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Bibelauslegung, jüdische

(erstellt: Januar 2012)

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1. Einleitung

1.1. Zur Relevanz der Bibel im Judentum

Im Versuch, den Stellenwert der Bibel in den verschiedenen Epochen und Strömungen des Judentums zu erfassen, bekommt man es zunächst mit einer terminologischen Unschärfe zu tun. Wer sich durch Texte der jüdischen Tradition liest, kommt an der überwältigenden Präsenz des Wortes → Tora („Weisung“) nicht vorbei. Auf den ersten Blick könnte es daher den Anschein haben, als sei die Bibel und die Auseinandersetzung mit ihr omnipräsent. Der Begriff Tora weist jedoch verschiedene Bedeutungsebenen auf, wodurch sich die Allgegenwart der Heiligen Schrift auch schon wieder relativiert: Er bezeichnet

(1) im engeren Sinne der „Schriftlichen Tora“: die → Fünf Bücher Mose,

(2) im weiteren Sinne der „Schriftlichen Tora“: die Bibel insgesamt,

(3) im engeren Sinne der „Mündlichen Tora“: die rabbinischen Schriften (→ Mischna, → Talmud, → Midrasch) und

(4) im weiteren Sinne der „Mündlichen Tora“ alles, was in Auslegung der Schriftlichen Tora gesagt wurde, gesagt ist oder gesagt werden wird.

Wenn also in der nach-rabbinischen Tradition vom „Studium der Tora“ die Rede ist, wäre jeweils zu fragen, in welchem Sinne der Begriff verwendet worden ist. Tatsächlich tritt nach Abschluss der Redaktion des Talmud (6. Jh.) die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem biblischen Text zunehmend hinter eine Begegnung mit der Bibel quasi durch die Linse rabbinischer Schriften zurück. Die Beschäftigung mit dem Talmud, genannt „Talmud Tora“, dominiert für die Zeit bis zur jüdischen Aufklärung (Haskala) bei weitem die intellektuelle Agenda. Zwar zeigt sich die gesamte nachbiblische Literatur des (religiösen) Judentums gewissermaßen von der Bibel durchtränkt, man begegnet ihr aber zumeist in der Form aktualisierter Interpretation – sei es in Erbauungsbüchern, kabbalistischen Traktaten, Kommentarwerken oder eben im Talmud.

In weiten Kreisen der „Orthodoxie“ (Haredi) spielt die Bibel noch heute für die gehobene jüdische Bildung eine untergeordnete Rolle. Eine gewisse Ausnahme von dieser Regel bilden die → Karäer und die exegetische Literatur des Mittelalters (vgl. §4).

Weit häufiger begegnet man biblischen Texten (ohne schmückendes oder kommentierendes Beiwerk) in der → Liturgie. In den verschiedenen Formularen des Alltags- oder Festgebetes werden keineswegs nur Psalmen zitiert. Das liturgische Jahr wird vielmehr von einer kursorischen Lesung (von weiten Teilen) der Tora (Fünf Bücher Mose) begleitet, der wiederum jeweils ein passender prophetischer Text (Haftara) an die Seite gestellt wird. Zusätzlich finden sich in den Formularen zahlreicher Gebete innerhalb und außerhalb der Synagoge viele biblische Texte integriert.

Auch wenn die Bibel „in Reinkultur“ erst seit der Haskala und insbesondere im Liberalen (Progressiven) Judentum ab dem 19. Jh. wieder zum selbständigen Studienobjekt erhoben wurde, bedeutet dies keineswegs, dass jüdische Männer, Frauen und Kinder der Generationen davor deren (hebräische) Texte nicht gekannt hätten. Die Funktion der Heiligen Schrift als Schulbuch im Elementarunterricht sowie deren Dominanz im Gebet sorgten für deren hohe Präsenz im alltäglichen Leben. Übersetzungen und Paraphrasen in die jeweiligen jüdischen Regionalsprachen (z.B. jiddisch oder judäospanisch) verhalfen auch denjenigen zu Kenntnissen der biblischen Traditionen, die der hebräischen Sprache nicht mächtig waren.

1.2. Zum Aufbau der Hebräischen Bibel

Bibel; → Kanon

Die Anordnung der einzelnen Bücher innerhalb der Hebräischen Bibel und dem christlichen Alten Testament spiegelt die hohen Differenzen ihrer jeweiligen theologischen Deutung. Die jüdische Bibel zeigt sich in drei Teile gegliedert:

(1) Tora (תורה / Fünf Bücher Mose),

(2) Nevi’im (נבאים / Propheten) und

(3) Ketuvim (כתובים / Schriften).

Aus den Anfangsbuchstaben ihrer Hauptteile (T-N-K) ergibt sich das Akronym Tena”kh [auch: Tenach] als Bezeichnung für die Bibel insgesamt. Den deutlich erkennbaren stilistischen und inhaltlichen Unterschieden folgend, wird der zweite Hauptteil (Nevi’im) nochmals untergliedert: Die fast ausschließlich in Prosa verfassten geschichtlichen Bücher werden Nevi’im Rischonim („Vordere Propheten“) genannt, wohingegen die „klassischen“ prophetischen Bücher als Nevi’im Acharonim („Hintere Propheten“) bezeichnet werden.

Nach Überzeugung der jüdischen Tradition ist die Bibel prophetisch inspiriert. Nur ein Prophet, der mit dem Geist des Ewigen ausgestattet war, konnte Autor eines biblischen Buches sein. Dem entsprechend bietet der Talmud die folgende Zuordnung für die Verfasser biblischer Bücher an:

Mose schrieb sein Buch und den Abschnitt Bileam [Num 22-24] und Hiob. Josua schrieb sein Buch und acht Verse, die in der Tora sind [in denen von Moses Tod die Rede ist]. Samuel schrieb sein Buch und [das Buch der] Richter und Rut. David schrieb das Buch der Psalmen, mit der Hilfe von zehn ‚Alten’; mit der Hilfe vom ersten Adam, mittels Melchizedek, mittels Abraham, mittels Mose, mittels Jedutun und durch Asaf und mittels der drei Söhne Korachs. Jeremia schrieb sein Buch und das Buch Könige sowie die Klagelieder. Hiskia und seine Gehilfen schrieben Jesaja, Sprüche, das Hohelied und Kohelet. Die Männer der Großen Versammlung schrieben Ezechiel und das Zwölf-Propheten-Buch, Daniel und die Ester-Rolle. Esra schrieb sein Buch und die Chronik bis auf seine Zeit.“ (bBB 14b/15a)

Der alle anderen überragende Prophet jedoch ist → Mose, der als Einziger mit Gott „von Angesicht zu Angesicht“ sprach (Dtn 34,10). Daraus ergibt sich, dass keines der biblischen Bücher dem Pentateuch (das sind die Fünf Bücher Mose) an Bedeutung gleichkommt. Dementsprechend ist seine Stellung am Anfang der Bibel kein Zufall, da er den Maßstab für alles Folgende bildet. Was auch immer die Propheten nach Mose verkündet haben: All dies kann sich nur als Aktualisierung auf das bereits in der Tora Offenbarte beziehen (Dtn 18,18). Deshalb enden die Prophetenbücher auch mit einem programmatischen Hinweis auf den einzigartigen Mose:

Denkt an das Gesetz meines Knechtes Mose; am Horeb habe ich ihm Satzung und Recht übergeben, die für ganz Israel gelten.“ (Mal 3,22)

Der dritte Hauptteil der Bibel (Ketuvim) dient schließlich dazu, die menschliche Antwort auf die Offenbarung Gottes an Israel und deren Aktualisierung durch die Propheten nach Mose zu formulieren. Dies geschieht in besonders eindringlicher Weise in den Psalmen (Tehillim).

Die Anordnung der Bücher innerhalb der einzelnen Teile des Tana"kh (Tora, Neví’im, Ketuvim) folgt im Wesentlichen einem chronologischen Prinzip: Die mutmaßlich älteste Schrift geht den jüngeren voran.

2. Zur Vorgeschichte der jüdischen Exegese

2.1. Innerhalb der Bibel

Die Geschichte der Bibelauslegung setzt im Grunde bereits in der Bibel selbst ein. Immer wieder begegnet man dort Texten, die auf andere Teile der Heiligen Schrift rekurrieren, diese kommentieren, interpretieren oder sich widersprechende Aussagen miteinander harmonisieren. Dies betrifft sowohl narrative (→ Aggada), als auch halachische (lebenspraktische, rituelle und rechtliche) Passagen. So bietet Hos 12 zum Beispiel eine höchst eigenwillige Interpretation der Jakobsgeschichte. An manchen Halachot, wie zum Beispiel denjenigen bezüglich des Sklavenrechts (Ex 21,2-11; Dtn 15,12-18 Lev 25,39-44) oder denen zum Pessachfest (Ex 12-13 mit Dtn 16,2-7), kann man verfolgen, wie jüngere Rechtssammlungen auf ältere zurückgreifen, diese kommentieren, korrigieren oder Widersprüche aufzulösen versuchen.

Häufig (vgl. Ez 20, Ps 106) werden aktuelle Ereignisse vor dem Hintergrund der Frühzeit Israels einer ethischen oder politischen Beurteilung unterzogen. Insbesondere der → Exodus und die → Wüstenwanderung werden zu Referenzereignissen aufgebaut – eine Grundannahme, welche die jüdische Geistesgeschichte nachhaltig prägen wird.

Diese innerbiblische Interpretationsgeschichte wird natürlich dann am deutlichsten greifbar, wenn sich ganze biblische Bücher auf dieselben Themenkomplexe beziehen. Dies ist insbesondere bei → Exodus bis → Leviticus bzw. → Deuteronomium sowie bei den Samuel- / Königsbüchern und der → Chronik der Fall (vgl. 1Kön 8 mit 2Chr 7). So erfährt König → David in → Samuelbüchern sowie den → Königsbüchern eine ziemlich ambivalente Darstellung, wohingegen er in der Chronik eine völlig makellose Figur abgibt. Einen frühen expliziten Hinweis auf den Prozess von Auslegung und Deutung biblischer Texte enthält da Neh 8,8, da es heißt:

Man las aus dem Buch, dem Gesetz Gottes, in Abschnitten vor und gab dazu Erklärungen, so dass die Leute das Vorgelesene verstehen konnten.

2.2. Deuterokanonische Literatur zur Zeit des Zweiten Tempels

Die gängige Bezeichnung „Literatur des Zweiten Tempels“ weist einige irreführende definitorische Unschärfen auf, die ihren Gebrauch verkomplizieren.

Der zeitlichen Rahmensetzung („Zweiter Tempel“) zufolge, müsste es sich um jüdische Werke einer Epoche handeln, die etwa von 540 v.u.Z. bis 70 u.Z. anzusetzen wäre. In jener Zeit sind jedoch auch die jüngeren Teile der Bibel entstanden (z.B. → Daniel), sodass einige der nachbiblischen („deuterokanonischen“) Schriften (wie → Sirach oder Teile des 1. Henoch [→ Henochliteratur]) älter sein dürften als einige biblische. Andererseits wird Autorenliteratur, wie zum Beispiel die Werke von → Philo, → Josephus, Artapanus oder → Eupolemos in der Regel nicht als deuterokanonisch aufgefasst (auch wenn sie einen deutlichen Bezug zur Bibel aufweisen), sind aber dennoch „Literatur des Zweiten Tempels“. Neben der bereits genannten Autorenliteratur gehören die → Qumranschriften sowie eine Vielzahl anonymer oder pseudepigrapischer Werke mit Apokalypsen, Testamenten, historischen Darstellungen, Weisheitstexten, Psalmen, Briefen, Nacherzählungen biblischer Geschichten in die fragliche Epoche.

Die Zeit des Zweiten Tempels kann daher vermutlich als eine der kreativsten Phasen der jüdischen Literaturgeschichte angesehen werden. Zur Entwicklung der späteren jüdischen Bibelexegese leisten diese Werke einen bemerkenswerten Beitrag. Dies gilt insbesondere für das halachische und haggadische Material (→ Aggada), wie es insbesondere in der Schriftengruppe „Rewritten Bible“ (vgl. → Jubiläenbuch, → Genesis Apokryphon, Liber Antiquitatum Biblicarum / Pseudo-Philo [→ Pseudepigraphen]), bei Philo, Josephus und in Qumran (z.B. 4Q MMT [4Q394-399]; 11QT [Tempelrolle; 11Q19-20]; 1QpHab [Habakuk-Kommentar]) geboten wird.

Hinsichtlich der in ihnen verwendeten hermeneutisch-exegetischen Methoden sowie in Bezug auf die in ihnen enthaltenen Traditionen bilden diese Schriften ein bedeutendes Bindeglied zwischen der biblischen Zeit und der rabbinischen Ära. Das in ihnen enthaltene haggadische und halachische Material vermittelt einen Eindruck von der Aktualisierung biblischer Traditionen in ihren jeweiligen Herkunftsgruppen. Jene sehr eng auf den biblischen Grundtext bezogenen exegetischen Anpassungen der alten Traditionen an jeweils neue historische Kontexte sollten auch für die rabbinischen Schriften prägend werden. Darüber hinaus adaptierte Philo (aber auch dessen Vorgänger Aristobul) die Allegorese für seine Interpretation der jüdischen Schriften und entwickelte sie zu einer neuen Methode der Exegese, die eine Neuformulierung biblischer Traditionen im Kontext hellenistischer Kultur ermöglichte. Durch allegorische Deutung konnte es gelingen, denjenigen Vorschriften der Bibel eine philosophische Bedeutung zuzuweisen, die auf Außenstehende zuvor antiquiert oder barbarisch gewirkt hatten. Somit konnten Juden einerseits an der Befolgung aller Gebote festhalten und andererseits als moderne, hellenistisch gebildete Polisbürger denken und leben.

Die Vielfalt halachischer und haggadischer Traditionen, durch welche die Epoche des Zweiten Tempels gekennzeichnet war, konnte trotz schwerer Rückschläge nach den verlorenen antirömischen Aufständen (70 und 135 u.Z.) unter neuen Vorzeichen in die rabbinische Literatur einfließen. Der diskursive Stil des → Midrasch, der → Mischna und des → Talmud könnte als spätes Echo der Vielfalt jüdischen Denkens jener Zeit angesehen werden.

3. Rabbinische Bibelinterpretation

Nach den katastrophalen Niederlagen der jüdischen Aufstandsbewegung im 1. und 2. Jh. u.Z.. stand das werdende Judentum vor der dringlichen Aufgabe, seine kultische, politische, rechtliche, soziale und kulturelle Identität unter Verzicht auf den Tempel zu Jerusalem und dessen Priesterschaft neu zu fassen. Diese gewaltige Aufgabe wurde letztlich von gelehrten Traditionalisten („Rabbanim“) übernommen, die nach und nach wesentliche Führungsaufgaben im werdenden Judentum übernahmen.

Frühestens ab Ende des 2. Jh.s wurden schriftliche Äußerungen dieser Gruppierung (rabbinische Literatur) sichtbar. Diese kann in drei Hauptformen untergliedert werden:

(1) Halachische Kompendien (Mischna, Tosefta, Talmud),

(2) aktualisierende Kommentare zur Bibel (Midraschim) und

(3) paraphrasierende Übersetzungen der Bibel (Targumim).

In jeder dieser Schriftengruppen kann eine intensive Reflexion biblischer Traditionen beobachtet werden, der jedoch jeweils unterschiedliche Prinzipien zugrunde liegen. Die halachischen Kompendien sind zumeist logisch und sachbezogen (Landwirtschaft, Festzeiten, Familienrecht, Strafrecht, Kult) strukturiert. Belege aus biblischen Texten können begründend beigefügt werden. → Midraschim (mit Ausnahme der homiletischen) und → Targumim hingegen folgen dem Aufbau der biblischen Texte. In den Midraschim scheint das Interesse an der (halachischen bzw. ethischen) Aktualisierung des Textes (Derasch) expliziter, wohingegen in den Targumim eine solche eher in der Paraphrase verborgen ist.

Grundvoraussetzungen der rabbinischen Interpretation bilden die folgenden Prämissen:

(1) Die überragende Heiligkeit der Bibel bringt es mit sich, dass jedes einzelne Wort der Bibel, also auch Dopplungen, vermeintliche Widersprüche und scheinbar überflüssige Angaben eine jeweils eigene Bedeutung tragen (Prinzip der „Omnisignifikanz“).

(2) Die Bibel ist in der Sprache des Ewigen und der Engel verfasst und darf nie anders als auf Hebräisch studiert werden. Deshalb ist bei der Auslegung auch die Form und Anzahl der Buchstaben, deren numerische Bedeutung sowie der Klang der Worte von Belang.

(3) Der Text der Bibel hat stets mehrere Bedeutungsebenen gleichzeitig (vgl. Ps 62,12: „Eines hat Gott gesagt, zweierlei hörte ich“; Prinzip der Polysemanz).

3.1. Rabbinische Hermeneutik: Die Middot

Die Rabbinen haben sich intensiv mit der Methodik der Auslegung biblischer Texte befasst und darüber wiederholt Rechenschaft gegeben. In systematischer Form erfolgte dies in der Zusammenstellung sog. Middot (etwa: „Arten / Regeln“). Drei solcher Listen finden sich namentlich bezeichnet als die

(1) sieben Middot Hillels (vgl. Tosefta Sanhedrin [tSan] VII,11 / VII,5),

(2) dreizehn Middot des Rabbi Jischmael (z.B. Einleitung zur Sifra) und

(3) 32 Middot des Rabbi Elieser (Midrasch HaGadol zur Genesis, Margulies, 22-23).

Sieben Middot lehrte Hillel vor den Ältesten Batyras: den Schluss a fortiori (qal wa-chomer) und den Analogieschluss, und den Binjan Av [Generalisierung] auf der Grundlage eines Verses und den Binjan Av auf der Grundlage von zwei Schriftversen, die [Rückschlüsse] vom Allgemeinen und Besonderen und Allgemeinen, Rückschlüsse auf den Wert einer Sache [וכיוצא בו ממקום אחר], Rückschlüsse aufgrund des Kontextes [דבר הלמד מענינו]. Dies sind die sieben Middot, die Hillel den Ältesten von Batyra lehrte.“ (tSan VII,11/VII,5)

Bei den Middot Jischmaels handelt es sich im Wesentlichen um Erweiterungen der Middot Hillels, vor allem hinsichtlich der Regel des Verhältnisses vom Allgemeinen und Besonderen (כלל ופרט). Die 32 Middot, die Rabbi Elieser – einem traditionell als Meister der haggadischen Interpretation geltenden Gelehrten – zugeschrieben werden, entstammen in ihrer schriftlichen Form erst nachtalmudischer Zeit. Innovativ gegenüber den vorangegangen Listen sind beispielsweise die Regeln zur Inklusion und Exklusion (רבוי ומעוט), zur Bedeutung von Dopplungen, zum Notarikon (Worte bzw. Sätze werden als Buchstaben- oder Silbenakronyme gedeutet) und zur Gematria (Berücksichtigung des Zahlenwerts eines Wortes); vgl. Stemberger (83-102).

Prinzipiell differenzierten die Rabbinen zwischen den logisch und methodisch stringent zu handhabenden Middot in der halachischen Exegese und der Interpretation von haggadischen Abschnitten, die breitere Spielräume für Assoziationen zuließen. Halachische Exegese diente der Anwendung und Präzisierung biblischen Rechts mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der aktuellen Jurisdiktion. Haggadische Auslegungen hingegen wurden für die ethische Unterweisung, zur Illustration von Predigt und Lehrvortrag oder zu Unterhaltungszwecken geschaffen.

3.2. Mischna und Midrasch

Innerhalb der werdenden rabbinischen Bewegung (Palästina, ab 3. Jh.) scheint es eine Auseinandersetzung darüber gegeben zu haben, in welcher Weise die Aktualisierung biblischer Gebote zu präsentieren sei. Dabei verkörpert die → Mischna die eine, der (halachische) → Midrasch die andere Option. Insbesondere die Autoren und Redaktoren der Sifra, eines halachischen Midrasch zu Leviticus, ließen es sich angelegen sein, die Halachot insbesondere der → Mischna auf ihre jeweiligen biblischen Ursprünge zurückzuführen. Die sachlich-logisch orientierte Struktur der Mischna (und des Palästinischen Talmuds) sollte nicht den Eindruck vermitteln, als seien die dort niedergelegten Entscheide lediglich auf der Basis menschlicher Rationalität entwickelt worden. Die konsequente Rückbindung der rabbinischen Interpretation auf ihre biblischen Ursprünge lässt sich auch in den Talmudim, dem Palästinischen (5. Jh.) und – mehr noch – dem Babylonischen Talmud (6./7. Jh.), nachweisen.

4. Jüdische Bibelauslegung im Mittelalter

Im Mittelalter stellt die Schriftauslegung einen wesentlichen Bestandteil der jüdischen Kultur dar, da sie den Kern eines großen Teils der theologischen, rechtlichen, philosophischen, homiletischen, ethischen und mystischen Literatur bildet. Es wurden der biblische Text als Ganzes, einzelne Bücher der Schrift oder ausgesuchte Verse auslegend kommentiert, wobei, neben dem Ingenium des Autors, kulturelle, politische und soziale Aspekte wesentlichen Einfluss auf den Charakter der Interpretation hatten. Die Methoden der Exegese waren so unterschiedlich wie ihre Verfasser, doch leiteten bereits jüdische Schriftausleger des Mittelalters von dem als Akronym benutzten Wort PaRDeS vier Hauptströmungen der Exegese ab:

(1) פשט (→ Peschat, „einfach“) bezeichnet die wörtliche Bedeutung der Bibel,

(2) רמז (Remez, „Anspielung“) steht für die allegorische Auslegung,

(3) דרש (Derasch, „Auslegung“) ist eine interpretative, homiletische Methode und

(4) סוד (Sod, „Geheimnis“) strebt nach dem esoterischen, mystischen Schriftsinn.

In den meisten Fällen kamen in einer Auslegung mehr als eine Methode zur Anwendung.

Die herausragenden Vertreter eines einfachen Schriftverständnisses waren → Raschi und seine berühmte Schule in Nordfrankreich. Die Kommentare des auch in christlichen Kreisen einflussreichen Exegeten zeichnen sich durch ihren prägnanten, eng an den biblischen Text gebundenen Stil, eine klare Sprache und die sparsame Verwendung von homiletischen Elementen des Midrasch aus. Da die jüdischen Gemeinden in Frankreich bis ins 13. Jh. hinein von Wissenschaft und Philosophie weitestgehend unberührt waren, bewegten sich die Bibelkommentare dieser Region meist im festen Rahmen der rabbinischen Tradition.

Ganz anders im islamischen Kulturkreis. Dort hatte → Saadja Gaon durch seine arabische Übersetzung der Bibel und seine zahlreichen Kommentare Anfang des 10. Jh.s eine neue Ära der Bibelexegese eingeläutet, indem er die Schriftauslegung für linguistische Studien, philosophische Wissenschaften und polemische Erörterungen öffnete. Der stark philologisch geprägte Ansatz wurde von Gelehrten wie Dunasch ben Labrat oder Menachem b. Jakob ibn Scharuq in Spanien fortgesetzt und durch Exegeten wie z.B. Moses ibn Esra weitergeführt. Die Renaissance antiker wissenschaftlicher und philosophischer Schriften im islamischen Spanien des 10. und 11. Jh.s zog eine neue Blütezeit der Schriftauslegung nach sich, in der „Klassiker“ wie → Abraham ibn Esra, → David Qimchi und → Nachmanides durch die Verbindung von rabbinischem, philologischem, philosophischem und nun auch kabbalistischem Material Tradition und Innovation kunstvoll miteinander verbanden und die Bibel dergestalt zu einem Spiegel des kulturellen Aufschwungs in dieser Zeit machten.

Für die späteren Jahrhunderte von großer Bedeutung, doch nicht ganz unumstritten, waren die allegorische und die symbolische Bibelauslegung. Für die Erstere steht vor allem → Moses Maimonides, der mittels der Allegorese Brücken zwischen der vornehmlich aristotelischen Philosophie und dem biblischen Text zu schlagen suchte. Die philosophische Schriftauslegung erfreute sich im 14. und 15. Jh. vieler Anhänger, fand aber auch zahlreiche Gegner in konservativen Kreisen, die den Interpreten Entfremdung von wesentlichen Elementen der jüdischen Tradition vorwarfen. So wie die Philosophen entwickelten auch die Kabbalisten eigene Methoden, um den „inneren“ Gehalt des biblischen Textes freizulegen. Das einflussreichste kabbalistische Werk überhaupt, das Sefer ha-Sohar ist ein mystischer Bibelkommentar, in dem neben philosophischem und sprachmystischem Material vor allem die haggadische Überlieferung aufgegriffen und weitergeführt wurde.

5. Jüdische Bibelauslegung der Frühen Neuzeit

Nach seiner Blütezeit im Hochmittelalter nahmen die Dichte und Intensität der Kommentarliteratur ab. Insbesondere nach der Zerstörung und Vertreibung des spanischen Judentums verlagerte sich der Schwerpunkt der jüdischen Auseinandersetzung mit der Bibel nach Italien. Isaak Abravanel (1437-1508), noch ganz in der Tradition seiner portugiesisch-sefardischen Heimat stehend, verfasste Kommentare zu nahezu allen Büchern der Tora und der Nevi’im.

Auch die Tradition der hebräischen Grammatiker fand in Italien seine Fortsetzung. So schuf Elija Levita (1469-1549) etliche linguistische Lehrbücher, wobei insbesondere die Massoret ha-Massoret („Die Überlieferung der Massorah“; 1538) bei jüdischen wie christlichen Gelehrten den Rang eines Standardwerkes innehatte. Asarja dei Rossi (ca. 1511-1578) befasste sich in typischer Renaissance-Manier kritisch mit Fragen der biblischen Chronologie (vgl. Meor Enajim, 1574); wohingegen Abraham Portaleone (1562-1612) als Pionier der biblischen Archäologie gelten kann. Er widmete sich insbesondere dem Salomonischen Tempel (vgl. Schilté ha-Gibborim, 1612). Unter die (jüngeren) Klassiker der jüdischen Bibelexegeten reihte sich Ovadja Sforno (1475-1550) ein, der auch als einer der Lehrer Reuchlins gilt. Sein Kommentar zur Tora findet sich zahlreichen Bibelausgaben beigefügt.

Unter den großen Gelehrten, die sich im 16. Jh. der Gemeinschaft von Safed anschlossen, ragte Mosche Alscheikh (1508-1593) als Exeget heraus. Seine homiletischen Kommentare zur Tora und den Nevi’im werden noch heute intensiv rezipiert.

Für die spätere historisch-kritische Bibelwissenschaft legte Baruch Spinoza (1632-1677) mit seinem Tractatus Theologico-Politicus (1670) wesentliche Grundlagen, wobei der Autor u.a. wegen seiner kritischen Anmerkungen zur Autorschaft der Tora 1656 mit einem Bann der jüdischen Gemeinde Amsterdam belegt wurde. Sein eigentliches Anliegen, Theologie und Philosophie methodisch strikt voneinander zu trennen und die Bibel (außer in ihren ethischen Aussagen) als ein historisch kontextualisierbares Werk zu erschließen, wurde erst Jahrhunderte später aufgegriffen.

6. Jüdische Bibelinterpretation der Moderne

(Spätestens) mit Moses Mendelssohn (1729-1786) traf die Europäische Aufklärung auch in den jüdischen Gemeinschaften auf Widerhall. Der Einsatz für bürgerliche Emanzipation, für eine aktive Teilhabe an moderner Bildung und Kultur zeitigte selbstverständlich auch für den Stellenwert und den Umgang mit der Bibel Konsequenzen. Mendelssohn leistete mit seiner Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Deutsche (vgl. Sefer Netivot ha-Schalom, 1783) einen bedeutenden Beitrag dazu. Die Bibel sollte als Bindeglied zwischen traditioneller und aufgeklärter Bildung fungieren können. Die Netivot ha-Schalom wurde in hebräischen Buchstaben gedruckt, um jüdischen Kindern den Anschluss an die hochdeutsche Sprache zu erleichtern. Eine Brückenfunktion sollte auch der hebräische Kommentar (Bi’ur) erfüllen, der von verschiedenen Autoren um Mendelssohn verfasst und den Netivot beigefügt wurde. In ihm werden die Prinzipien der Mendelssohnschen Übersetzung reflektiert und zur jüdischen Tradition in Beziehung gesetzt. Zudem vermittelt der Bi’ur Anmerkungen zu Grammatik und Stil sowie zum korrekten Vortrag (Kantilene) der Texte.

Mit Mendelssohn begann im westlichen Europa und auch in den USA eine neue Ära der jüdischen Bibelexegese. Die jüdische Aufklärung (Haskala) stärkte den Stellenwert der Hebräischen Bibel im Bildungskanon nachhaltig. Entsprechend der Haltung zur Europäischen Aufklärung, zur Emanzipation und Akkulturation entwickelten sich in Westeuropa verschiedene Strömungen (das liberale, konservative und neo-orthodoxe Judentum), die jeweils eigene „Schulen“ der Textinterpretation hervorbrachten.

Ab dem 19. Jh. übte darüber hinaus die historisch-kritische Methode der (protestantischen) Bibelwissenschaft intensiven Einfluss auf die jüdische Exegese aus (vgl. den Kommentar zum Schir ha-Schirim [Hohelied] von Heinrich Graetz). An ihr schieden sich die Geister. In den Reihen der Neo-Orthodoxie, die zum Beispiel durch Samson Raphael Hirsch (1808-1888) oder David Zvi Hoffmann (1843-1921) vertreten wurde, stieß sie auf Ablehnung. Der große italienische Exeget Samuel David Luzzato (1800-1865) hingegen strebte in seinen Kommentaren (zu Jesaja, 1855-1867; zur Tora 1871 sowie in den Perusche Scheda"l zu Jeremia, Ezechiel, Sprüche, Hiob posthum 1876) nach einer Synthese von traditionell-jüdischen und modernen (textkritischen) Methoden und folgte Mendelssohn in dessen programmatischer Bilingualität.

In Osteuropa, vor allem bei denjenigen Vertretern der traditionellen Orthodoxie, die sich mit den Modernisierungsprozessen aktiv auseinandersetzten, gestaltete sich die Abwehr der Kritischen Bibelwissenschaft wesentlich prinzipieller. An dieser Stelle wäre vor allem auf das Wirken Meir ben Jechiel Michaels (des Malbi"m, 1809-1879) hinzuweisen, der als herausragender Vertreter der traditionellen Exegese Osteuropas gelten kann. Er verfasste in den Jahren 1845 bis 1876 Kommentare zu fast allen Büchern der Bibel und griff in ihnen das Liberale Judentum und dessen Umgang mit der Heiligen Schrift scharf an. Seiner Auffassung nach zerstörte es die Grundlagen des Judentums. Dieser Gefahr wollte er durch eine möglichst exakte, an der literalen Bedeutung der Texte orientierte Interpretation begegnen. Er betonte die bleibende Gültigkeit der rabbinischen Exegese und suchte somit die Halacha des traditionellen Judentums zu bestärken.

Unter den jüdischen Exegeten des 20. Jh.s ragen Autoren wie Benno Jacob (1862-1945), Mosche David Umberto Cassuto (1883-1951) oder Nechama Leibowitz (1905-1997) heraus. Sie alle standen der Historisch-kritischen Methode der Exegese, insbesondere der Graf-Wellhausenschen Quellenscheidungshypothesen kritisch gegenüber. Sie alle, insbesondere jedoch Nechama Leibowitz, haben sich große Verdienste durch den Anstoß einer Renaissance des Studiums der Hebräischen Bibel in der jüdischen Gemeinschaft erworben.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Encyclopaedia Judaica, 2. Aufl., Detroit u.a. 2007
  • Encyclopedia of the Bible and its Reception, Berlin 2009ff

2. Weitere Literatur

  • Bacher, W., 1892, Die Bibelexegese der juedischen Religionsphilosophen des Mittelalters vor Maimuni, Budapest
  • Bacher, W., 1892, Die jüdische Bibelexegese vom Anfang des zehnten bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, Trier
  • Smalley, B., 1952, The Study of the Bible in the Middle Ages, Oxford
  • Melamed, E.Z., 1975, Biblical Exegetes, Jerusalem (Hebr.)
  • Fishbane, M., 1985, Biblical Interpretation in Ancient Israel, Oxford
  • Mulder, M.J., 1988, Mikra. Text, Translation, Reading and Interpretation of the Hebrew Bible in Ancient Judaism and Early Christianity, Assen / Philadelphia
  • Dohmen, Chr. / Stemberger, G., 1996, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart / Berlin / Köln
  • Sæbø, M. (Hg.), 1996 / 2000, Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Volume I/1 und I/2: From the Beginnings to the Middle Ages, Göttingen
  • Sarna, N., 2000, Studies in Biblical Interpretation, Philadelphia
  • Najman, H. / Newman, J. (Hgg.), 2004, The Idea of Biblical Interpretation (FS J.L. Kugel), Leiden

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