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Bibelauslegung, politische

(erstellt: Dezember 2018)

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1. Einführung

Die politische Interpretation biblischer Texte gehört zu den Kernaufgaben der exegetischen Disziplinen wie der kirchlichen Praxis. Sie ist an hermeneutische Bedingungen geknüpft, will sie nicht der Gefahr biblizistischer Kurzschlüsse oder machtpolitischer Vereinnahmungen verfallen. Der politische Missbrauch biblischer Texte gehört zu ihrer Auslegungsgeschichte; er stellt eine schwere Hypothek für Gegenwart und Zukunft politischer Bibelauslegung dar.

Die interpretierende Arbeit mit den biblischen Texten geht von der grundsätzlichen Unterschiedenheit zwischen diesen und den sie je gegenwärtig interpretierenden Diskursen aus. Biblische Texte dürfen durch keine politische Macht instrumentalisiert werden. Ihre Impulse und Optionen sind jedoch im Diskurs des Politischen zur Geltung zu bringen. Vor dieser stets gegenwärtig zu haltenden Problemlage ist die Diskussion hermeneutischer Grundsatzfragen unabdingbar.

2. Die Politik und das Politische

2.1. Der Begriff des Politischen

Der aktuelle Begriff des Politischen ist wie die begriffliche Unterscheidung zwischen dem Politischen und der Politik relativ jung (Bedorf 2010; Marchart 2010; Bedorf / Röttgers 2010; Reinmuth 2011). Besteht Politik „in der Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten eines Gemeinwesens durch allgemein verbindliche Entscheidungen,“ (Fuchs / Roller 2007, 205), so ist der Begriff des Politischen gegenwärtig „Gegenstand von Debatten mit ihrerseits tiefgreifenden politischen Implikationen.“ (Blättler 2008, 997).

Gesellschaften sind darauf angewiesen, allgemein bindende Entscheidungen wie etwa Handlungsnormen und Wertbestimmungen zu treffen, zu interpretieren und zu modifizieren sowie entsprechende Interaktionen zu regeln, zu überwachen und zu sanktionieren. Dazu dienen z.B. Rechtsprechung, Verteidigung, Verwaltung. Das setzt entsprechende Handlungsfähigkeit und damit Macht voraus. Politische Macht ist jedoch stets umstritten. Politik ist mit Blick auf Machtverhältnisse immer auch Aushandlung, Kampf, Auseinandersetzung. Das Wort bezieht sich auf die griechische antike Polis und die auf sie bezogene Demokratie vor allem Athens im 5. und 4. Jahrhundert; ta politika sind die Angelegenheiten der Polis, gedacht unter normativem Gesichtspunkt – es ging um das, was (aus Sicht der freien Männer) für die Gemeinschaft der Polis zuträglich war (Meier 1983).

Das Begriffsfeld des Politischen dient demgegenüber dazu, die Hinterfragbarkeit politischer Praxis zu thematisieren, soweit politische Entscheidungen Momente enthalten, die in der praktischen Politik nicht unmittelbar aufgehen. Solche Momente überschreiten das jeweils praktisch zu Entscheidende hinsichtlich der sich darin manifestierenden Machtkonstellationen, Werte und Orientierungen. Sie können es bisweilen unterbrechen, in Frage stellen, modifizieren oder alternieren. In den Diskursen des Politischen wird immer mehr verhandelt, als sich praktisch realisiert. Dieses „Mehr“ hat die unentbehrliche Funktion, eine Verabsolutierung oder scheinbar nicht hinterfragbare Totalisierung politischer Praxis zu verhindern.

Die Überzeugungen, die in politischen Auseinandersetzungen oder gar Entscheidungsfragen ins Feld geführt werden, geraten tendenziell schließlich an die Grenze rationaler Begründbarkeit. Dabei werden unterschiedliche gesellschaftliche Ziele, Werte und Orientierungen sichtbar, in denen sich letztlich grundsätzliche anthropologische Überzeugungen spiegeln.

Diese können politische Fragestellungen weder normativ noch argumentativ entscheiden (Jörke 2005; Jörke / Ladwig 2009); sie sind jedoch von der Frage nach dem Politischen nicht zu trennen, weil sie zu den Ressourcen gehören, die es ermöglichen, die Bedingungen des gesellschaftlichen Menschseins wie des politischen Handelns im öffentlichen Dialog zu kommunizieren. Zu diesen Ressourcen gehört die Bibel als einer der Quellentexte unserer Kultur. In diesem Umstand begründet sich der Beitrag der Bibelwissenschaften im Diskurs des Politischen. Der Begriff des Politischen ist für die Aufgaben politischer Bibelauslegung entscheidend.

2.2. Politische Kultur

Mit dem Begriff der politischen Kultur geht es um Grundwerte, Prinzipien und Überzeugungen, auf denen letztlich die Legitimität politischer Institutionen und ihres Handelns beruht. Hier setzt u.a. auch die Historische Politikforschung ein (Schorn-Schütte 2006). Sie geht davon aus, dass Politik nicht auf das „Entscheidungshandeln politischer Führungsgruppen“ zu begrenzen ist, sondern als „Kommunikation über Herrschaft zu definieren [ist]..., die über den Diskurs hinaus auch in Gestalt von Symbolen und Repräsentationen identifiziert werden kann.“ (Schorn-Schütte 2006, 86). Politisches Handeln ist immer eingebettet in bestimmte Kulturen, in denen der Umgang mit Herrschaft bzw. Macht kommuniziert und interpretiert wird. Die exegetischen Disziplinen beachten die Geschichtlichkeit politischer Kulturen, um der komplexen Kontextualität biblischer Texte im Diskurs des Politischen gerecht zu werden. In historischer Hinsicht geht es um die Rekonstruktion politischer Voraussetzungen, Faktoren oder Bedingungen, unter denen ein biblischer Text geschrieben wurde, die in ihm ihren Niederschlag fanden oder auf die er gegebenenfalls anspielt. Diese Fragerichtung, verbunden mit dem Wunsch, auf diese Weise die aktuell politische Relevanz neutestamentlicher Texte aufweisen zu können, findet sich gegenwärtig v.a. im Bereich der sog. „anti-imperialen Exegese“ (Popkes 2002; Eisen 2004; Strecker 2011). Die anti-imperiale Interpretation neutestamentlicher Schriften gehört in den Bereich der historisch-kritischen Methodik und der ihr eigenen Forschungsgeschichte; sie bedarf hinsichtlich ihrer politischen Relevanz einer eigenen hermeneutischen Reflexion.

2.3. Jenseits des Politischen

Biblische Texte lassen sich als narrative Diskurse des Politischen lesen, deren Fragestellungen, Orientierungen und Argumente jenseits politischer Begründungslogik verortet sind. Dieses „Jenseits“ kann begrifflich auch als das „Unpolitische“ (Marchart 2010, 279-282 unter Verweis auf Roberto Esposito), das „Präpolitische“ (Reckwitz 2004; Münkler 1996) oder das „Imaginäre“ des Politischen (Castoriadis 1984; Trautmann 2017; Doll / Kohns 2014; Konstanzer Forschungsstelle Kulturtheorie und Theorie des politischen Imaginären) bezeichnet werden. Der Versuch, einen außerhalb des Politischen verorteten Bereich des auf dieses bezogenen Unpolitischen o.ä. zu etablieren, hat sich jedoch aufgrund seiner unklaren Unterschiedenheit vom Begriff des Politischen kaum durchsetzen können. Wir verorten aufgrund der bisherigen Ausführungen den Beitrag politischer Bibelauslegung im Diskurs des Politischen.

2.4. Nicht-essentialistische Lektüren des Politischen

Das Politische perspektiviert das Menschsein unter dem Aspekt seiner Machtförmigkeit, der Ausübung von und Unterwerfung unter Macht; es fragt überdies, was in den Strukturen von ausgeübter oder erfahrener Macht kommuniziert wird (Reinmuth 2010). Das schließt die Thematisierung alternierender Möglichkeiten, das Überschreiten gegebener Alternativen ein. Das Politische bricht auf, wo die politische Praxis in ihren Alternativen, Kollisionen und Visionen reflektiert und überschritten wird. Für Ernesto Laclau und Chantal Mouffe steht der Begriff des Politischen im Zentrum ihrer radikal-demokratischen Politiktheorie (vgl. Stäheli 2006). Er setzt die antagonistische Verfassung jeder Gesellschaft voraus. Ein solcher Begriff des Politischen ermöglicht es, unter der Voraussetzung, dass das Soziale bereits metaphorisch konstitutiert wird, nicht-essentialistische Perspektiven auf die politische Praxis zu entwickeln (Sievi 2017). Hier ergeben sich aufschlussreiche Dialogmöglichkeiten mit biblischen Texten (Reinmuth 2011). Auch Claude Lefort ist „als wichtigster Wegbereiter des radikaldemokratischen Diskurses“ hier zu nennen (Heil / Hetzel 2006, 9). Sein grundlegendes Werk „Fortdauer des Theologisch-Politischen?“ (Lefort 1999) verweist auf eine letzte Grundlosigkeit demokratischer Gesellschaften, die in religiösen Formationen ihr Pendant habe. „Religion steht dabei nicht für eine Sphäre letzter Gründe und dogmatischer Gewissheiten, von denen sich die Politik zu emanzipieren habe (so der Tenor der Habermasschen Rationalisierungsgeschichte), sondern für eine Grundlosigkeit, ein Nichtsein, mit dem jede menschliche Praxis kommuniziert.“ (Heil / Hetzel 2006, 11).

Kritiker wie Jacques Rancière (Rancière 2002) wiesen darauf hin, dass es nicht-essentialistischen Perspektiven auf das Politische gelingen kann, neue Impulse für den politischen Diskurs jenseits der Positionen der Klassiker politischen Denkens zu entdecken und auf diese Weise zugleich gängige politiktheoretische Begründungsroutinen zu hinterfragen (Heil / Hetzel 2006). Entgegen dem allgemeinen Vorgehen, das eine Geschichte der politischen Theorie lediglich über die politisch-theoretischen Klassiker zu schreiben gewohnt ist, erinnert Andreas Hetzel an die Bedeutung der klassischen Rhetorik (Hetzel 2006; Hetzel 2011).

Essentialistische Zuschreibungen projizieren wesentliche („essentielle“) und damit dauerhafte Eigenschaften auf Menschen, Gruppen, Gegenstände, Grundannahmen oder Ideen, die ohne derartige Projektionen ihre scheinbar objektive und differenzierte Bedeutung verlieren würden. Essentialistische Lektüren fordern die Identifikation mit den dem Text eingeschriebenen „objektiven“ Wahrheiten, ohne sie als Resultate kultureller Praktiken und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse zu erkennen. Essentialistische Lektüren konstruieren kollektive Identitäten, die sich exklusiv über die Identifikation mit ihren Traditionen legitimieren, die entsprechenden Zuschreibungsprozesse jedoch invisibilisieren, um ihre scheinbar objektive Gegebenheit zu behaupten (Hobsbawm 1998).

Essentialistischen Lektüren steht die hermeneutische Entscheidung gegenüber, biblische Texte in ihrer Performativität zu begreifen, sie folglich in ihrer Ereignishaftigkeit, intertextuellen Rezeptivität, in ihrer Widersprüchlichkeit, Begrenztheit und Gebrochenheit und in der Gegenwart ihres Sprechens wahrzunehmen (s. Art. Performativität). Auf diese Weise werden gewalthaltige Lektüren unterbunden und das kritische, verändernde, emanzipative und befreiende Potential der Texte aufgedeckt (Reinmuth 2014). Die Interdiskursivität, Intertextualität und Intersubjektivität biblischer Texte erfordert nicht-essentialistische Lektüren, die nicht eigenschaftsfixiert nach Wesenszuschreibungen, sondern nach Relationen fragen, die in der Prozesshaftigkeit und Performativität biblischer Texte diskursiviert werden.

2.5. Performativität im Diskurs des Politischen

Die Performativität biblischer Texte spricht Menschen auf ihr gesellschaftliches Sein, ihr Anders-Gewordensein und ihr Anderssein-Können an. Sie werden als Befreite addressiert, als in Schuld Verstrickte, Gerichtete, Getröstete, neu Gebundene, neu Geschaffene, mit neuer Hoffnung Beschenkte. Stets geht es um die Fraglichkeit ihres Menschseins und damit zugleich um die Reflexion der Bedingungen, unter denen gesellschaftliches Zusammenleben, Handlungs- und Zukunftsfähigkeit gewährleistet sein können.

Damit ergeben sich neue Möglichkeiten für einen konstruktiven Dialog zwischen den Diskursen des Politischen und biblischer Textinterpetation, bei dem das Fraglichwerden gesellschaftlicher Bedingungen des Menschseins thematisiert werden kann, das im politischen Handeln sowohl aufbricht als auch entschieden wird.

3. Politische Theologie

Traditionell wird Politische Theologie als Ideologie einer Machtkonstellation oder Herrschaftsform, etwa einer Theokratie oder angeblich theologisch legitimierten Handlungsform, verstanden. Politische Bibelauslegung ist jedoch von einer so verstandenen Politischen Theologie zu unterscheiden. Die exegetischen Disziplinen verantworten ihre Interpretationsarbeit im Raum des Politischen unter Verzicht auf einen Machtanspruch biblischer Texte; so ergeben sich Dialogmöglichkeiten mit den Begründungen des Politischen, mit Politischer Theorie und Philosophie.

Vor diesem Hintergrund haben sich unterschiedliche Formen politischer Theologie und spezielle Formationen der Verbindung von Theologie und Politik entwickelt (z.B. Theologien der Befreiung, Neue Politische Theologie {Johann Baptist Metz}, Politisches Nachtgebet, Arbeiterpriester). Sie verbindet die Verpflichtung, sich den politischen Implikationen oder Folgerungen, Herausforderungen und Konsequenzen zu stellen, die sich für sie aus theologischer Tradition und biblischer Textinterpretation ergeben.

Sie sind von einer Politischen Theologie, wie sie wirkmächtig bis in gegenwärtige politisch-philosophische Diskurse durch Carl Schmitt entwickelt wurde, zu unterscheiden (Schmitt 1996; Liebsch 2015, 179-199). Das gilt auch für Denkformen eines politischen Messianismus, wie er z.B. von Walter Benjamin, Jacques Derrida oder Giorgio Agamben vertreten wurde. In diesem Zusammenhang ist auf anregende, wenn auch kritisch zu würdigende Versuche hinzuweisen, die mit den Namen Giorgio Agamben (Agamben 2002; Agamben 2006; Geulen 2009), Slavoj Zizek (Zizek 2003; Zizek 2005; Davis / Milbank / Zizek 2005) und Alain Badiou (Badiou 2002; Badiou 2003; Badiou 2005) verbunden sind. Diese Vertreter einer spätmodernen Schmitt-Rezeption nehmen den Dialog insbesondere mit Paulus auf (Finkelde 2007; Marchart 2010; Gignac 2006; Reinmuth 2008).

Im gegenwärtigen Diskusionsfeld Politischer Theologie (Hidalgo 2018) wird berücksichtigt, dass jeder religiöse Diskurs, also auch christliche Theologie und Glaubenspraxis (einschließlich Gottesdienst und Liturgie, Greifenstein 2018), politische Implikationen enthält, insofern mit ihnen zumindest anthropologische und gesellschaftliche Vorstellungen und Normen kommuniziert werden, die im Diskurs des Politischen relevant sind. Diese Position wurde – mittlerweile klassisch – von Jacob Taubes (Taubes 2010) stark gemacht (Brokoff / Fohrmann 2003). In dieser Perspektive bleibt es sinnvoll, nach theologischen Motiven in der politischen Moderne zu fragen (Adam 2006).

4. Hermeneutische Klärung

Politische Bibelauslegung fragt nach der Wahrnehmung politischer und sozialphilosophischer Implikationen biblischer Texte und versucht, sie als Quellentexte unserer politischen Kultur neu zu verstehen. Die Texte der Bibel zählen zu den grundlegenden Quellen europäischen Rechtsdenkens und Politikverständnisses. Ihre Relevanz ist auch gegenwärtig aufzuweisen.

Bisherige Rückfragen nach politiktheoretischen Perspektiven biblischer Texte fragten meist nach expliziten Thematisierungen des Politischen und ihrer Anschlussfähigkeit an entsprechende Systematisierungen. Aus dieser Perspektive kämen nur wenige neutestamentliche Texte wie z.B. Röm 13,1-7 oder Mk 12,13-17 parr. als einschlägig in Betracht. Aber weder das berühmte ‚Seid untertan der Obrigkeit’ noch die kaum weniger bekannte Antwort auf die Frage nach der kaiserlichen Steuer noch andere biblische Texte wurden als politische Programmtexte oder als Manifeste politischer Philosophie geschrieben. Diese und weitere biblische Texte erlebten zwar eine Wirkungsgeschichte, die mit einer zur Herrschaft gelangenden Kirche verbunden war und ihnen entsprechende Begründungsleistungen abverlangte – sie selbst aber kann man als unpolitische Texte bezeichnen, insofern sie nicht beanspruchen, an der praktischen Politik ihrer Zeit zu partizipieren. Keiner der biblischen Texte ist ein politisch-theoretischer Grundlagentext, keiner bietet auch nur eine einzige Definition politischer Begriffe oder eine auf sie bezogene Systematik. Während klassische politische Philosophien oder Theorien das Politische und seine Gegenstände zunächst so universal wie möglich zu bestimmen suchen, bieten biblische Texte keine Definitionen oder Reflexionen der Grundlagen politischen Handelns. In ihnen geht es um Veränderungen im Bereich dessen, was ist, und um die Reflexion ihrer Konsequenzen. Politische Philosophien müssen die Wirklichkeit des Politischen zunächst erfinden und sind gezwungen, jene Wirklichkeiten auszuschließen, die diesen Konstruktionen nicht integrierbar sind. Die biblischen Schriften machen praktischen Gebrauch von den Sprachen ihrer Zeit und erzählen von Veränderungen, deren Konsequenzen bis ins Politische reichen.

Politische Bibelauslegung sollte folglich nicht behaupten, dass man mit der Bibel „Politik machen“ kann – jedenfalls nicht aufgrund einer essentialistischen Verstehenspraxis, die sie auf einen Normen setzenden Katalog moralischer Vorschriften reduziert und diese Vorschriften in einer angeblich zeitlos gültigen Anthropologie und Ethik legitimiert sieht. Eine solche Verstehenspraxis interpretiert den Inhalt alt- oder neutestamentlicher Moralnormen gleichsam positivistisch, als handle es sich um Befunde, die an den Texten aufweisbar und als solche in unsere Gegenwart zu übertragen seien. Diese Praxis hat ihrerseits eine politische Seite; sie ist von der Befürchtung geleitet, dass von der Geltung solcher Normen das moralische Gerüst einer Gesellschaft abhänge. Die Ethik einer Gesellschaft entwickelt sich jedoch selbstständig in der Spannung zwischen stets neuen Herausforderungen und der konstruktiven Auseinandersetzung mit ihren eigenen Traditionen (Reinmuth 2017).

Diese Verstehenspraxis ist mitverantwortlich dafür, wie ‚christlich’ genannte Positionen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Ein ‚christliches Menschenbild’ scheint ein bestimmtes Frauenbild, einen bestimmten Stellenwert von Sexualität, die Verurteilung von Homosexualität und ebenso die Hinnahme wirtschaftlicher Unrechtsstrukturen, gesellschaftlicher Ungleichheit und globaler Ausplünderung zu implizieren, weil dies so biblisch begründet sei. Diese Voraussetzung schließt absurde Lektüreweisen ein, die auf machtpolitische Motive schließen lassen. Solche Lektüren deuten auf die Befürchtung hin, man habe, verorte man die antiken Maßstäbe ethischer Bewertungen in neutestamentlichen Schriften lediglich in der Antike, der Gesellschaft keinerlei Inhalte, keinerlei Normen und Werte mehr anzubieten.

Deshalb ist die Frage nach einem angemessenen, politiktheoretisch reflektierten Schriftverständnis, einschließlich der Frage nach der Autorität der biblischen Texte, von hoher Aktualität. Das öffentliche Handeln der Kirchen ist auf diese theologische Grundlagen- und Interpretationsarbeit angewiesen, wenn denn ihre Stimmen als eigene, unverwechselbare und unüberhörbare vernommen werden sollen. Es gehört unter anderem zum Erbe Eric Petersons, dass aufgrund der Nichtidentität von Politik und Kirche, ihrer sinnvollen und zu wahrenden Geschiedenheit, Kirche und Theologie sich im Bereich des Politischen einzubringen haben (Panattoni 2006). Kirchen sind keine politischen Parteien und dürfen es um des Politischen wie um der eigenen Identität willen nicht sein – aber sie haben die Verpflichtung, sich in diesem Diskurs aufgrund ihrer Unterschiedenheit zu artikulieren.

5. Der Grund des Politischen im Neuen Testament

Im Neuen Testament geht es um die Geschichte Jesu Christi, ihre Bedeutung und ihre Folgen – auch in politischer wie ethischer Hinsicht. Die Geschichte des Christus Jesus wurde als ein so gravierender Einschnitt empfunden, als so tief greifende Umwälzung, als so unerwartetes wie unfassbares innovatives Handeln Gottes, dass auch die ethischen und politischen Folgen gravierend und einschneidend sein mussten.

Ein einfaches Modell wäre also, den Weg von diesem scheinbar absoluten Anfang zu den konkreten Konsequenzen nachzuzeichnen und daraus entsprechend den unterschiedlichen Schriften dialogische Positionen zu konstruieren und nach ihren politischen Impulsen zu fragen. Aber diesen absoluten Anfang gibt es nicht. Jesus, seine Praxis und seine Geschichte, werden zwar als Anfang erinnert. In diesen Anfang werden jedoch auch diejenigen Bedürfnisse projiziert, die später als maßgeblicher „Uranfang“ erinnert werden und als bleibender Maßstab künftig gelten sollen. Damit ist hinsichtlich der Grundlegung einer politischen Auslegung des Neuen Testaments eine kritische Anfrage an den Stellenwert und die Rolle der historischen Jesusforschung verbunden. Ein historischer Jesus kann nur Projektionsfläche jeweiliger Gegenwartskonstruktionen sein (→ Historik). Als absoluter, unabhängiger Einsatzpunkt politischer Ethik taugt er nicht. Es kann folglich nicht darum gehen, einen „historischen“ Jesus seinen Interpretationen in den Texten als gleichsam objektive Größe vorzuschalten, sondern regelmäßig darum, die Kenntnisse, Vorstellungen und Projektionen, die in den einzelnen Schriften von ihm auszumachen sind, aufzuweisen. Die theologische Arbeit der Autoren bestand darin, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Wer sich zu den christlichen Gemeinden hielt, die im ersten Jahrhundert im Osten des römischen Reiches entstanden, gehörte deshalb keiner politischen Bewegung an. Was frühe Christusanhänger verband, war ein Bekenntnis – das Bekenntnis zu Jesus, dem gekreuzigten Mann aus Palästina, als dem Christus, dem lebenden Repräsentanten Gottes.

Das frühe Christentum des ersten Jahrhunderts war keine politische Formation, sondern eine missionierende Bekenntnisbewegung. Dass eine religiöse Gemeinschaft sich durch ihr Bekenntnis bemerkbar machte, war neu. Das frühe Christentum hatte in seinen verschiedenen Formen und Ausprägungen gleichsam keine andere Begründung als sein Bekenntnis. Es war weder über die Rationalität einer Philosophie oder anderen Wissenschaft gedeckt, noch über das Ansehen einer der alten Religionen, noch über politische Interessen oder rechtliche Rahmenbedingungen geschützt. Dieser Situation entsprach sein Selbstverständnis, wie wir es den Schriften des Neuen Testaments und anderen frühchristlichen Schriften entnehmen können. Für diese Gemeinschaft gab es keinen politischen Grund, keine immanente Begründung, keine rationale Herleitung, keinen ‚weltlichen’ Bestandsschutz.

Für die Identitätsdiskurse des frühen Christentums war ihre exklusive Begründung im Sprechen Gottes nur konsequent, und sie war prägend für ihre Kommunikation der Geschichte Jesu Christi. So unterschiedlich ihre Kenntnisse und Auffassungen von diesem Jesus als Christus Gottes auch waren – eins war ihnen gewiss: Sein Auftreten war wie seine gesamte Praxis durch nichts anderes legitimiert als durch seine Berufung auf Gott. Keine menschliche Institution setzte ihn ins Recht – im Gegenteil: Er wurde ins Unrecht gesetzt und getötet. Für die Glaubenden war klar: Er war im Recht. Für alle anderen galt: Er war im Unrecht. Nach weltlichem Maßstab war nicht entscheidbar, welche Annahme zutreffend war. Diese Alternative lässt sich nicht argumentativ entscheiden. Das frühe Christentum hat das gewusst und seinen Texten eingeschrieben. Denn das Bekenntnis zu diesem Jesus als Christus Gottes kennt keinen Beweis, der es seiner Bestreitung entziehen könnte.

Auch die Rede von der Erweckung des Gekreuzigten aus dem Tod will ein solcher Beweis nicht sein. Sie ist zugleich der springende Referenzpunkt für alle Schriften des Neuen Testaments (Alkier 2009). Sie ist das entscheidende Vorzeichen, vor dem die Praxis Jesu wie die Praxis der Christen verständlich, sinnvoll und schlüssig werden. Das andere Vorzeichen jedoch, das große Nein, das sein Tod symbolisiert, wurde immer mitgedacht. Der Grund dafür lag im Wesen der Rede von der Erweckung des Gekreuzigten, im Wesen des Bekenntnisses.

Deshalb wird im Neuen Testament nicht nur in aller Deutlichkeit vorgeführt, dass es auch ganz andere Deutungen des Auftretens Jesu gab, und dass es die Bestreitung seines Anspruchs war, die ihn letztlich zu Tode brachte. Ebenso deutlich wird, dass es ‚Kirche’ keineswegs geben müsste, wenn sie nicht ausschließlich Folge seiner Geschichte und damit des in ihr handelnden, berufenden und befreienden Gottes wäre.

Nicht minder deutlich spricht das Neue Testament davon, dass mit dieser Geschichte, in die die Glaubenden involviert sind, alles auf dem Spiel steht. Sie könnte auch umsonst und vergeblich geschehen sein (Reinmuth 1991) – eine in der Perspektive des Bekenntnisses letztlich unmögliche Möglichkeit, aber eben doch immerhin denkbar, weil nach allen Maßstäben, die jenseits des Glaubens Geltung beanspruchen, das Recht dieses Bekenntnisses unentscheidbar bleiben muss.

6. Das Bekenntnis zum Auferstandenen

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Texte des Neuen Testaments nicht nach Art neutraler Feststellungen zu interpretieren sind. Sie sind Parteinahmen vor dem Hintergrund ihrer Bestreitung. Sie stemmen sich gegen Durchstreichung, Neutralisierung und Verallgemeinerung. Wollen wir politische Dimensionen in ihnen aufspüren, gar aktuell politisch-ethische Impulse, so kann das nur gelingen, wenn wir nach dem ‚Wie’ ihrer Parteinahmen fragen.

Die Rede von der Auferweckung Jesu, das Bekenntnis zu seiner Auferstehung, wird dann folgerichtig zum Grund und zum Prüfstein einer politischen Bibelauslegung. Die Auferstehung Christi zieht nach frühchristlichem Verständnis das anscheinend Entscheidbare und scheinbar Entschiedene in Zweifel. Sie bezieht eine Position jenseits der angeblich zur Verfügung stehenden, im Konsens gesehenen Alternativen. Sie ist überhaupt erst der Irritationspunkt, der Unentscheidbarkeit radikal denken lässt.

Das frühe Christentum hatte keine politischen Ziele. Sein Bekenntnis zum auferweckten Gekreuzigten führte es jedoch unweigerlich in einen auch politischen Konflikt. Denn dieses Bekenntnis enthielt entgegen den zeitgenössischen Ideologien den Anspruch, eine Macht über den Mächten zu wissen, eine Macht, vor der der politisch propagierte Gleichklang und das behauptete Zusammenspiel göttlicher und menschlicher Macht letztlich wirkungslos waren. Derartige politische Beanspruchungen göttlicher Macht hatten ausgespielt, wenn sie auch noch so viel Macht beanspruchten, und wenn auch diejenigen noch so unbarmherzig verfolgt wurden, die die Brüchigkeit dieses Zusammenspiels erkannt hatten.

Diese Brüchigkeit wurde nicht als Veränderlichkeit interpretiert, wie das in moderner Perspektive naheliegen würde. Sie wurde vielmehr als vergänglich und zerstörbar verstanden. Waren es übermenschliche Kräfte, die letztlich alle menschliche Macht legitimierten, so war es nun die sich unaufhaltsam durchsetzende Geschichte Gottes, die zur Krise aller menschlichen Macht wurde und mit der Geschichte Jesu Christi zu ihrem Ziel kommen würde. Seine Auferweckung bedeutet oder signalisiert schon das Ende aller menschlichen Macht und Gewalt, „wenn er die Herrschaft Gottes [die er bislang für Gott versah] Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat.“ (1Kor 15,24).

Der Konflikt, dem die Glaubenden damit ausgesetzt waren, wird vor diesem Hintergrund gut sichtbar. Sie bekannten sich zu einem Menschen, der aus der Gesellschaft mit einem Foltertod exterminiert worden war. Sie hatten dieselbe Entehrung, Schande, Demütigung zu gewärtigen, wie dieser sie erfahren hatte. Sie bekannten sich zu einem Gekreuzigten, der in der Machtfülle Gottes allen Mächten überlegen war, über allen Mächten thronen und sie gar richten würde.

Die Auferstehung Jesu ist folglich das Politikum, das allen weiteren Folgerungen im Diskurs des Politischen zugrunde liegt. Sie allein ist zugleich der Grund für das universalisierende Selbstverständnis des frühen Christentums. Denn die Auferstehung Jesu wurde nicht als historisches Ereignis unter anderen verstanden, sondern als ein Ereignis, das untrennbar mit dem endgültigen Handeln Gottes verbunden war. Was geschehen war, hatte in einem nicht abzuschätzenden Sinn weitreichende, unmittelbar alle Menschen betreffende Bedeutung. Es ging nicht um eine dauerhafte Trennung zwischen Christen und Nichtchristen, Kirche und Welt, sondern um eine nicht absehbare, alle Welt betreffende Dynamik. Alle, die das Bekenntnis zum Auferstandenen teilten, wussten sich eins mit dem universalen Anspruch des Gottes, der ihn dem Tod entrissen hatte.

Soweit also die Interpretationen und Reflexionen des frühen Christentums Konsequenzen für politische Wertungen und Orientierungen hatten, sind diese nicht auf einen kirchlichen Binnenraum zurückzuschneiden. Sie waren gedacht als alle Menschen betreffend. Hier gründete für die Glaubenden die Zukunft Gottes mit der Welt, die auch Konsequenzen für ihr Verständnis des Politischen hatte.

7. Der Diskurs des Politischen im Neuen Testament

Sucht man nach politischen Themen in neutestamentlichen Schriften, findet man lediglich Stichworte, die nicht als Begriffe einer politiktheoretischen Systematik verwendbar sind, sondern zumeist als narrative Abbreviaturen verstanden werden sollen. Sie stehen als abkürzende Abstrakta für die politischen Wirklichkeiten frühchristlicher Kommunikationsgemeinschaften; ihre Bedeutung kann narrativ expliziert werden (Reinmuth 2005). Das bedeutet, dass sie nicht in allgemeine Wertekataloge auflösbar sind, sondern stets auf die Fraglichkeit, die Konkretheit und die Kontingenz ihrer original narrativen Verfassung anzusprechen sind und ansprechbar bleiben müssen (Dreyer 2015; Joas 2012; Joisten 2007).

Kein abstrakter Wert kann das Unverwechselbare der Impulse ersetzen, die sich der Interpretation neutestamentlicher Texte verdanken können. Abstrakte Werte unterliegen stets wechselnden Zuschreibungen. Unverwechselbar sind einzig die Geschichten, die einzige Geschichte gar, um die sich neutestamentlich und biblisch alles dreht. Sie erschöpft sich nicht in ihren Abstraktionen und Begriffsbildungen; sie geht nicht in ihnen auf.

Das bedeutet für die politische Interpretation neutestamentlicher Texte, dass sie (1.) die Impulse dieser Texte nicht in verallgemeinernder Abstraktion, sondern in der Konkretheit des Narrativen dem gesellschaftlichen Diskurs des Politischen zuführen, (2.) die Strittigkeit und Bestrittenheit ihrer Optionen offenlegen und (3.) die körperliche Dimension dieser Optionen aufweisen soll.

Hier haben die exegetischen Fächer Wesentliches im gesellschaftlichen Wertediskurs einzubringen. Von Liebe oder gar einer „Politik der Liebe“ als einer gesellschaftlichen und politischen Forderung zu sprechen (Hardt 2012; Manemann 2013; Nussbaum 2014), ist in dieser Perspektive nur sinnvoll, wenn der biblische Liebesdiskurs in seiner narrativen Gestalt einschließlich seiner gerade durch seine Narrativität gewährleisteten Konkretheit, Fragilität und Widersprüchlichkeit im Blick bleibt. Nicht-essentialistische Lektüren sind auch da sinnvoll, wo es um das vielfältig verwendete Motiv des Exodus (Mouffe 2005; Virno 2010; Hardt / Negri 2002; Loick 2014), um den Begriff der Solidarität, der Zeugenschaft, des Martyriums, der Konstitution des politischen Subjekts geht – um Begriffe also, mit denen aktuelle gesellschaftliche und politische Wirklichkeit in ihrer Fraglichkeit thematisiert wird. Es stärkt die Dialogfähigkeit der neutestamentlichen Wissenschaft, wenn sie frühchristliche Konfliktlinien in ihrer ursprünglichen Konfliktivität so thematisiert, dass ihre aktuellen politischen Implikationen und Lösungsansätze diskutabel werden. Das gilt z.B. für Fragen von Gewalt und Gewaltlosigkeit, politischer Macht und performativer Entmachtung (Mt, Apg), Frieden trotz Unfrieden (Eph), Solidarität (Hebr). Gesellschaftlich wie politisch aktuelle Themen wie Exklusion / Inklusion, die Theatralität des Politischen, seine Ikonographie, seine Visualisierungs- und Invisibilisierungsstrategien, Opferrhetorik, Geschichts- und Erinnerungspolitik, Gesellschaft und Gemeinschaft, Sterblichkeit, Zivilreligion, Gerechtigkeit, Verschuldung / Entschuldung, Körperlichkeit, Begehren, Anerkennung, Gabe / Tausch, Geschlechterpolitik, Gnade, politische wie gesellschaftliche Teilhabe, Vergebung und Aussöhnung, Vertrauen, Widerstand, Sklaverei und vergleichbare Ausbeutungsverhältnisse, Reinheit / Unreinheit, geraten auf diese Weise ebenfalls in den Blick. Die anthropologischen Perspektiven der biblischen Texte führen nicht aus der Körperlichkeit heraus, sondern in sie hinein. Auch dies hat angesichts wachsender Attraktivität transhumanistischer Erlösungsversprechen (Bolinski / Rieger 2018) und andererseits ungelöster Probleme im Umgang mit Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Sterben eine aktuell-politische Relevanz. Die körperliche Dimension des Sozialen erfährt neue Aufmerksamkeit (vgl. Stadelbacher 2016). In der Kommunikation von Werten wie Menschenwürde, in der Auseinandersetzung um ‚Menschenbilder’ geht es nicht um das Aushandeln abstrakter Verschiebemassen. Tatsächlich geht es stets um die konkrete Frage, wie Menschsein in Gemeinschaft gelingen kann. Von abstrakten Werten her lässt sich hier kein Fortschritt erzielen. Erst da, wo Menschen sich über die Vorstellungen, Voraussetzungen und Hintergründe austauschen, die sie mit ihren Begriffen und Argumenten verbinden, wo sie ihr Leben konkret einbringen, sich ihre Erfahrungen und Visionen nicht vorenthalten, können neue und humanisierende Perspektiven entwickelt werden.

8. Fazit

Die Bibelwissenschaften stehen vor der aktuellen Aufgabe, ihre kulturwissenschaftliche Dialogfähigkeit unter Beweis zu stellen und zu steigern. Diese Aufgabe bezieht sich mit Blick auf politische Perspektiven ihrer Interpretationsarbeit in erster Linie auf ihre Fähigkeit zur stetigen Selbstaufklärung sowie zur kritischen Würdigung biblischer Interpretationen, sei es im institutionellen Bereich der eigenen Disziplinen wie außerhalb.

Die politische Interpretation biblischer Texte hat das Ziel, die Interpretation dieser Texte in den Diskurs des Politischen einzubringen und zur Diskussion zu stellen. Das geschieht unter der Voraussetzung, dass jeder exegetischen Interpretationsarbeit eine politische Dimension innewohnt, unabhängig davon, wie politisch oder unpolitisch sie sich selbst versteht. Es ist ein Missverständnis anzunehmen, das Interpretieren biblischer Texte sei an sich unpolitisch und per definitionem neutral, weil jegliches Interpretieren frei von Macht sei. Das Gegenteil ist der Fall (Liebsch 2014). Jeder Interpretationsakt etabliert und beansprucht Deutungsmacht. Die Deutungsmacht der Interpretation biblischer Texte ist nicht nur binnentheologisch, sondern auch gesellschaftlich zu verantworten. Die Frage des Politischen richtet sich folglich auch an die Interpretationsarbeit, an die Praxis der Auslegung.

Gefragt ist damit nach einer auch politiktheoretisch reflektierten Ethik der Interpretation. Die Frage nach der Ethik der Interpretation bricht nicht erst auf, wenn die politische Gegenwartsbedeutung von Texten thematisch wird. Gesellschaftlich engagierte neutestamentliche Theologie steht im Dialog mit einer reflektierten Ethik der Interpretation. Sie reflektiert ihre Interpretationsarbeit vor wirkungsgeschichtlichen sowie gegenwärtigen Horizonten, setzt sich selbstkritisch mit ihrer Forschungsgeschichte auseinander, entwickelt einen zukunftsfähigen Begriff des Politischen, dekliniert anthropologische Grundentscheidungen und ihren Zusammenhang mit den politischen Implikationen der biblischen Gottesrede (Patte 1995; Alkier 2003; Reinmuth 2006; Alkier 2011).

Eine in diesem Sinn reflektierte Ethik der Interpretation verhindert, diese Texte als alternativlos vorbildliche Orientierungsmuster oder nicht hinterfragbare Grundlagenprogramme zu diskutieren. Essentialistische oder biblizistische Lektüren, die auf eine unmittelbare politische oder politisch-theoretische Anwendbarkeit biblischer Texte zielen, sind abzulehnen. Es geht vielmehr um einen Dialog mit diesen ursprünglich fremden Sinnressourcen, Problemlagen und Fragestellungen, aus dem sich neue Perspektiven, Anregungen und Orientierungen entwickeln können (Reinmuth 2010).

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis

1. Verwendete Literatur

  • Adam, A., 2006, Politische Theologie. Eine kleine Geschichte, Zürich
  • Agamben, G., 2002, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.
  • Agamben, G., 2006, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, es 2453, Frankfurt a.M.
  • Alkier, St., 2003, Ethik der Interpretation, in: Markus Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg, 21-41
  • Alkier, St., 2009, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments, NET 12, Tübingen/Basel 2009
  • Alkier, St., 2011, Bibel und Interesse. Ein Epilog, in: Reinmuth, E. (Hg.), Neues Testament und politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart, 215-228
  • Badiou, A., 2002, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München
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Abbildungen

Unser besonderer Dank gilt allen Personen und Institutionen, die für WiBiLex Abbildungen zur Verfügung gestellt bzw. deren Verwendung in WiBiLex gestattet haben, insbesondere der Stiftung BIBEL+ORIENT (Freiburg/Schweiz) und ihrem Präsidenten Othmar Keel.

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