstellung auch in rabbinischen Texten, dass die Herzen der Schüler am besten durch freundliche Behandlung und guten Unterricht gewonnen werden könnten (Safrai, 955).

3.2 Paränese und Bildung

Haustafeln finden sich innerhalb der paränetischen Abschnitte (Mahnreden) der neutestamentlichen Briefe. Diese Passagen, mit ihren Wertsetzungen, spiegeln die „Ethos-Dimension“ christlicher Bildung wider. Auch im weiteren paränetischen Kontext spielt Erziehung eine Rolle. In den → Pastoralbriefen, insbesondere in Textsegmenten, in denen es um Qualifikationen für besondere Aufgaben in den Gemeinden geht, lesen wir, dass gut erzogene Kinder für die Qualitäten des Vaters wie der Mutter bürgen (1Tim 3,4; 1Tim 3,12; 1Tim 5,10; Tit 1,6). Zu den Bedrängnissen in den letzten Tagen gehört es dagegen, dass Kinder ihren Eltern ungehorsam sein werden (2Tim 3,2).

Im Titusbrief wird die Gottesrelation der Glaubenden in Bildungskategorien verstanden, indem der Gnade Gottes eine erziehende Funktion zugeschrieben wird. In Tit 2,12 heißt es, dass „die heilsame Gnade Gottes […] uns in Zucht nimmt (paideuein), dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben“. Besonnenheit, Gerechtigkeit und Frömmigkeit sind auch in griechisch-römischen und jüdischen Bildungstraditionen zentrale Tugenden.

In ähnlicher Weise wird auch im Hebräerbrief (Hebr 12,4-13) die Mühe des Lernens und der Erziehung angesprochen. Mit Hinweis auf den Kampf gegen die → Sünde wird Spr 3,11f. zitiert, wo es heißt: „wen der Herr lieb hat, den züchtigt er“. In diesem Abschnitt erfahren wir etwas über die allgemeinen Vorstellungen von Erziehung, ihrer Notwendigkeit und konkret wie die Glaubenden von ihrer eigenen religiösen Bildung denken konnten.

Es ist von der Vater–Sohn–Beziehung die Rede, vielleicht weil der Verfasser sich primär männliche Leser im Blick hat. Erziehung / Züchtigung von Seiten der Eltern ist eine Selbstverständlichkeit. Die Sätze entsprechen der gängigen Vorstellung, dass Kinder unfertige Menschen sind, die gezielt geformt werden müssen. Solche Formung / Bildung, so scheint es, ist unvermeidlich mit Mühe verbunden (Hebr 12,11) (dies ist ein wichtiger Aspekt auch in der übertragenen Bedeutung). Mühe, Sorge und Anstrengungen werden sich allerdings lohnen; die Belohnung ist ein tugendhaftes Leben und Wohlgefallen bei Menschen wie bei Gott. Schließlich mag das Zitat aus dem → Sprüchebuch ein Indiz dafür sein, dass Christen, die mit den jüdischen Schriften vertraut waren, weisheitlichen Sprüchen in Bezug auf die konkrete Erziehung von Kindern und Jugendlichen besondere Relevanz beimaßen, und dass zudem andere Schriften, wie etwa das → Deuteronomium, Ps 119 und Jesus Sirach (vgl. Fox) als Bezugstexte für die Erziehung benutzt wurden.

Es ist außerdem von besonderem Interesse in Bezug auf Bildung, dass diese Bildungs- bzw. Erziehungssprache zur Thematisierung der Gottesbeziehung der Glaubenden angewendet wird, was wohl dahingehend interpretiert werden kann, dass die Gottesbeziehung selbst als ein Bildungsprozess aufgefasst wurde.

In unserem Zusammenhang interessieren die Bildungsaspekte der Gottesbeziehung. Die Redeweise, wie sie im Titusbrief und im Hebräerbrief begegnet, mag etwas auffallen im Vergleich mit Glaubensvorstellungen in anderen Schriften des Neuen Testaments, nicht aber in einem weiteren Bildungskontext der hellenistischen-römischen Zeit. Die religiöse Dimension der Bildung ist eher der Normalfall. Auch unter griechischen Philosophen und Rhetorikern ist Bildung ein göttliches Unternehmen. In der Schrift De liberis educandis heißt es: „Die Paideia ist das einzig Göttliche und Unsterbliche in uns“ (Plutarch, Moralia [De liberis educandis] 5E). Seneca verweist in einem anderen Zusammenhang auf die von mehreren behauptete Auffassung, die Weisheit sei „das Wissen von göttlichen und menschlichen Dingen“ (Seneca, Epistulae morales 89.5).

Dass Lernen bzw. Erziehung (paideia) mit Mühe (lype) geschehen (Hebr 12,11), schrieb bereits Aristoteles (Aristoteles, Politik VIII 1339a). Auf diese Mühe folge aber die Frucht der Bildung. Es heißt sogar, die „Züchtigung [paideia] bringt als Frucht denen, die dadurch geübt [gymnazein] sind, Frieden und Gerechtigkeit“ (vgl. Hebr 12,11).

Im Hebräerbrief lernen die Leser ferner, dass die erlebte Mühe „eurer Erziehung (paideia) dient“ (Hebr 12,7). Denn Gott geht mit den Glaubenden wie mit Kindern um, „denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt (paideuein)?“ (Hebr 12,7). Auch von Philosophen wurde Bildung mit Konzentration, Mühe und auch Leiden verbunden (Epiktet, Dissertationes I.4.18-24; Seneca, De vita beata XVIII.1). Die Frucht der Bildung ist „die friedvolle Frucht der Gerechtigkeit“ (Hebr 12,11). Gerechtigkeit ist eine primäre Tugend in der jüdischen Bildungskonzeption, aber auch in griechisch-römischen Bildungstraditionen (Platon, Leges 965D; Seneca, Epistuale morales 90.3; Quintilian, Institutio oratoria XII.2.17).

Text und Schrift spielen eine Rolle bei der Bildung. Die aus den Schriften zitierten Aussagen werden hier als „Trost“ (paraklesis) bezeichnet (Hebr 12,5), und dieses Wort / dieser „Trost“ redet mit den Lesern wie mit Kindern. Der „Trost“ weist vielleicht auf die heiligen Schriften als Ganzheit (d. h. die Schriften, die eine Art kanonischen Status erreicht hatten, die hebräische Bibel bzw. die Septuaginta) und zeigt die erziehende / bildende Funktion dieser Schriften an. Wie bei Griechen und Römern wurde auch bei den Juden die literarische Tradition, die Schriften als Kern der Bildung angesehen. Ähnliches galt auch für die ersten Christen, welche dieselben Sammlungen als sakrale Texte ansahen. So gibt es im NT viele Hinweise auf eine spezifische Schriftensammlung, z. B. Lk 24,27 und 2Tim 3,15 („die heiligen Schriften“).

Es gibt noch einige weitere Bildungsmotive im Abschnitt Hebr 12,1-17. Die dort verwendeten Motive dienen als Ermunterung, das Leiden in einem sinnvollen Zusammenhang zu verstehen. Es ist von einem für die Glaubenden vorgesehenen Lauf sowie von einem Kampf (agon) die Rede (Hebr 12,1). Für diesen Lauf gibt es ein Vorbild, auf das man die Aufmerksamkeit konzentrieren kann, um so zu lernen, wie man sich in jeder Situation verhalten soll. Jesus, das Vorbild im Aushalten von Leid, musste auch Kritik von den Außenstehenden (den Sündern) erdulden (Hebr 12,3). Nach dem Zitat von Spr 3,11f. und dem Hinweis auf allgemeine Erfahrungen der Züchtung / Erziehung, die Söhne von ihren Väter bekommen (Hebr 12,7ff.), folgt eine Ermunterung, „sichere Schritte“ (man mag ergänzen: auf dem Bildungsweg) zu machen (Hebr 12,13). Das hier angedeutete Fortschreiten entspricht dem Lauf in Hebr 12,1. Weiter folgen Ermahnungen zu einer Lebensführung in Frieden und Heiligung (Hebr 12,14ff.). Dieser Textabschnitt wird von einem positiven Beispiel (Christus, vgl. Hebr 12,1-3) und einem negativen Beispiel (→ Esau, vgl. Hebr 12,16f.) gerahmt. Dies alles kann als Bildungssprache gelten.

3.3 Identität und Bildung

Die paränetischen Abschnitte in den Briefen können auch auf die Formung von Identität bezogen werden, wobei christliche Identität gar nicht in allen Dimensionen von anderen Identitätskonzepten abwich. Die geforderten moralischen Tugenden entsprachen den Tugenden in den jüdischen und griechisch-römischen Bildungstraditionen. Die charakteristisch christliche Identität wurde vielmehr durch Kult und Riten markiert und nicht zuletzt in den philosophischen und mythologischen Dimensionen der christlichen Religion sichtbar: das mit dem monotheistischen Gottesbild verbundene Überlegenheitsbewusstsein und ein antisynkretistisches Selbstverständnis, aufgrund dessen die Verehrung anderer Götter abgelehnt wurde (Theissen, 83).

Identität und Bildung berühren denselben Tatbestand; in der Bildung geht es um Identitätsbildung. Gleichwohl finden die Begriffe in etwas verschiedenen semantischen Kontexten Verwendung.

Die Vermittlung von (christlicher) Paränese und Weltanschauung kann auch als philosophischer Unterricht angesehen werden. Solche Redeweisen, solche Verflechtung von Weltanschauung (Sätze über Gott und die Wirklichkeit) und Ethos prägen die Briefe des NT. Im Vergleich mit dem zeitgenössischen philosophischen Unterricht können die neutestamentlichen Briefe deshalb als Bildungstexte bewertet werden.

Wie in den zuvor kommentierten Texten haben wir es auch bei Paulus mit Texten zu tun, in denen allgemeine Erziehungs- und Bildungsideale durchschimmern. In den paulinischen Briefen findet sich Beratung hinsichtlich der moralischen Bildung nach einem Muster, wie es auch in philosophischer Literatur üblich ist. Außerdem zeigen die Ausführungen in Bezug auf christlichen Unterricht, wie dieser als Bildung verstanden wurde. Die Argumentation vermittelt dabei eine christuszentrierte Weltanschauung, der alle Bildungselemente zugeordnet sind. Aus dieser Perspektive kann ein Verständnis von Erziehung / Bildung wahrgenommen werden, bei welchem allgemeine griechisch-römische und jüdische Ideale integriert und deshalb als christlich kodiert bzw. interpretiert werden können, weil sie einen christologischen Bezugspunkt erhalten.

3.4 Bildung und paulinische Berufe

Die Briefe des Paulus sind als literarische Werke Zeugnisse einer fortgeschrittenen rhetorischen und philosophischen Bildung des Verfassers. Sie bezeugen auch, dass literarische Bildung eine Rolle in den christlichen Gruppen jener Zeit spielte. Nicht selten entwickelt Paulus eine Argumentation, bei der Positionen scheinbar dialektisch gegeneinander gestellt sind: die jüdische → Tradition gegen das → Evangelium, das → Gesetz gegen den → Glauben, griechische Weisheit gegen das Evangelium (Phil 3, Röm 1-3, 1Kor 1-2). Paulus verwendete offenbar seine griechisch geprägte rhetorische und philosophische Kompetenz bei der Abfassung der Briefe. Er schöpfte aber zugleich aus der jüdischen literarischen Tradition. Obwohl die → Gnade (Röm 5,16) und das ewige Leben (Röm 6,23) als Gaben Gottes verstanden werden, redet Paulus in diesem Zusammenhang auch von Lehre, Erkenntnis (1Kor 1,5) und geistlichen Fortschritt (1Kor 3,1ff.), allesamt Termini und Konzepte, die im Rahmen eines Bildungskontextes verstanden werden können. Die paränetischen Abschnitte in den Briefen reflektieren zudem die erzielte moralische Progression eines solchen Bildungsprozesses.

1Kor 1-2 kreist um den Begriff der Weisheit. Der Text bezeugt eine Art Konkurrenz um die Weisheit, und in einer Argumentationslinie scheinen griechische, jüdische und christliche Bildungskonzepte gegeneinandergestellt (1Kor 1,19-25) zu werden. Paulus argumentiert, dass sowohl die jüdische Religion als auch die griechische Weisheit nun von der christlichen Bildung übertroffen würden. Im Römerbrief ist dagegen eher von der Lehre und Erkenntnis der Juden die Rede (Röm 2,17-24). Weisheit bezeichnet dabei in 1Kor sowohl Redekunst (Rhetorik) als auch Philosophie (1Kor 2,1). Es gilt Paulus diesbezüglich anscheinend als selbstverständlich, dass Weisheit in einer formvollendeten Sprache zum Ausdruck kam.

Die dialektische Argumentation der paulinischen Briefe sollte aber nicht dahingehend verstanden werden, dass jede andere Bildung abgewertet wird (Vgl. Lindemann, 110f.). Die Zeichen der Juden und die Weisheit der Griechen beziehen sich in diesem Zusammenhang wohl nicht grundsätzlich auf Ausbildung, Erziehung oder auch Bildung an sich, sondern auf einen übergeordneten Orientierungspunkt, von welchem diese verstanden werden konnten. Anders ausgedrückt: Paulus spielt hier auf Merkmale an, welche die jeweilige Identität kennzeichnen und mit welchen man sich als gebildeter griechischer Polis-Bürger, als Philosoph einer der Schulen oder eben als glaubender und praktizierender Jude ausweisen konnte. Die Auseinandersetzung mit Texten und Moralvorstellungen im Kontext einer höheren rhetorischen Bildung oder speziell in einer Philosophenschule, förderte die bereits vorhandene allgemeine und literarische (Aus-)Bildung der Studenten und markierte zugleich eine Abgrenzung gegen andere Schulrichtungen und Bildungskonzeptionen. Verschiedene Ansprüche auf die wahre Weisheit konnten auf diese Art und Weise formuliert werden. Paulus redet von einer Erkenntnis, die er als Geheimnis bezeichnet, in dem die Weisheit Gottes verborgen sei (1Kor 2,7). Diese Weisheit Gottes wird für Paulus zu dem Orientierungspunkt, durch den andere Bildungselemente zusammengehalten und interpretiert werden.

Die Weisheit Gottes in ihrer Orientierungsfunktion entsteht dabei nicht nur durch eine Entscheidung oder Bekehrung, sondern inkludiert einen Bildungsprozess, wie er in 1Kor 2,6 angedeutet ist: Paulus „redet“ Weisheit unter den Vollkommenen“. Der Begriff „vollkommen“ (teleios) gehört in den Kontext philosophischer Bildung. Er bezieht sich auf das in der Bildung angestrebte Ziel und bezeichnet diejenigen, die den Bildungsweg eingeschlagen haben. Diese Vorstellung von einem Bildungsprozess passt auch zur weiteren Darstellung in 1Kor 3,1-3, wo Paulus sagt, dass er die Leser als unmündige Kinder anreden muss, die nur Milch und noch keine feste Speise vertragen könnten. Auch diese Argumentation gehört in den Kontext von Erziehung und Bildung. Von der paulinischen (und jüdischen) Annahme, dass die Weisheit göttlich sei, gehen auch Rhetoriker und Philosophen aus. Bildung wird in dieser Hinsicht als ein Weg / Prozess in Richtung Vollkommenheit betrachtet, wobei einige weiter fortgeschritten sind als andere.

Ähnliche Motive begegnen auch in anderen paulinischen und deuteropaulinischen Briefen. Einige Stellen seien kurz genannt: Paulus schreibt 1Kor 13,11-13 von einem in der Liebe zu verwirklichenden Bildungsziel, das allerdings in diesem Leben wohl nicht erreicht werden kann. In der Darstellung benutzt er ein typisches Bildungsmotiv: das Erwachsenwerden. Zum Kindsein gehöre das fragmentarische, zum Erwachsensein das vollkommene Erkennen. Ähnlich auch in 1Kor 14,20: „Liebe Brüder, seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht; sondern seid Kinder, wenn es um Böses geht; im Verstehen aber seid vollkommen (teleioi)“.

Im → deuteropaulinischen Kolosserbrief wird vor philosophischen Lehren gewarnt (Kol 2,8). Die paulinische Alternative im Hinblick auf die Identitätsbildung wird mit folgenden Eckpunkten umrissen: der Initiationsritus der Taufe (Kol 2,6ff.) sowie ferner die Bildungselemente Weltbild (Kol 1,15-20) und Moral / Ethos (Kol 3,5ff.). Diese Art der Bildung wird angemahnt und gelehrt, damit „ein jeder Menschen in Christus vollkommen (teleios) gemacht werden kann“ (Kol 1,28).

Vom Verlassen der Unmündigkeit, von Lehre und von Wahrhaftigkeit in der Liebe sowie einem Wachstum in allen Stücken ist in Eph 4,14-15 die Rede.

In einigen deuteropaulinischen Briefpassagen ist der literarische Charakter der christlichen Bildungselemente besonders deutlich. 2Thess 2,15 fordert die Leser auf, sich an die Lehre zu halten. Diese Lehre ist unterrichtet worden, entweder mündlich (als Rede) oder schriftlich (per Brief). In 2Tim 3,15-17 wird dem Nachfolger und Schüler des Paulus bescheinigt, dass er von Kind auf die heiligen Schriften kenne. Diese Schriften vermögen zu unterweisen oder Weisheit zu verleihen. Sie sind „nützlich zur Lehre“ und „zur Erziehung“ (paideia). In 2Tim 4,13 sind zudem Bücher (biblia) und Pergamente (membranai) als Besitz des Paulus genannt.

3.5 Didache

Die um 100 n. Chr. geschriebene Schrift Didache benutzt in den ersten sechs Kapiteln das Erziehungs- und Bildungsmotiv von den zwei Wegen und stellt die zum Weg des Lebens gehörenden Tugenden sowie die zum Weg des Todes gehörenden Laster in ermahnendem Stil dar. Zur Darstellung des Weges des Lebens gehört zunächst das doppelte Liebesgebot: „Du sollst deinen Gott und deinen Nächsten lieben“ (Did 1,2). Danach folgt eine Auslegung der Lehre (didache) des Liebesgebots, die Zitate von und Hinweise auf den Unterricht Jesu, wie er in den Evangelien wiedergegeben ist, enthält (Did 1,3-4). Im weiteren Text gibt es zudem Hinweise auf die zehn Gebote. Die Anrede „mein Kind“ (Did 3,1ff.) mit darauffolgender Aufforderung / Ermahnung stellt den Text in einen erzieherischen Zusammenhang. In einem folgenden Abschnitt werden die Leser (vermutlich als Hausherren / Familienoberhäupter vorgestellt) aufgefordert, ihre Kinder zu erziehen: „Ziehe deine Hand nicht von deinem Sohn oder von deiner Tochter zurück, sondern lehre sie von Jugend auf die Furcht Gottes.“ (Did 4,9)

3.6 Kindheitsevangelium nach Thomas

In dem gegen Ende des 2. Jh. n. Chr. zusammengestellten apokryphen → Kindheitsevangelium nach Thomas (EvInfThom) wird die Kindheit Jesu selbst ins Zentrum gerückt. Zum semantischen Kontext der Erzählung gehören die allgemeinen Erfahrungen und Vorstellungen, die mit Erziehung und Bildung verbunden waren. Wir begegnen spielenden Kindern, darunter Jesus, zwischen denen auch Reibungen entstehen, und beobachtenden Eltern, darunter → Joseph, der seinen Sohn zurechtzuweisen versucht, beispielsweise durch Zupfen des Ohrs (EvInfThom 5). Weiter hören wir vom Lehrer Zachäus, der das Kind Jesus als Schüler haben will. Er hat schon gemerkt, dass Jesus ein gescheiter Knabe ist und Verstand hat. Er möchte, dass der Vater ihm den Jungen übergibt, damit er Buchstaben lerne. Laut Zachäus könne er dem Kind „mit den Buchstaben alles Wissen beibringen“. Weiter könne er ihn lehren „alle älteren Leute zu grüßen und sie zu ehren wie Großväter und Väter und die Gleichaltrigen zu lieben.“(EvInfThom 6). Als der Unterricht dann beginnt, hat der Lehrer dem Kind „alle Buchstaben vom A bis zum O in langer Aufzählung und eindringlich gesagt“ (EvInfThom 6). Das Kind (hier: Jesus) ist etwa 5 oder 6 Jahre alt (EvInfThom 11-12). Nun wird weiter im Text allerdings erzählt, dass Jesus alles Wissen schon besitzt und auch eine tiefere, hinter den Zeichen der Buchstaben verborgene Weisheit unterrichten kann. Ein Umstand, der die vorherigen Bildungsbemühungen zu konterkarieren scheint.

Etwas später will Joseph, als er „den Verstand und sein Alter sah“, einen neuen Versuch machen, dem Kind das Lesen und Schreiben zu lehren, und übergibt ihn deshalb einem anderen Lehrer. Dieser Lehrer sagt, dass er das Kind erst im Griechischen und dann im Hebräischen unterrichten wolle. Aber auch dieser Versuch scheitert. Als der Lehrer sich wegen kritischer Fragen über das Kind ärgert, schlägt er das Kind, was wohl nicht ungewöhnlich war, auf den Kopf (EvInfThom 14). Ein drittes Mal vertraut Joseph zögernd das Kind nochmals einem Lehrer an. Als Jesus in das Lehrhaus kommt, „fand er ein Buch auf dem Lesepult liegen, nahm es, las jedoch die Buchstaben, die darin standen nicht, sondern tat seinen Mund auf, redete im heiligen Geist und lehrte die Umstehenden das Gesetz “. Die Zuhörer „verwunderten sich über die Anmut seiner Lehre und die Gewandtheit seiner Worte“ (EvInfThom 15). Auf diese Weise wird er als literarisch (Tora) und rhetorisch (Gewandtheit der Worte) gebildet gekennzeichnet. Seine Bildung war an seinem Unterrichten im Gesetz für den Lehrer erkennbar.

Im Text wird die griechische literarische Bildung als die übliche, in der umgebenden Kultur vorhandene Bildung dargestellt, die als solche auch nicht kritisiert oder ersetzt wird. Die angeborene Weisheit Jesu übertrifft allerdings diese Bildung bei Weitem. Die Leser des Textes konnten vielleicht darin einen Hinweis auf die christliche Lehre erkennen, die sich in der auf Christus orientierten Exegese der heiligen Schriften für sie konkretisiert hat. Der Text spiegelt vermutlich den Umgang der frühen Christen mit Erziehung und Bildung wider. Die allgemeinen Sitten und die allgemeine literarische Bildung sowie für einige auch die Fähigkeit, heilige Texte auf Hebräisch zu lesen, werden als selbstverständliche und allgemeine Tugenden aufgefasst. Dazu kommt eine besondere christliche Bildungskomponente, die wohl prinzipiell als maßgebend / übergeordnet angesehen wurde. Durch sie wurde die besondere Identität der Christen in Bezug auf Bildung definiert / markiert.

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