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Bibelauslegung, Epochen der christlichen

(erstellt: Januar 2006)

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Die Geschichte der christlichen Bibelauslegung setzt den aus Altem und Neuem Testament gebildeten Doppelkanon der Heiligen Schrift voraus (→ Bibel). Dieser → Kanon nahm am Ende des 2. und Anfang des 3. Jh.s feste Konturen an. Ihm ging die jüdische Kanonbildung des Alten Testaments voraus, die nach einem mehrere Jahrhunderte währenden Prozess der Schriftwerdung, Sichtung und Sammlung in der Hauptsache gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr. abgeschlossen war.

Der Prozess der Kanonisierung der biblischen Schriften als Vorgeschichte der christlichen Auslegung der Bibel hat seinerseits eine Vorgeschichte, die bis in die Entstehung der alttestamentlichen Überlieferungen selbst zurückreicht. Neben die Glaubensaussage tritt naturgemäß die Reflexion über sie; die Auslegung des als heilig und maßgebend (kanonisch) erfahrenen Wortes beginnt früh; nicht erst bei der Weitergabe an andere; und auch nicht erst dann, wenn ein heiliges Wort in zeitlicher Distanz und womöglich sachlicher Fremdheit einen Brückenschlag nötig macht. Mit einem bloßen Zitat war es nie gemacht. Die Deutungsvorgänge innerhalb der biblischen Überlieferungen selbst sind Gegenstand der sog. Einleitungen ins Alte und Neue Testament wie der Darstellungen ihrer Theologien (→ Einleitungswissenschaft). Die Geschichte der Bibelauslegung hat es mit der Entwicklung der Interpretation der biblischen Texte vom Abschluss der Kanonbildung bis in die Gegenwart zu tun. Sie beobachtet die Entwicklung der exegetischen Erkenntnisse, die Veränderungen in der Auslegungsmethoden sowie den Wandel der hermeneutischen Entwürfe, in denen die christlichen Interpreten den besonderen Charakter ihres biblischen Gegenstandes und ihre aus dessen Besonderheit erwachsende kommentatorische Aufgabe reflektiert haben.

1. Auslegung biblischer Überlieferungen im Alten und Neuen Testament

Alttestamentliche Texte wurden schon in vorkanonischer Zeit übersetzt, redigiert, paraphrasiert und erklärt. Ihre historisch-kritische Analyse hat gezeigt: Gesetzesstoffe wurden in ältere Bestände eingefügt, prophetische Bücher wurden ergänzt und neu akzentuiert; man denke etwa an den Schluss des → Amosbuches (Am 9,11-15); Erzählendes wurde neu gefasst, wie der Anfang der Bibel im Nebeneinander zweier Schöpfungsberichte (Gen 1,1ff; Gen 2,4bff) zeigt. Mit bloßem Auge erkennt man in den → Chronikbüchern eine Auslegung, ja Korrektur der → Samuel- → Königsbücher und (vgl. 2Sam 24,1 mit 1Chr 21,1). Ebenfalls ohne Hilfsmittel bemerkt der Leser der deuterokanonischen Schriften, der → Apokryphen und → Pseudepigraphen, eine Fülle auslegender Bearbeitung alttestamentlicher Überlieferungen. Man denke beispielsweise an die Rückgriffe der → Weisheit Salomos (Weish 10ff) auf die Geschichte Israels. Hat die Literarkritik gelehrt, in den jüngeren Schichten literarischer Kompositionen den interpretativen Umgang mit den älteren Schichten zu erkennen, so hat die form- und überlieferungsgeschichtliche Forschung gezeigt, wie mündliche Überlieferungen in der Literaturwerdung redaktionell interpretiert worden sind, ja, dass schon im mündlichen Stadium der Überlieferung Themen und Texte zusammengewachsen und damit gedeutet worden sind.

Für die neutestamentlichen Schriften ist der Rückbezug auf die heiligen Schriften des damaligen Judentums – der Text ist meist der der → Septuaginta (LXX) – selbstverständlich, auch wenn der jüdische Kanon noch nicht abgeschlossen war. Die überlieferten Schriften werden als Zeugnis der Christusbotschaft ausgelegt. Finden sich eine explizite Schriftauslegung und die Anwendung zeitgenössischer Auslegungsregeln selten, so ist eine freiere Verwendung von Schriftworten um so häufiger. Die Schriftverweise stehen im Dienste der theologischen Argumentation, die mit Hilfe von Schriftworten entfaltet oder durch die Berufung auf die Autorität der Schrift besonders qualifiziert wird. Wie die alttestamentlichen Überlieferungen im Lichte Christi zu vertieftem Sinn geführt werden, so bieten jene den Horizont, in dem Christologie und Soteriologie sich dem Verstehen erschließen. Die neutestamentliche Auslegung der alttestamentlichen Schriften verwendet diese „sekundär und subsidiär“, nicht als kritische Norm (Vielhauer, 1969).

Nicht nur die alttestamentlichen Schriften erfahren im Neuen Testament Rezeption und Deutung, sondern wie jene einen deutenden Traditionsprozess umfassen, so auch diese: Auch im Neuen Testament findet sich der Rückgriff auf mündliche Überlieferungen (vgl. Paulus), findet sich zum Beispiel im Nebeneinander der vier Evangelien ein wiederholendes und neu akzentuierendes Erzählen der Überlieferungen und findet sich innertestamentliche Interpretation wie etwa in der Modifikation theologischer Gedanken des Johannesevangeliums in den Johannesbriefen oder in der kritischen Bezugnahme des Jakobusbriefes auf Aussagen des Apostels Paulus (vgl. Röm 3,28 mit Jak 2,14-26). Die im neutestamentlichen Kanon überlieferten Schriften sind eingebettet in einen breiteren Prozess literarischer Produktion, in eine Auslegungsgeschichte, die mit den Apokryphen und Pseudepigraphen an die patristische Literatur heranführt.

2. Die antike jüdische Schriftauslegung

Mit der Kanonisierung war der Konsonantentext der Bibel fixiert und der Umfang der biblischen Schriften festgelegt. Die Aufgabe der Auslegung für die jeweilige Gegenwart war nun unbegrenzt.

Die antike jüdische Schriftauslegung spiegelt sich in den erst im 20. Jh. aufgefundenen Texten von Qumran (→ Qumrantexte). Auch in ihnen sind die Grenzen zwischen Textüberlieferung und Textauslegung fließend. Der hohen Wertschätzung der Tora korrespondiert eine selbstbewusste Interpretation, namentlich in der Anwendung prophetischer Texte auf die Gegenwart.

Die rabbinische Bibelauslegung findet ihre Form in Palästina und in Babylonien in den → Targumim (Übersetzungen ins Aramäische), den → Midraschim (< darāš „suchen, fragen, erforschen“) und den → Talmudim (< lamād „lernen“; Palästinischer bzw. Jerusalemer und Babylonischer Talmud, bestehend aus der Mischnah [Wiederholung] und ihrer Diskussion, der Gemarah [Vollendung]). Die Midraschim sind in der Gestalt von Sammlungen überkommener rabbinischer Aussprüche Kommentierungen jener biblischen Bücher, aus denen sich die Halacha (< halākh „gehen“) als das religiöse Gesetz für die praxis pietatis herleiten ließ. Der biblische Bezug kann in der halachischen Überlieferung aber auch fehlen, und im ganzen gilt: In der rabbinischen Gelehrsamkeit tritt der direkte Textbezug zugunsten der Vermittlung der reichen Tradition zurück. Eine zweite Gruppe von Midraschim bilden die Werke haggadischen (erbaulich-erzählenden [< higgîd „erzählen“]) Charakters. Bei der Kompilation tradierter Auslegungen können konkurrierende Auffassungen nebeneinander stehen, um die unterschiedlichen Perspektiven der vielschichtigen Fülle der Schrift zu erschließen.

Die exegetischen Regeln, die sich in dieser frühen Phase jüdischer Bibelerklärung ergeben haben, wurden von Rabbi Hillel, einem Zeitgenossen Jesu, systematisiert, von Späteren erweitert. Hillel kannte sieben Regeln (Middot); die bekanntesten, auch im Neuen Testament angewandten, sind der Schluss vom Leichteren auf das Schwerere (vgl. Röm 5,12ff) und der Analogieschluss (vgl. Röm 4,3-8).

Dem hellenistischen Diasporajudentum Alexandriens verdanken wir die Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische, die Septuaginta (LXX), mit einem Überschuss über den hebräischen Kanon hinausgehender Schriften, den sog. → Apokryphen und → Pseudepigraphen. Die → Septuaginta ist im 3./2. Jh. v. Chr. entstanden und ist ein wichtiger Zeuge in der Text- und Übersetzungsgeschichte des Alten Testaments. Sie ist ein Beleg alter hebräischer Lesarten und sie war die Vorlage einer frühen lateinischen Übersetzung des Alten Testaments, der sog. → Vetus Latina. Als Interpretin der alttestamentlichen Überlieferungen ist sie ein bedeutendes Dokument ihrer frühen Auslegungsgeschichte.

Auf der Grundlage der LXX vermittelte Philo von Alexandrien (vermutlich ca. 20/10 v. Chr. - 45 n. Chr.; → Philo) zwischen israelischer Religion und hellenistischer Weisheit und bediente sich dabei der in der antiken Homerexegese angewandten Methode der Allegorese. Philo setzt in seiner allegorischen Auslegung des Alten Testaments voraus, dass die inspirierte Heilige Schrift noch einen anderen, tieferen Sinn („Seele“) als den buchstäblichen Sinn („Leib“) besitzt und dass jener namentlich dann zu erfragen ist, wenn dieser sich dem Verständnis widersetzt. Im Judentum hat die Allegorese im weiteren ein deutlich bescheideneres Echo gefunden als in der christlichen Auslegungsgeschichte.

3. Die Exegese der griechischen Kirchenväter und die hermeneutische Differenz zwischen Alexandrinern und Antiochenern

Der altkirchlichen Deutung des Alten Testaments musste angesichts häretischer Abwertungen seiner Texte und Glaubensgehalte (zum Beispiel durch Marcion, ca. 85-160) daran gelegen sein, die im Neuen Testament grundlegend behauptete Verbindung zwischen alt- und neutestamentlicher Heilsgeschichte wie zwischen alt- und neutestamentlichen Texten argumentativ zu entfalten. Dem ersten diente das Aufweisen von Vorabbildungen des neutestamentlichen Heilsgeschehens in der Geschichte des alten Israel: Die Typologese lehrt, alttestamentliche Ereignisse als Figuren oder Typen des neutestamentlichen Heilsgeschehens zu verstehen.

So wendet sich Irenäus von Lyon (ca. 140-202) gegen die Ketzer, die das Alte Testament verachten, und legt in einem von der Schöpfung bis zur endzeitlichen Vollendung reichenden Entwurf der Heilsgeschichte die Harmonie zwischen den Testamenten dar: Durch „Typen“ rief Gott schon Israel zur Wahrheit; durch das Zeitliche führt er zum Ewigen, durch das Fleischliche zum Geistigen (Adversus haereses; Bibliothek der Kirchenväter). „Against Jews, the Old Testament prophecies are the demonstrantes, and the New Testament events are the demonstranda. Against the Gnostics and Marcion, this is reversed: The Old Testament prophecies, and with them the Old Testament as a whole, becomes the demonstrandum“ (Oskar Skarsaune, in: Sæbø, 1996, 427).

Das spezifische Anliegen, den Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament darzutun, gehört in den Zusammenhang der Bemühungen, die Übereinstimmung zwischen der Heiligen Schrift und dem Glauben der Kirche aufzuweisen und auch die Harmonie zwischen der Bibel und den Ansprüchen der Moral und der Vernunft zu erweisen. Typologese und Allegorese ergänzen sich hierbei; jene setzt die Mehrschichtigkeit der Geschichte voraus, diese die Mehrschichtigkeit der Schrift, in der Handhabung verwischen die Unterschiede.

Seit Clemens von Alexandrien (ca. 150-215) und namentlich seit Origenes (ca. 185-254; → Origenes) hat die allegorische Schriftdeutung einen festen Platz in der Exegese der Kirche. Origenes hat eine immense Arbeit auf die Beschäftigung mit der Heiligen Schrift verwandt. Wir haben von ihm, nur in Fragmenten erhalten, die sog. Hexapla, eine kritische Ausgabe des Alten Testaments, die synoptisch sechs verschiedene Versionen der Überlieferung, namentlich die hebräischen und die griechischen Texte, nebeneinanderstellt. Origenes war unermüdlich im Studium der Sprachen und der Bibelhandschriften und er verfasste zahlreiche biblische Kommentare; auch sie sind nur unvollständig überliefert. „Zwei Leitsterne beherrschen seine Arbeit: die Bibel und Plato“, so hat Adolf von Harnack 1930 (Artikel Origenes, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Band IV) gesagt und ihn als den „Vater der kirchlich-theologischen Wissenschaft“ bezeichnet. Er suchte, Glauben und Wissen, Geschichte und Gnosis, Bibel und Glaubensregel miteinander zu vermitteln. Die Schrift ist ihm dreigeschichtet: Sie umfasst wie der Kosmos und wie der Mensch Materielles, Psychisches und Pneumatisches; dem entsprechend sei die Schrift nach drei Stufen ihres Sinns buchstäblich, moralisch und allegorisch auszulegen; Origenes hat das eingehend in seinem dogmatischen Werk De principiis (IV, 1-3; Text Kirchenväter) entfaltet. Hermeneutisch grundlegend ist die Unterscheidung zwischen dem buchstäblichen und einem hinter ihm verborgenen tieferen Schriftsinn. Manche Texte enthalten nach Origenes das „Leibliche“ überhaupt nicht, so dass man allein die „Seele“ und den „Geist“ aufsuchen muss. Wie vor ihm Philo und Clemens unterscheidet Origenes die „Einfältigen“, die von dem „Fleische“ der Schrift erbaut werden, von denen, die als „Fortgeschrittene“ und „Vollkommene“ an die „Seele“ bzw. an die verborgene „Weisheit“ Gottes gewiesen sind.

Von der exegetischen Autorität des Origenes haben sich in den folgenden Jahrhunderten viele leiten lassen, so beispielsweise im 4. Jh. der bedeutende Didymus der Blinde (ca. 313-398), ja aus der Hermeneutik des Origenes hat sich das dominierende Schriftverständnis des lateinischen Mittelalters entwickelt.

Gegen Ende des 3. Jh.s kam in der syrisch-mesopotamischen Kirche eine exegetische Richtung auf, die die Allegorese der Alexandriner und der Lateiner abgelehnt hat und als die Antiochenische Schule in die Geschichte eingegangen ist. Von ihren Vertretern ist besonders Theodor von Mopsuestia (ca. 352-428) zu nennen. Er hat mehrere Bücher des Alten Testaments ausgelegt, einige seiner Kommentare sind leider verschollen. Theodor ist nachdrücklich am Wortsinn gelegen; zu seiner Ermittlung stützt er sich allerdings vornehmlich auf die Septuaginta. Des Hebräischen war er nicht mächtig; trotzdem kann Ludwig Diestel urteilen, dass ihn „an Strenge der grammatischen, mehr noch der historischen Auslegung, sowie an Originalität der Anschauung des A.T.“ niemand unter den Kirchenvätern erreicht habe. Die christologische Bedeutung des Alten Testaments ist selbstverständlich auch den Antiochenern gewiss. Sie darzutun, erlaubt ihnen besonders die Typologese. Sie knüpft anders als die an das Schriftwort als solches sich anschließende Allegorese an die alttestamentliche Geschichte und findet in ihr („schaut“, nämlich in der Theoria) Vorabbildungen des neutestamentlichen Heilsgeschehens.

Die griechische und die syrische Bibelerklärung der folgenden Jahrhunderte folgt im Wesentlichen der antiochenischen Tradition, und zwar in der Gestalt der sog. Katenen, das ist der losen Aneinanderreihung der älteren Auslegungen zu einer den Bibeltext begleitenden Kette des exegetischen Erbes. Neben Theodors Kommentaren sind besonders die seines Schülers Theodoret von Cyrus (ca. 393-460; → Theodoret von Cyrus) überliefert worden. Im lateinischen Mittelalter aber konnte das Erbe der Antiochener nur marginal und unter Beiseitelassung des exklusiven Widerspruchs gegen die Allegorese lediglich dadurch fortleben, dass die mittelalterliche „Kumulation der Schriftsinne“ (Arno Borst) auch der buchstäblichen Exegese einen begrenzten Platz einräumte; das Wesentliche war damit nicht bewahrt, „the method and the inspiration were lost“ (Beryl Smalley).

4. Geist und Buchstabe in der Exegese der lateinischen Kirchenväter

Ambrosius von Mailand (ca. 339-397) ist einer der Vermittler der alexandrinischen Tradition an die abendländische Kirche. Er unterscheidet einen dreifachen Schriftsinn: historicus (literalis), mysticus und moralis. Die hieraus in den nächsten Jahrhunderten herangereifte Theorie unterscheidet schließlich einen vierfachen Schriftsinn.

Auf dem Wege dorthin muss insbesondere der Kirchenvater Hieronymus (ca. 347-419; → Hieronymus), den man mit Richard Simon „den Origenes der Lateiner“ nennen kann, erwähnt werden. Er hat seine Gelehrsamkeit besonders dem hebräischen Text (der hebraica veritas) zugewandt und hat ihn zur Grundlage einer neuen Übersetzung des Alten Testaments ins Lateinische (390-406) gemacht, die vorhandenen, auf der LXX fußenden, lateinischen Versionen, unter ihnen die Vetus Latina, korrigierend. Im Neuen Testament hat Hieronymus die Evangelienübersetzung anhand der griechischen Überlieferung revidiert. Andere haben das große Übersetzungswerk vollendet. Es ist dies die für die weitere Kirchengeschichte höchst bedeutsame Vulgata, die „Bibel des Abendlands“ (so Eberhard Nestle, Art. Bibelübersetzungen, lateinische in: RE 3. Auflage, Band 3). Hieronymus hat zahlreiche biblische Bücher kommentiert; er hat dabei die exegetische Tradition in reichem Maße in seine Kommentare aufgenommen; sie sind zu einer Fundgrube für die exegetische Arbeit des Mittelalters geworden, halb Steinbruch, halb Fundament. Für ein Jahrtausend haben die Kommentare des Kirchenvaters die Bibelauslegung bis in den Wortlaut hinein geprägt. Hieronymus ist davon überzeugt, dass die vom Heiligen Geist inspirierte Schrift einen mehrfachen Sinn besitzt und verwirft trotz seiner kritischen historisch-philologischen Arbeit eine nur am Literalsinn orientierte Auslegung als „jüdische Sitte“. Andererseits zögert Hieronymus im konkreten Falle, sich zwischen einer allegorischen und einer buchstäblichen Auslegung zu entscheiden; er ist nicht selten mehr Kompilator als selbstständiger Exeget und ist auch hierin ein Wegbereiter der mittelalterlichen Bibelauslegung.

Neben Hieronymus ist besonders der Kirchenvater Augustinus (354-430; → Augustinus) von bleibender Bedeutung für die Auslegungsgeschichte, namentlich für die lateinische des Mittelalters. Wie er in seinen Confessiones (Bibliothek der Kirchenväter) sagt, verdankte er seinem Lehrer Ambrosius die Befreiung von den Problemen des buchstäblichen Schriftsinns: Mit Freude hörte ich es oft, wie Ambrosius in seinen Predigten vor dem Volke besonders eifrig die Regel aufstellte und empfahl: ‚Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig’ [2Kor 3,6]. Denn für dasjenige, was im buchstäblichen Sinn genommen, eine verkehrte Lehre zu enthalten schien, eröffnete er, indem er den Schleier des mystischen Sinnes beiseite zog, ein geistliches Verständnis derart, dass ich nunmehr an dem Gesagten wenigstens keinen Anstoß nahm. Gegen die Manichäer (→ Mani) gewandt verfasste er ca. 388/389 einen allegorischen Genesiskommentar. Er wagte zunächst nicht, bei der buchstäblichen Deutung zu bleiben, unternahm es später (401-415) aber doch, die Genesis auch „ad litteram“ auszulegen; freilich kann der von ihm erschlossene Literalsinn auch einmal ausschließlich allegorische Bedeutung haben. Unter Bezugnahme auf die Regeln seines Zeitgenossen Tyconius entwickelt er im dritten Buch seiner Schrift De doctrina christiana (Text Kirchenväter) als erster christlicher Theologe eine biblische Hermeneutik. Nur wenn die Interpretation ad regnum caritatis („zum Reich der Liebe“) führe, könne die Schrift proprie („eigentlich, wörtlich“) genommen werden und „müsse keine übertragene, figürliche, Rede angenommen werden“ (nulla putetur figurata locutio; III, 15). Die Glaubensregel, die die Schriftauslegung zu leiten habe, schöpfte Augustin aus dem höchsten Gebot, dem Doppelgebot der Liebe: Quidquid in sermone divino neque ad morum honestatem, neque ad fidei veritatem proprie referri potest, figuratum esse cognoscas. Morum honestas ad dilegendum Deum et proximum, fidei veritas ad cognoscendum Deum et proximum pertinet („was wörtlich genommen in dem göttlichen Wort weder auf die Ehrbarkeit der Sitten noch auf die Glaubenswahrheit bezogen werden kann, ist figürlich, übertragen, zu verstehen. Die Ehrbarkeit der Sitten bezieht sich auf die Gottes- und Nächstenliebe, die Glaubenswahrheit auf die Gottes- und Nächstenerkenntnis“; III, 10).

5. Der Wortsinn und der vierfache Schriftsinn in der mittelalterlichen Exegese

War die monastische Bibelauslegung des Mittelalters auch überwiegend an der allegorischen und tropologischen Deutung orientiert, so verband sich in der lectio divina der Viktoriner (Paris) dieses Anliegen mit der nachdrücklichen Bemühung um den Wortsinn (sensus litteralis) der Schrift. Als hervorragender Vertreter dieser Richtung ist Andreas von St. Viktor (gest. 1175) zu nennen; er war seit Hieronymus der erste gründliche Kenner des Hebräischen im Abendland. Waren die antiochenischen Exegeten der Alten Kirche im Mittelalter weithin in Vergessenheit geraten, so haben die Viktoriner in der Bemühung um den Wortsinn der Schrift geradezu von vorne begonnen; es geschah dies in nachdrücklicher Anknüpfung an die jüdische Exegese. Andreas’ Werke sind ausschließlich exegetischer Natur, mehr noch: Sie gelten ausschließlich dem Alten Testament.

Das hohe Mittelalter war die Glanzzeit der selbstständigen jüdischen Exegese und die Periode ihres größten Einflusses auf die christliche Bibelauslegung. Schon im 8. Jh. hatten gegenüber der beherrschenden Stellung der talmudischen Traditionen die Karäer für eine Rückbesinnung auf die Heilige Schrift gekämpft und damit die „Periode des Peschat“ (W. Bacher) vorbereitet, die nach Saadia ben Joseph (Saadia hagaon; ca. 892-942) mit den Namen großer jüdischer Exegeten verbunden ist, die die christliche Bibelauslegung des Mittelalters befruchtet haben.

Raschi (Rabbi Salomo ben Isaak, 1040-1105; → Raschi), in Troyes zu hause, kommentierte nach seiner Ausbildung in Mainz und Worms vermutlich das ganze Alte Testament. Seine Bibelauslegungen genossen eine große Popularität, weil sie Peschat und Derasch, also die Auslegung des Wortsinns und die homiletische Anwendung, geschickt verbanden (→ Peschat-Auslegung). Raschi war ein selbstständiger Exeget; seine besondere Bedeutung lag darin, dass er der Erhellung des sensus litteralis ein besonderes Gewicht beimaß. Ihm lag an klarer, rationaler Argumentation, und er bewies hierin seine Freiheit gegenüber der Tradition. Er hatte einen großen Schülerkreis und genoss bei den christlichen Exegeten seiner Zeit ein hohes Ansehen.

Im 12. und 13. Jh. sind für das Bibelstudium die in Spanien bzw. der Provence beheimateten Abraham Ibn Esra (ca. 1089-1167; → Ibn Esra) und David Qimchi (ca. 1160-1235; → Qimchi) von besonderer Bedeutung. Von beiden sind zahlreiche Bibelkommentare überliefert. In den Darstellungen der Geschichte der Pentateuchforschung pflegt man daran zu erinnern, dass bereits Abraham Ibn Esra – vorsichtig andeutend – auf „Postmosaica“ in den nach Mose benannten Büchern hingewiesen hatte. Qimchi gehörte einem ganzen Geschlecht von berühmten Bibelexegeten an. Auch seine Kommentare sind in der Tradition der genannten jüdischen Exegeten der Erforschung des Peschat verpflichtet. Es eignet ihm wie seinen Vorgängern und den zeitgenössischen jüdischen Exegeten ein gewisser Rationalismus.

Dieser Rationalismus kennzeichnet auch das religionsphilosophisch-exegetische Werk „Führer der Verirrten“ (ursprünglich arabisch, zwischen 1190 und 1200 verfasst) des Spaniers Maimonides (Rabbi Moses ben Maimon, 1138-1204; Maimonides). Ihm lag daran, die menschliche Seite der biblischen Offenbarung verständlich zu machen und einer philosophisch gebildeten Leserschaft zu zeigen, dass die Offenbarung sich nach der Seite der besonderen menschlichen Begabung des Offenbarungsempfängers anthropologisch verstehen lässt: Gott bedient sich der Einbildungskraft von besonders begabten Menschen auf einer Stufe höchster Vernunft. Es lässt sich, so legte er dar, manches natürlich erklären, was als nur wunderbar genommen irritieren würde. Der frühe Glaube habe von Gottes Wirken gesprochen, so sagt Maimonides, wo es dem Verstehen diente, auch die „mittleren Ursachen“ zu benennen, also etwa von der natürlichen Einbildungskraft und dem Kombinationsvermögen der Propheten zu sprechen und nicht unmittelbar vom Reden Gottes. Die Wurzeln der Religionsphilosophie des Maimonides reichen zurück in die griechische Antike (Aristoteles) und auch in den Islam. Ihre Nachwirkung lässt sich über Baruch de Spinoza bis in die Anfänge der deutschen historisch-kritischen Exegese hinein verfolgen.

Mit Isaak Abrabanel (ca. 1437-1508), dessen Kommentare mitunter einen rückblickenden, kompilatorischen Charakter haben, erlosch die große produktive Epoche der jüdischen Exegese, in der sie der christlichen Exegese vielfach voraus war. Die weitere wesentliche Förderung der Exegese fiel der bald nach Abrabanels Tode in die Geschichte eintretenden protestantischen Theologie zu. Erst durch die Berührung mit ihr sollte die jüdische Exegese sehr viel später wieder befruchtet werden.

Der Standardkommentar des christlichen Mittelalters war die Glossa Ordinaria, die seit der Mitte des 12. Jh.s dem Schulbetrieb zugrunde gelegt wurde; sie wird in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts entstanden sein. Das Werk, später oft zusammen mit der Postille des Nikolaus von Lyra gedruckt, überliefert die altkirchliche Exegese, namentlich die der lateinischen Kirchenväter und hier besonders die des Hieronymus. Es bietet in knappen Interlinearglossen und auch in ausführlichen Marginalglossen die Auslegungen „secundum historiam“, „secundum tropologiam“ und „secundum allegoriam“ schematisch und harmonisch nebeneinander als durch die „materia triplex“ der Heiligen Schrift gefordert. Der Gedanke an deren mögliche Konkurrenz schien ausgeschlossen. Grundlegend blieb die Unterscheidung zwischen dem Wortsinn und einem über sie hinausgehenden geistlichen Sinn, wie sie in unterschiedlicher Ausgestaltung bereits die altkirchliche Auslegung bestimmt hatte. War die von Sprachkenntnis und historischen Vergleichen geleitete wörtliche Auslegung die Grundlage, so strebte die Deutung doch über das Antiquarische hinaus zur Gegenwart, die der tiefere Schriftsinn unmittelbar betreffe. Das Gotteswort erlaube und fordere, so war man überzeugt, die vielfache Bibelauslegung. Freilich war sie begleitet von der altkirchlichen Überzeugung, dass das Schriftverständnis von der Richtschnur des Glaubens geleitet sein müsse; ohne diese, so sagte man im 12. Jh., werde der heilige Text „eine wächserne Nase“, die sich drehen lasse, wohin man wolle. Auch dem Stoff nach bleibt das Mittelalter eng gebunden an die altkirchliche Exegese. Es geht nun vor allem um die Weitergabe der Autoritäten, auch wenn sich Hinweise auf unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten und hin und wieder auch Stellungnahmen zu ihnen finden. Die Glossa wurde früher zu Unrecht dem Walahfrid Strabo zugeschrieben; tatsächlich dürfte sie der Schule von Laon entstammen.

Auch im 13. Jh. geschah die christliche Bibelauslegung in der von den Kirchenvätern vorgegebenen hermeneutischen Bahn. Die Voraussetzung der Exegese blieb die Annahme eines mehrfachen Schriftsinnes. Neben den buchstäblichen, den moralischen und den allegorischen Sinn trat nun häufig noch die anagogische Deutung. Ein berühmt gewordener, Ende des 13. Jh.s geprägter, Merkvers kennzeichnet den vierfachen Schriftsinn mit folgenden Worten:

Littera gesta docet, / quid credas allegoria, / moralis quid agas, / quo tendas (oder: quid speres) anagogia.

(Der Buchstabe lehrt das, was geschehen ist; / die Allegorie das, was man glauben soll; / der moralische Sinn das, was zu tun ist; / die Anagogie zeigt, wohin es mit dir hinaus will [oder: was man hoffen soll]).

Die berühmte, oft abgeschriebene und später oft gedruckte Postille des Nikolaus von Lyra (ca. 1270-1349; Postilla literalis et moralis in Vetus et Novum Testamentum) bot die Exegese nach dem vierfachen Schriftsinn angeordnet, berücksichtigte aber in der Darlegung des Wortsinns neben dem christlichen Traditionsgut regelmäßig auch jüdische Exegetica, namentlich die Auslegungen Raschis.

Neben die nach Bibelversen und vierfachem Schriftsinn geordneten Auslegungen traten im hohen Mittelalter die Erörterungen in dogmatischen quaestiones. Die Scholastik suchte in einer filigranen Differenzierung den Stoff logisch zu entfalten und der Einsicht aufzubereiten. In dieser Weise wurden exegetische Erörterungen in die Summen aufgenommen, wie umgekehrt derartige Exkurse auch Eingang in die biblischen Kommentare selbst fanden. So gebührt den Summen des deutschen Dominikaners Albertus Magnus (ca. 1200-1280) und des Süditalieners Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) auch in der Geschichte der Exegese ein ihrer dogmatischen Bedeutung entsprechender Platz.

6. Quellenstudium, reformatorische Konzentration und spätere Stagnation im 16. Jh.

Neue Wege wurden der Bibelwissenschaft erst vom Humanismus des 16. Jh.s gewiesen. Er brachte eine energische Rückwendung zu den biblischen Quellen in ihrer Ursprache und dabei eine kritische Beschäftigung mit der Textüberlieferung mit sich. Johannes Reuchlin (1455-1522) erschloss das hebräische Alte Testament durch seine „Rudimenta Hebraica“ (1506), Erasmus von Rotterdam (1469-1536) veröffentlichte 1516 in Basel eine kritische Ausgabe des Neuen Testaments (Novum Instrumentum).

Intensives Bibelstudium war die Grundlage des reformatorischen Wirkens Martin Luthers (1483-1546; → Luther). Luther bevorzugte den Literalsinn (es ist der einige recht Häuptsinn, den die Buchstaben geben) und befreite die Exegese von bevormundender Tradition. 1520 schrieb er (Assertio omnium articulorum): Oder sag mir, wenn du’s vermagst: wer ist der Richter, durch den eine Frage zum Schlusse kommt, wenn die Aussprüche der Väter widereinander streiten? Denn hier muss man nach dem Richtspruch der Schrift das Urteil fällen, und das kann nicht geschehen, wo wir nicht den ersten Platz in allem, was den Vätern beigelegt wird, der Schrift geben, also dass sie selber durch sich selber sei die allergewisseste, die leichtest zugängliche, die allerverständlichste, die die sich selber auslegt (sui ipsius interpres), die alle Worte aller bewährt, urteilt und erleuchtet. Luther übersetzte 1521/1522 das Neue Testament aus dem Griechischen und benutzte dabei die von Erasmus veranstaltete Edition. 1523 bis 1534 übersetzte er unter Hinzuziehung sprachkundiger Berater das Alte Testament aus dem Hebräischen und Aramäischen. Die erste vollständige Ausgabe der deutschen Bibel erschien 1534 bei Hans Lufft in Wittenberg (1545 Ausgabe letzter Hand). Mit ihr war die Heilige Schrift dem Laien in die Hand gelegt und im übrigen die Einheit der Schriftsprache begründet. Luthers Bibelauslegung ist in zahlreichen Vorlesungen (zum Beispiel: Erste Psalmenvorlesung 1513/1515; Vorlesungen über den Römerbrief 1515/1516) und Kommentaren (zum Beispiel: In Epistolam St. Pauli ad Galatos Commentarius, 1535) überliefert. Kannte Luther den Vulgatatext der Bibel fast auswendig, so legte er seiner Exegese die ursprachlichen Texte zugrunde. Seine Bibelauslegung zielte auf die Klarheit der Schrift, auf die der Glaube angewiesen ist. Sie suchte das, „was Christum treibet“, und hatte hierin einen kritischen Kanon. Was – wie vieles aus dem alttestamentlichen Gesetz – nicht auf Christus geht, ist nach Luther für den Christen ohne Belang.

Neben Luthers exegetischen Arbeiten sind die seines jüngeren Mitreformators Johannes Calvin (1509-1560; → Calvin) von bleibender Bedeutung; nicht nur wegen ihres theologischen Reichtums, sondern auch im Blick auf die prägnante und scharfsinnige Bemühung Calvins um die Erhebung des historischen Wortsinns. Seit 1540 hat Calvin eine lange Reihe biblischer Kommentare veröffentlicht, beginnend mit dem Commentarius in epistolam Pauli ad Romanos. Bei Calvin und bei den ihm folgenden reformierten Exegeten ist eine gegenüber dem Luthertum stärkere Berücksichtigung des Alten Testamentes und der jüdischen Exegese zu beobachten. Man kann das mit dem reformierten Bundesbegriff, in Verbindung bringen, dem „Lieblingsgegenstand der reformierten Theologie“ (Adalbert Merx), der in anderer Weise als Luther den Zusammenhang zwischen alttestamentlicher und neutestamentlicher Heilsgeschichte akzentuierte.

In Heidelberg und Basel, hier auch als Lehrer Calvins, hatte der durch seine Kosmographey (1550) berühmte Sebastian Münster (1488-1552) in diesem Sinne gewirkt (Edition des hebräischen Alten Testaments mit lateinischer Übersetzung, 1534/1535). Unter den Jüngeren, die dieses Erbe bewahrt haben, sind Johannes Mercer (Mercier; gestorben 1570), der als Professor der hebräischen Sprache in Paris wirkte und mehrere Bücher des Alten Testaments in Auseinandersetzung mit der christlichen wie der jüdischen exegetischen Tradition kommentierte, und der einflussreiche Immanuel Tremellius (1510-1580) zu nennen, ein vom Judentum zum Calvinismus konvertierter Italiener, der als alttestamentlicher Exeget, beschützt durch den Pfalzgrafen bei Rhein, den Kurfürsten Friedrich III. von der Pfalz, eben in jener Zeit in Heidelberg wirkte, da hier der Heidelberger Katechismus und die Kirchenordnung der Kurpfalz entstanden, und der 1575 bis 1579 zusammen mit seinem Schwiegersohn Franz Junius (1545-1602) eine verbreitete lateinische Übersetzung und Kommentierung des Alten Testaments vorlegte.

Im Luthertum trat die reformatorische Kraft und Freiheit, in der Luther theologisch-kritisch die Mitte der Heiligen Schrift erschloss, in einer mehr epigonalen Folgezeit zurück hinter einer philologia sacra, deren Arbeit auf einer strengen Inspirationslehre beruhte (vgl. Matthias Flacius [1520-1575]: Clavis Scripturae Sacrae, 1567). Den konfessionellen Streittheologen des ausgehenden 16. Jh.s war die Bibel ein Beweisbuch für die dogmatischen Lehren; die „dicta probantia“ waren Gegenstand leidenschaftlicher Polemik. Im übrigen war die Zeit der Orthodoxie wieder eine Periode großer Sammelgelehrsamkeit.

Die katholische Exegese wurde durch das Konzil von Trient (Sessio IV, 1546) auf die Verbindlichkeit der Vulgata und der Tradition verpflichtet. Die Zeit der Gegenreformation war auch auf katholischer Seite durch sammelnde Gelehrsamkeit gekennzeichnet, wie die Kommentare des in Rom lehrenden Cornelius a Lapide (1567-1637) zeigen oder wie etwa die achtbändige, den Bibeltext in fünf Sprachen bietende, Antwerpener Polyglotte (1568-1572) belegt, die Benito Arias Montanus (1527-1598) in den Jahren des niederländischen Freiheitskampfes für Philipp II. von Spanien herausgab. In ihrer kirchenamtlichen Bindung trat die Bedeutung der katholischen Exegese in den folgenden Jahrhunderten deutlich hinter der der protestantischen Bibelauslegung zurück. Erst im 20. Jh., besonders durch das II. Vatikanische Konzil (1962-1965; Konstitution Dei Verbum 1965) eröffnete sich den katholischen Exegeten die Freiheit, sich der Methode und den Erkenntnissen der historisch-kritisch arbeitenden protestantischen Bibelauslegung anzuschließen und sodann zu eigenständiger Arbeit zu gelangen.

7. Kritische Aufbrüche im 17. und frühen 18. Jh.

In der protestantischen Bibelauslegung führte das 17. Jh. wieder zu einer freieren Auffassung der Schriftautorität und zu fruchtbarerem Bibelstudium. Es öffnete einer Hermeneutik die Tore, die die biblischen Schriften historisch und philologisch nach den allgemeinen Maßgaben der Erschließung antiker Quellen zu traktieren unternahm. Unter den Vätern dieser Entwicklung sind besonders die reformierten Theologen Hugo Grotius (1583-1645; Annotationes ad Vetus et Novum Testamentum, 1644) und Johannes Clericus (1657-1736) zu nennen. Grotius hat in der Erklärung des Alten Testaments in so hohem Maße die jüdischen Exegese berücksichtigt, dass man ihn spottend „Grotius judaicans“ nannte. Clericus befürwortete in seiner Ars critica (1697) für die Bibel wie für die Profanliterartur die Anwendung der grammatisch-philologischen Methode; in diesem Sinne hat er zahlreiche Kommentare zum Alten Testament verfasst und ein kommentiertes Neues Testament (1703) herausgegeben.

Bemerkenswert ist, dass unter den Vätern der modernen Bibelauslegung auch der französische Oratorianer Richard Simon (1638-1712) zu nennen ist. Gegen das protestantische Schriftprinzip gewandt zeigte er in seinem Buch Histoire critique du Vieux Testament (1678) auf, dass Tradition nicht erst jenseits der Schrift beginnt und nicht mir ihr konkurriert, sondern dass das Alte Testament seinerseits bereits als das Ergebnis eines Traditionsprozesses zu verstehen ist. Trotz dieser spezifisch katholischen Zielsetzung musste Simon die mit dieser Sicht verbundenen kritischen Einsichten mit dem Ausschluss aus seinem Orden bezahlen.

Wichtiger noch waren die Anstöße, die der Exegese aus der Religionskritik eines jüdischen Emigranten erwuchsen, nämlich aus dem von Baruch de Spinoza (1632-1677) anonym veröffentlichten Tractatus theologico-politicus (Hamburg, 1670). Das Buch enthält eine Fülle kritischer Einsichten und Hypothesen, die zum teil ihre Vorgeschichte in der früheren jüdischen Exegese, besonders in den von Maimonides vertretenen Auffassungen haben. So fand Spinoza für die Wunder natürliche Erklärungen, verstand die prophetische Offenbarung aus der Einbildungskraft begabter Beobachter der Zeit heraus und leitet die kanonische Gestalt der erzählenden Bücher des Alten Testaments aus einer nachexilischen Redaktion durch Esra her. Die Wirkung seines Werks blieb zunächst unter kirchlichem Druck weithin apokryph.

Der vom lutherischen Pietismus her kommende, Philipp Jakob Spener nahestehende Hermann von der Hardt (1660-1746) besaß die Freiheit, sich von Spinoza anregen zu lassen und veröffentlichte eine Reihe von historisch-kritischen Schriftauslegungen, die – zum Beispiel bei der Kommentierung der prophetischen Schriften – exegetische Erkenntnisse einer sehr viel späteren Zeit vorwegnahmen; er verlor deshalb in Helmstedt das Recht zu theologischen Vorlesungen und war schließlich nur noch – als ein früher Vorgänger Lessings – als herzoglicher Bibliothekar tätig.

Auch sonst konnte sich aus dem Pietismus ein besonderes exegetisches Engagement ergeben. So hat der Pietismus des 17. und 18. Jh.s mit den Arbeiten von Philipp Jakob Spener (1635-1705), August Hermann Francke (1663-1727), Johann Heinrich Michaelis, (1668-1738) und Johann Albrecht Bengel (1687-1752), der neu aufblühenden (auch textkritischen) Erschließung der alt- und neutestamentlichen Überlieferungen wesentliche Dienste erwiesen. Johann Heinrich Michaelis verdankte die Theologie eine kritische Ausgabe des Alten Testaments (Biblia Hebraica, 1720) und Johann Albrecht Bengel den Gnomon Novi Testamenti (1742), eine streng philologische Auslegung des Neuen Testaments.

8. Kritische Exegese im Zeitalter der Aufklärung

Eine andere Quelle kritischen Bibelstudiums war die Anwendung allgemeiner Vernunfteinsichten auf den Umgang mit der Heiligen Schrift, die zunächst vom englischen Deismus und dann in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung geübt wurde. Als einen namhaften Vertreter aufgeklärter Bibelkritik nennen wir den Hamburger Gymnasialprofessor Hermann Samuel Reimarus (1694-1768; → Reimarus), der es nicht wagen konnte, die kritischen Gedanken seiner Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes der Öffentlichkeit zu übergeben. Sein Werk wurde erst postum durch die 1774 anonym von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) veröffentlichten Fragmente (als ganzes wurde die Arbeit erst 1972 gedruckt) bekannt. Lessings Kommentierungen und seine Auseinandersetzung über die Fragmente mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze (1717-1786) wiesen bereits über Reimarus’ Rationalismus hinaus und bereiteten trotz des „garstigen breiten Grabens“ zwischen „zufälligen Geschichtswahrheiten“ und „notwendigen Vernunftwahrheiten“ in der in diesem Zusammenhang entstandenen Schrift Erziehung des Menschengeschlechts (1777/1780) einem geschichtlichen Verstehen der biblischen Urkunden den Weg. Ihre freie, von den dogmatischen Vorgaben „der alten kirchlichen Geographie“ unabhängige Behandlung der biblischen Überlieferungen forderte und begründete Johann Salomo Semler (1725-1791) in seiner Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771-1775). Indem er wie bereits Luther zwischen Wort Gottes und Heiliger Schrift unterscheidet, gibt er diese der geschichtlichen Erforschung ihrer Entstehung und der mit ihr verbundenen Zufälligkeiten frei.

9. Geschichtliches Verstehen der Heiligen Schrift in der Goethezeit

Hatte Immanuel Kant (1724-1804) den Sinn der biblischen Schriften allein darin suchen wollen, dass sie als bloß partikulare, statuarische Vehikel dem reinen, moralischen Vernunftglauben dienen könnten (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793), so lenkten besonders Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Johann Gottfried Eichhorn (Einleitung in das Alte Testament, zuerst 1780-1783; → Eichhorn) das Verstehen des Alten Testaments ganz auf die Bahn des neuen, geschichtlichen Verstehens. Angeregt von dem anglikanischen Theologen Robert Lowth (1710-1787; → Lowth) und von Johann Georg Hamann (1730-1788) lehrte Herder, befreit von dogmatischen Postulaten, namentlich denen der Inspirationstheorie, und auch befreit von dem Dogmatismus des Rationalismus, das Alte Testament als Sammlung menschlicher Urkunden des Altertums zu lesen (Vom Geist der Ebräischen Poesie, 1782). Es galt, so fand er, geniale Dichter zu verstehen und sich in die Kindheitsgeschichte der Menschheit zurückzuversetzen, den Geist und die Poesie der Morgenländer zu in sich aufzunehmen, um den humanen Gehalt ihrer Urkunden zu erschließen. Eichhorn wandte das neue Paradigma bei der Erklärung der prophetischen Bücher oder etwa auf dem Felde der Pentateuchforschung an. War schon lange nach einer Erklärung für Unstimmigkeiten innerhalb des Pentateuchs, für historische Unmöglichkeiten, für das Nebeneinander von Parallelerzählungen und das Nebeneinander der Gottesnamen Elohim und Jahwe gesucht worden und hatten im 18. Jh. der Hildesheimer Henning Bernhard Witter (1683-1715; Jura Israelitarum, 1711) und der französische Arzt Jean Astruc (1684-1766; Conjectures sur les memoires originaux, 1753; → Astruc) die Annahme einer Komposition des Pentateuchs aus zwei ursprünglich selbstständigen Quellen empfohlen, so konnte Eichhorn nun dieser Theorie eine klassische Gestalt geben.

Das 19. Jh. ist durch die Durchsetzung der historisch-kritischen Exegese gekennzeichnet. Die Pentateuchforschung blieb das klassische Feld der alttestamentlichen Wissenschaft. Es galt, die literarische und vorliterarische Entstehung des mächtigen Überlieferungskomplexes genauer zu beleuchten und ihren Zusammenhang mit der Geschichte Israels zu verstehen. Die moderne historische und literarische Kritik ist vor allem durch Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780-1849; → de Wette) eröffnet worden (Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament, 1806/1807). Negativ-kritisch kam de Wette zu dem umstürzenden und viele erschreckenden Ergebnis, dass der Historiker auf das Alte Testament in seiner überlieferten Gestalt als Geschichtsquelle weithin Verzicht tun müsse; so wies er nach, dass die Chronik, die das vorexilische Israel vom pentateuchischen Gesetz her versteht, als Geschichtsschreibung wertlos ist. Positiv-kritisch ordnete er das → Deuteronomium als jüngstes Dokument im Pentateuch dem Bundesschluss des → Josia (2Kön 22) zu und schuf damit das Fundament für ein neues Bild der Geschichte Israels und für eine Datierung seiner Überlieferungen. Die historisch-kritische Destruktion bedeutete übrigens für de Wette als Sache des Verstandes nicht die Zerstörung des Religiösen, dieses fand er vielmehr mit dem Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773-1843) in der „Ahndung“ des Übersinnlichen im Gefühl und in der Vernunft beheimatet.

Auch die neutestamentliche Forschung hat, gegenüber der alttestamentlichen ein wenig zeitversetzt, im 19. Jh. Umstürzendes und für die weitere exegetische Arbeit Grundlegendes geleistet. Aus der ersten Hälfte des 19. Jh.s sind vor allem die beiden Hegel-Schüler Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß zu nennen. Ferdinand Christian Baur (1792-1860; → Baur), der Begründer der „Tübinger Schule“, entwarf mit seiner historisch-kritischen Frage nach den Tendenzen der altkirchlichen Überlieferungen das Bild eines aus entgegengesetzten Gruppen erwachsenen Urchristentums (Die Christuspartei in der Korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des Petrinischen und Paulinischen Christentums in der ältesten Kirche, der Apostel Petrus in Rom). Hatte Baur seine Erkenntnisse namentlich aus der Analyse der Apostelgeschichte und der Paulusbriefe gewonnen, so galt die historisch-kritische Aufmerksamkeit seines Schülers David Friedrich Strauß (1808-1874; → Strauß) besonders den Evangelien. Rationalistische und konservative Argumentationen gegeneinander ausspielend erklärte er den größten Teil des evangelischen Stoffes für „mythisch“ (Leben Jesu, 1834/1835). Während sein Hinweis, es könne auf der spekulativen Ebene auf die bloßen „Formen“ zugunsten des „Begriffs“ verzichtet werden, kaum Widerhall fand, wirkten seine antidogmatische Skepsis und seine radikale Kritik befruchtend auf die exegetische Arbeit der Folgezeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jh.s hat die Analyse der Synoptiker schließlich zur Entwicklung der Zwei-Quellen-Theorie (die synoptischen Evangelien haben ihre Grundlage in einem vormarkinischen Evangelium und einer Sammlung von Jesusworten, Logien) geführt, die sich bei Unterschieden in der Ausformulierung bleibende Gültigkeit erlangt hat.

10. Historisch-kritische Bibelexegese in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s

Auf alttestamentlichem Gebiet zeichnete in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s Julius Wellhausen (1844-1918; → Wellhausen) – de Wette fortführend und anknüpfend an den von Hegels Geschichtsphilosophie inspirierten Wilhelm Vatke (1806-1882) sowie an Karl Heinrich Graf (1815-1869; „Grafsche Hypothese“: lex post prophetas) und Abraham Kuenen (1828-1891) – aufgrund literarkritischer Analysen, insbesondere durch die Einsicht in die späte Abfassung der Priesterschrift, ein völlig neues, für die Folgezeit grundlegendes Bild der Geschichte Israels und seiner religionsgeschichtlichen Entwicklung. Schon J. W. v. Goethe hatte bei der Lektüre des Pentateuch notiert (Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan, 1819), der Faden der Geschichte Israels erscheine auf einmal empfindlich gestört: Mitten in der Erzählung komme ein riesiger Komplex von Gesetzen, Geboten und Vorschriften – wie ein Block, der die Geschichte hindere, erst danach gehe die Erzählung der Geschichte weiter. Das Universale unterbreche das Partikulare. Nun konnte Wellhausen in größerem Zusammenhang dartun, dass im ganzen das Gesetz jünger ist als die Propheten und die Psalmen jünger als beide, dass also der Pentateuch und mit ihm die Geschichte Israels ganz anders zu lesen ist, als es die kirchliche Lehre bisher getan hatte (Die Composition des Hexateuchs, 1876/77; Geschichte Israels I, 1878). Wellhausens Weggefährte Bernhard Duhm (1847-1928; → Duhm) wandte sich besonders der Interpretation der Propheten zu (Theologie der Propheten, 1875) und verstand sie ohne die Voraussetzung des mosaischen Gesetzes und unter Aufweis des Irrationalen in ihrem Erleben als schöpferische religiös-sittliche Persönlichkeiten. Seine Herauslösung der Gottesknechtslieder aus → Deuterojesaja sowie die Abtrennung von Jesaja 56-66 als → Tritojesaja sind für die Wissenschaft von bleibender Bedeutung.

Der Siegeszug der historisch-kritischen Exegese war im 19. Jh. einerseits gar nicht aufzuhalten, auf der anderen Seite war er mit schweren Kämpfen und persönlichen Opfern verbunden. Strauß’ Leben Jesu beispielsweise hatte nicht nur literarische Turbulenzen ausgelöst, sondern auch dazu geführt, dass dem hochbegabten Autor ein akademisches Amt verschlossen war.

Viele exegetische Lehrstühle waren von konservativen Theologen besetzt, die den besonderen Charakter der Heiligen Schrift auf dem Felde historischer Glaubwürdigkeit verteidigen zu müssen glaubten. Als erbitterter Kämpfer gegen jede Erweichung der Autorität der Heiligen Schrift und damit gegen jeden Zweifel an der Authentizität auch ihrer historischen Nachrichten ist der Herausgeber der Evangelischen Kirchenzeitung Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1869) zu nennen (Christologie des Alten Testaments und Commentar über die Messianischen Weissagungen, 3 Bände, 1829-1835). Grundgelehrte Exegeten wie Johann Heinrich Kurtz (1809-1890) oder Franz Delitzsch (1813-1890) standen ihm prinzipiell nicht fern, öffneten sich aber in ihren Bibelkommentaren und Einzelstudien zögernd den kritischen Einsichten und steuerten auch zur hermeneutischen Debatte Bedenkenswertes bei.

Das Jahrhundert endet mit den weitreichenden Einsichten und Protesten des Nietzsche-Freundes Franz Overbeck und der Vermittlungstheologie Adolf von Harnacks. Franz Overbeck (1837-1905) kam nicht zuletzt aufgrund formgeschichtlicher Beobachtungen (Über die Anfänge der patristischen Literatur, zuerst 1882, mit dem Programm der Formgeschichte: „Ihre Geschichte hat eine Literatur in ihren Formen“) an der „Urliteratur“ zu der Auffassung eines völligen Bruches zwischen dem Urchristentum und der ihm sich anschließenden Kirchengeschichte. Lukas habe mit seiner Verbindung von „Urgeschichte“ und Geschichte etwas Unmögliches getan, von dem aber das weitere Christentum gelebt habe. Der „garstige breite Graben“ zwischen Bibel und Gegenwart war erneut aufgerissen. Overbecks wie dieser historisch-kritisch arbeitende Fachkollege Adolf von Harnack (1851-1930) meinte gleichwohl, den Abstand zwischen Neuem Testament und Gegenwart mit der Unterscheidung des Kerns der neutestamentlichen Botschaft (Jesus „verkündete den lebendigen Gott und den Adel der Seele“; das Evangelium ist „Gotteskindschaft, ausgedehnt über das ganze Leben“) von der zeitgebundenen bloß historischen Schale (zur Schale gehöre auch „die ganze jüdische Bedingtheit der Predigt Jesu“) überwinden zu können (Das Wesen des Christentums, 1900).

11. Formgeschichte und Redaktionsgeschichte im 20. Jh.

An der Schwelle zum 20. Jh. hat auf alttestamentlichem Gebiet Hermann Gunkel (1862-1932; → Gunkel) in der Anwendung form- bzw. gattungsgeschichtlicher Erkenntnisse (Frage nach dem „Sitz im Leben“ der kleinsten mündlichen Einheiten) ein völlig neues Verstehen der Sagen und Sagenkränze der Genesis (Genesis übersetzt und erklärt, 1901) und der Psalmen (Die Psalmen übersetzt und erklärt, 1926; Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Israels, 1. Hälfte 1927; zu Ende geführt von J. Begrich, 1933) ermöglicht.

Im Neuen Testament hat die Rückfrage nach der mündlichen Vorgeschichte der Evangelien in den Arbeiten von Martin Dibelius (1883-1947; Formgeschichte des Evangeliums, 1919) und Rudolf Bultmann (1884-1976; Die Geschichte der synoptischen Tradition, 1921) die Fruchtbarkeit der formgeschichtlichen Methode sichtbar gemacht. In der Pentateuchforschung hat Martin Noth (1902-1968; → Noth) die formgeschichtliche Methode in Anknüpfung an Gerhard von Rad (1901-1971; → von Rad) durch die Einbeziehung der größeren mündlichen Überlieferungskomplexe so erweitert, dass sich der Wachstumsprozess der Erzählungen bzw. Themen von der Keimzelle bis unmittelbar an die Redaktion durch die schriftlichen Pentateuchquellen heran verfolgen lassen sollte (Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, 1948).

Im Alten wie im Neuen Testament hat das weitere 20. Jh. eine immer differenziertere Scheidung (etwa im → deuteronomistischen Geschichtswerk) und historische Lokalisierung der Quellen und der in ihnen bewahrten Überlieferungen erbracht sowie die Erschließung der sich in der Redaktion des überkommenden Materials (Redaktionsgeschichte) spiegelnden theologischen Konzeptionen der biblischen Autoren. Die Umwelt des Alten und des Neuen Testaments ist religionsgeschichtlich weiter erforscht worden, und zum Verständnis der „Jesusbewegung“ sind soziologische Kategorien bemüht worden (Gerd Theißen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehung des Urchristentums, 1977).

12. Theologische Bibelauslegung im 20. Jh.

Bei unverkürzter historischer Kritik hat Rudolf Bultmann mit ihr eine „existentiale Interpretation“ des überlieferten Kerygmas (s. Das Evangelium des Johannes, 1941) als von diesem gefordert zu erweisen versucht. Spreche das Neue Testament mythologisch von dem Heilsgeschehen in Jesus Christus, so sei diese Rede ein Ausdruck der „Bedeutsamkeit“ des historischen Ereignisses, das „eine neue geschichtliche Situation“ geschaffen habe (Neues Testament und Mythologie, 1941). In diesem Sinne hat Gerhard Ebeling (1912-2001) als ein bedeutendes Ergebnis gerade der zunächst „als ein auflösendes Moment in der Theologie“ empfundenen historisch-kritischen Forschung „die Hinwendung zur Geschichtlichkeit der Offenbarung in Jesus Christus“ bezeichnet und die theologische Bedeutung der Auslegungsgeschichte darin gesehen, dass sie „die Geschichte der Gegenwärtigkeit des unter Pontius Pilatus gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus“ sei (Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift, 1947).

Im Alten Testament hat Gerhard von Rad (→ von Rad) die Nacherzählung der biblischen Überlieferungen als „die legitimste Form theologischen Redens“ bezeichnet und praktiziert (Theologie des Alten Testaments, 2 Bände, 1957/1960). Ob damit wirklich der Brückenschlag zwischen Exegese und Theologie gelingen kann, musste gefragt werden. Rudolf Smend ebnet über von Rad hinausgehend der christlichen Rede vom Alten Testament dadurch den Weg, dass er den Bund zwischen Jahwe und Israel als Mitte des Alten Testaments versteht, die der Mitte des Neuen Testaments als der Erfüllung des Bundes in Jesus Christus entspricht (Die Mitte des Alten Testaments, 1970).

In seinem theologischen Aufbruch nach dem 1. Weltkrieg hatte Karl Barth (1886-1968) der historisch-kritischen Methode eine nicht überflüssige, aber doch nur vorbereitende Bedeutung für die notwendige theologischen Exegese zugebilligt (Der Römerbrief, 1919), sich wenige Jahre danach im übrigen aber ausdrücklich gegenüber Harnack in einem berühmten Briefwechsel (Ein Briefwechsel mit Adolf von Harnack, in: K. Barth: Theologische Fragen und Antworten, 1957) gegen den Vorwurf der Verachtung der Wissenschaft verteidigt. Bei den exegetischen Fachleuten hat Barth viel Kritik erfahren, doch hat man sich auch gefragt, ob man seine Exegese nicht als eine „nachkritische Schriftauslegung“ verstehen könne (R. Smend, 1966).

Heute wird wieder die Frage nach den Grenzen der historisch-kritisch arbeitenden Exegese gestellt (→ christliche Bibelauslegung). Sie wird als steril empfunden, und es kann ein gewisser Unwillen gegenüber ihren Ergebnissen beobachtet werden. Ergänzend zur historisch-kritischen Exegese oder auch im Widerspruch zu ihrer Methode werden gegenwärtig neue Aspekte geltend gemacht. So ist der „diachronen“ Quellenscheidung der literarkritischen Exegese ein „synchrones“ Verfahren entgegengesetzt worden, das als „Canonical Approach“ der kanonischen Endgestalt der Überlieferung normative Bedeutung beimisst (s. besonders Brevard S. Childs, Introduction to the Old Testament as Scripture, 1979). In der Ökumene kann eine fundamentalistisch anmutende Rückwendung zu den konservativen Exegeten des 19. Jh.s begegnen. Und verschiedenen Orts wird der historisch-kritischen Bibelauslegung eine in verschiedenen Richtungen „engagierte“ Exegese entgegengestellt. Der Betrachter der Geschichte der christlichen Bibelauslegung hat aus reicher Anschauung Verständnis für das Nebeneinander von wissenschaftlicher Analyse und persönlichem Bekenntnis, das bisher nicht abschließend reflektiert ist. Aber er weiß auch, dass die Glanzzeiten der Exegese stets mit einem Fortschritt in der Erklärung des sensus litteralis verbunden waren.

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