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Behinderung (AT)

(erstellt: Juni 2008)

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Als Behinderung wird die dauerhafte Einschränkung von Funktionen des menschlichen Körpers oder der menschlichen Psyche bezeichnet. Behinderungen können angeboren (congenital) oder erworben sein.

1. Sprachliche Bezeichnungen für Behinderungen im Biblischen Hebräisch

Die Hebräische Bibel nennt als Behinderte insbesondere den Blinden (עור ‘iwwer), den Lahmen (פסח pisseach), den Stummen (אלם ’illem) und den Tauben (חרשׁ chereš). Eine differenziertere medizinische Terminologie körperlicher Behinderungen scheint mindestens teilweise existiert zu haben (siehe insbesondere Lev 21,20), ist aber nur rudimentär belegt und lässt sich daher nicht mit exakten Diagnosen verbinden. Dtn 28,28 setzt geistige Behinderungen (שׁגעון šiggā‘ôn „Wahnsinn“, תמהון לבב timhôn levāv „Sinnesverwirrung“) mit körperlichen gleich. Sprachlich ist augenfällig, dass die Bezeichnungen für körperliche Behinderungen der Wortbildungsform qittel folgen. Diese morphologische Gemeinsamkeit belegt die Existenz einer konzeptuellen Kategorie „körperliche Behinderung“ im Biblischen Hebräisch.

Euphemistische Ausdrücke für Behinderungen wie insbesondere סנורים sanwerîm „Blindheit“ (eigentlich „Erhellung“) dürften zeigen, dass Behinderungen mindestens teilweise mit einem Sprachtabu belegt gewesen sind (→ Euphemismus). Andererseits wurden Behinderungsbezeichnungen im Biblischen Hebräisch auch polemisch (2Sam 5,6; Jes 33,23; Spr 26,7) oder in beleidigender Absicht (1Kön 18,26; Jes 56,10) instrumentalisiert (→ Schimpfwort). In dem Personennamen Paseach („Lahmer“) spiegelt sich die markante Körperbehinderung als Basis eines Spitznamens (Esr 2,49; Neh 3,6; Neh 7,51; 1Chr 4,12). Nicht selten werden Behinderungsbezeichnungen zudem metaphorisch gebraucht (z.B. Jes 42,18; Jes 43,8; Jes 56,10; Zef 1,17).

Unter den Behinderungen werden Blindheit und Lähmung im Alten Testament mit Abstand am häufigsten genannt, was der tatsächlichen Verbreitung dieser Behinderungsarten im Alten Israel und, nach Ausweis der textlichen und archäologischen Zeugnisse aus Mesopotamien und Altägypten, darüber hinaus im gesamten Alten Orient entsprechen dürfte. Als Bezeichnungen exemplarischer Behinderungen erscheinen „blind“ und „lahm“ häufig als Parallelausdrücke (Lev 21,18; 2Sam 5,6.8; Hi 29,15; Jer 31,8; vgl. auch Dtn 15,21; Mal 1,8). Daneben werden „stumm“, „taub“ und „blind“ (Ex 4,11) als Kommunikationsbehinderungen sowie „taub“ und „blind“ als rezeptive Behinderungen (Lev 19,14; Jes 6,10; Jes 29,18; Jes 35,5) parallelisiert. Jes 35,5f stellt alle vier genannten Arten körperlicher Behinderungen unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt individueller Leiden zusammen, deren Beseitigung für die Endzeit angekündigt wird.

2. Der alttestamentliche Begriff von Behinderungen

Behinderungen werden in der Hebräischen Bibel im Allgemeinen als Mangel gesehen, indem Behinderte als a) sozial abhängig, b) vermindert kultfähig sowie als c) die kulturell gesetzten hygienischen, ästhetischen und maskulinen Normen nicht erfüllend bezeichnet werden:

a) Der Behinderte ist sozial und ökonomisch abhängig (Tob 2,11 [nicht in Lutherbibel]), denn wie Schwangere und Gebärende kann er sich nur in einem sehr beschränkten Maße selbst helfen (Jer 31,8); er wird mit → Armen, → Witwen und Waisen auf eine Stufe gestellt, insofern er der Unterstützung der Gesellschaft bedarf (Hi 29,12-16; ParJer 36-38).

b) Dass Behinderten eine verminderte Kultfähigkeit zugeschrieben wurde, geht insbesondere aus Lev 21,17-23 hervor, wonach behinderte Priester nicht zum Tempeldienst zugelassen sind, wenngleich sie nach Lev 21,22 vom Heiligen essen dürfen und folglich weder ihre priesterlichen Privilegien verloren noch als unrein betrachtet wurden (vgl. Lev 22,6f). Mit der eingeschränkten Kultfähigkeit Behinderter zusammenhängen dürfte auch die in 2Sam 5,8 bezeugte volkstümliche Ätiologie einer Tradition, nach der Blinde und Lahme den Jerusalemer Tempel nicht betreten durften (so jedenfalls verdeutlichend in der Septuaginta, während das Verständnis dieser Stelle im masoretischen Text Fragen offen lässt).

In den Schriften aus der Judäischen Wüste (→ Qumran) erscheinen diesbezügliche Bestimmungen in verschärfter Form: Die Tempelrolle betrachtet Blinde als unrein und verbietet ihnen daher nicht nur das Betreten des Tempels, sondern der gesamten „Stadt des Heiligtums“, um Letztere vor Verunreinigung zu schützen (11Q19 45,12-14). Nach der Kriegsrolle dürfen Hinkende, Blinde und Gelähmte das endzeitliche Heerlager nicht betreten (1QM VII,4f), und die Gemeinderegel schließt Lahme, Blinde, Taube und Stumme von Versammlungen des eschatologischen Israel aus (1QSa II,3-11). Dass die Frage der kultischen Reinheit Behinderter in der hellenistisch-römischen Zeit umstritten blieb, zeigt indes die halachische Abhandlung 4QMMT: Blinde und Taube sind hier nicht wegen des Verdachts der Unreinheit als aktive Kultfunktionäre nicht zugelassen, sondern weil sie den Kultvollzug nicht sehen bzw. die Kultbestimmungen nicht hören und mithin nicht in der Lage seien, ordnungsgemäß zu praktizieren.

c) Lev 21,18 begründet die eingeschränkte Kultfähigkeit mit der Feststellung von Subnormalität: Behinderungen werden als „Fehler“ (מום mûm) eingestuft und mit Missbildungen gleichgesetzt. Wegen ihrer körperlichen Nachteile waren Behinderte als Krieger disqualifiziert (2Sam 5,6; Jes 33,23; vgl. aber den Ausschluss aus dem Heerlager des Endzeitkampfes mit kultischer Begründung in 1QM VII,4f) und entsprachen mithin nicht dem herrschenden Männlichkeitsideal.

3. Schutz Behinderter

Lev 19,14 und Dtn 27,18 bezeugen rechtliche Regelungen, mit denen Behinderte vor willkürlicher Gewalt geschützt werden sollten; Spr 31,8 formuliert dasselbe Anliegen als ethisches Postulat. In Hi 29,15 wird die Hilfe für Behinderte als Wohltat bezeichnet, was allerdings impliziert, dass Behinderte solcher freiwillig und individuell geleisteten Hilfe bedurften, weil eine sozial getragene Fürsorge nicht existierte. Dass Behinderte tatsächlich unter gewalttätiger Willkür litten, setzt Dtn 28,29 voraus.

4. Erwerb und Heilung von Behinderungen

Während ein ausdrücklicher Beleg für eine kongenitale Behinderung im Alten Testament fehlt (siehe demgegenüber aber die neutestamentliche Erzählung vom Blindgeborenen in Joh 9), werden Behinderungen mehrfach als erworben bezeichnet. So lahmte Sauls Enkel Mefiboschet (→ Merib-Baal) nach 2Sam 4,4 an beiden Beinen, seit er fünf Jahre alt war, weil ihn seine Amme hatte fallen lassen. Erblindung im Alter wird durch Gen 27,1 (→ Isaak), 1Sam 3,2; 1Sam 4,15 (→ Eli) und 1Kön 14,4 (→ Ahija) bezeugt. → Tobit erblindete, nachdem Taubenkot in seine Augen geriet (Tob 2,10; Lutherbibel: Tob 2,11), und wird durch Fischgalle wieder geheilt (Tob 11,11; Lutherbibel: Tob 11,13). In Ri 16,21 (→ Simson) und 2Kön 25,7 (→ Zedekia) ist von der auch in Abbildungen aus → Mesopotamien und → Ugarit belegten Blendung als gewalttätiger Zerstörung des Augenlichts die Rede. Nach Ex 4,11 sind Behinderungen zwar durch Gott bestimmt, jedoch nicht zwangläufig die Folge einer von Gott verhängten Strafe, als welche sie besonders im Fluchkontext von Dtn 28,28 erscheinen (vgl. auch Joh 9,2f). Für die kommende Heilszeit versprechen Jes 29,16; Jes 35,5f; Jer 31,8 und Mi 4,6f Behinderten die Befreiung von ihrem Leiden.

5. Behinderte Charaktere in der alttestamentlichen Literatur

Neben den genannten sprachlichen, medizinischen, juristischen und sozialgeschichtlichen Aspekten kommt der Darstellung von Behinderungen in einigen Texten des Alten Testaments eine bedeutende literarische Funktion zu. So setzt die Erzählung, wie → Jakob den Erstgeburtssegen seines Vaters → Isaak erlangte (Gen 27), die Blindheit des Letzteren voraus. Im Falle von Sauls Enkel Mefiboschet (→ Merib-Baal) ist der wiederholte Verweis auf dessen Lähmung beider Beine (2Sam 4,4; 2Sam 9,3.13; 2Sam 19,27) nach Schipper eine der literarischen Strategien, mit denen der auf Kosten des Hauses Sauls gehende Aufstieg Davids begründet, legitimiert und problematisiert wird. Das Tobitbuch variiert das Motiv des leidenden Gerechten und pointiert es neu, indem es Tobits Erblindung und schließliche Heilung mit der Einsicht in die göttliche Vorsehung konfrontiert.

6. Archäologische Evidenz

Insbesondere altägyptische Zeugnisse bezeugen bildliche Darstellungen verschiedener Arten von körperlichen Behinderungen, zudem ließen sich an Mumien verschiedene Arten von Verkrüppelungen nachweisen. Entsprechende archäologische Funde aus dem unmittelbaren Umfeld des Alten Israel sind demgegenüber bislang rar. Auf Hilfsmittel, welche die Folgen von Behinderungen nach Möglichkeit mildern sollten, weist aber ein Fund aus dem Nahal Hever bei → En-Gedi: In einer Höhle fanden sich hier unter den materiellen Hinterlassenschaften der jüdischen Witwe Babatha Sandalen, die eine Fußdeformierung korrigieren sollten (frühes 2. Jh. n. Chr.).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950ff. (Art. Krankenfürsorge)
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007 (Art. Behinderte Menschen)

2. Weitere Literatur

  • Avalos, H. / Melcher, S.J. / Schipper, J. (Hgg.), 2007, This Abled Body: Rethinking Disabilities in Biblical Studies (Semeia Studies 55), Atlanta
  • Olyan, S.M., 2008, Disability in the Hebrew Bible: interpreting mental and physical differences, Cambridge u.a.
  • Schipper, J., 2006, Disability studies and the Hebrew Bible: figuring Mephibosheth in the David story (Library of Hebrew Bible / Old Testament studies; 441), New York / London

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