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Baum der Erkenntnis / Baum des Lebens

(erstellt: März 2015)

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Baum der Erkenntnis 1
Nach Gen 2-3 haben Adam und Eva im Paradies eine Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen, nicht jedoch vom Baum des Lebens, den Gott den Menschen für immer unzugänglich gemacht hat. Die Erzählung, die eine Fülle von → Ätiologien bietet, will damit erklären, wie es kommt, dass die Menschen die Erkenntnis von Gut und Böse haben, aber nicht das ewige Leben.

1. Terminologie und alttestamentlicher Befund

Einen „Baum der Erkenntnis“ (עֵץ הַדַּעַת ‘eṣ hadda‘at), immer ergänzt durch „von Gut und Böse“ (טוֹב וָרָע ṭôv wārā‘), kennt die Bibel nur in Gen 2,9.17. In dessen unmittelbaren Kontext, nämlich „in der Mitte des Gartens“, taucht nach Gen 2,9 und Gen 3,22.24 auch ein „Baum des Lebens“ (עֵץ הַחַיִּים ‘eṣ haḥajjîm) auf. Von einem „Baum von Leben“ (immer indeterminiert עֵץ חַיִּים ‘eṣ ḥajjîm) ist außerdem mehrfach im → Sprüchebuch die Rede. Ein solcher Baum wächst nach Spr 3,18 mit dem Ergreifen von Weisheit, nach Spr 11,30 mit praktizierter Gerechtigkeit, nach Spr 13,12 – ganz psychologisch – mit der Erfüllung lang gehegter Wünsche, nach Spr 15,4 mit der Zurückhaltung und Mäßigung beim Reden („sanfte“ bzw. „linde Zunge“). Die biblischen Sprichwörter setzen eine ältere mythische Bezeichnung offenkundig bildlich-metaphorisch um: Sie wollen die Lebensförderlichkeit derartiger Tugenden und Haltungen für den Einzelnen wie die Gemeinschaft unterstreichen. Zugleich zeigen neben Gen 2-3 auch die Proverbien, dass biblisch zwischen (gutem) Leben und Weisheit bzw. Erkenntnis enge Beziehungen bestehen.

Bezogen auf die biblische Urgeschichte in Gen 2-3 präsentiert die Frau nach den Bäumen von Erkenntnis und Leben jedoch nur einen „Baum in der Mitte des Gartens“ (Gen 3,3). Da die ersten Menschen mit dem Genuss der Frucht dieses Baumes in der Mitte des Gartens Erkenntnis und gerade nicht (ewiges) Leben erlangen, handelt es sich nach Gen 3 beim Baum in der Mitte des Gartens offensichtlich um den Erkenntnisbaum. Die Früchte dieses Baumes werden übrigens entgegen späteren Traditionsbildungen (z.B. → Feige, → Granatapfel oder → Apfel aufgrund der Doppeldeutigkeit von lat. malum „Böses / Apfel“) nicht spezifiziert. Nach dem fruchtigen Genuss werden die ersten Menschen aus dem Garten (Eden) weggeschickt bzw. vertrieben, damit sie nicht auch noch nach der Frucht des Baumes des Lebens greifen (Gen 3,22-24). Wo dieser Baum im Garten Eden steht, wird in Gen 3 nicht näher festgelegt. Die Formulierung von Gen 2,9 legt jedoch nahe, dass auf jeden Fall auch dieser Baum in der Mitte des Gartens steht. Deshalb ist die Bestimmung des Verhältnisses dieser zwei bzw. ggf. drei Bäume notorisch schwierig und hat zu vielfältigen Hypothesen in der alttestamentlichen Exegese geführt.

2. Mythologischer Hintergrund

2.1. Baum der Erkenntnis

Die sprachliche Komplexität des Ausdrucks wie auch die Verteilung der Belege zeigen, dass der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ nicht auf einer älteren, vielleicht außerbiblischen Tradition beruht, sondern aus der Erzählung heraus entwickelt ist (so z.B. Witte 81). Entsprechend gibt es für einen Erkenntnisbaum auch keine wirklich überzeugenden altorientalischen Parallelen. Traditionsgeschichtlich gesehen ist – gottgleich machende (Gen 3,5.22) – Erkenntnisfähigkeit im Alten Orient ohnehin eher auf der Seite von Königen zu verorten.

2.2. Baum des Lebens

Baum der Erkenntnis 2
Der Lebensbaum taucht altorientalisch in verschiedenen Varianten auf, wenn auch nicht direkt unter der expliziten Terminologie „Lebensbaum“. Einerseits – unter der Leitidee „Baum“ – ist er eng verwandt mit dem altorientalischen → Weltenbaum, der auch in Ez 29,11-19; Ez 31,2-12 und im aramäischen Text von Dan 4 greifbar ist, bzw. mit den diversen Heiligen Bäumen, die biblisch und außerbiblisch vielfach bezeugt sind, auch bewacht von → Keruben, also geflügelten Löwen mit Menschenköpfen (vgl. Gen 3,22-24).

Andererseits finden sich unter der Leitidee „Leben“ seit frühester Zeit altorientalische Texte, die vermisstes bzw. ersehntes „Leben / ewiges Leben“ thematisieren. Ganz besonders intensiv tut dies das → Gilgameschepos, und zwar unter dem Stichwort „Kraut des Lebens“, übrigens auch verbunden mit dem Thema → „Schlange“.

Man vgl. dazu die Gilgamesch-Sage nach dem 12-Tafel-Epos. Zum Kontext: Zur Erlangung ewigen Lebens ist der Held Gilgamesch an verschiedenen Prüfungen gescheitert. Was Gilgamesch durch das Beste­hen von Prüfungen nicht zu erlangen vermochte, bekommt er dann ganz unvermittelt angeboten und verpasst es tragisch: Utnapischtim, der Sintflutmensch mit dem ewigen Leben, hat Erbarmen und tut Gilgamesch das Geheimnis des Lebenskrautes kund.

Als Gilgamesch dies hörte, / öffnete er einen [großen] Gr[aben], / band schwere Steine [an seine Füße], / die zogen ihn auf [den Grund des] Apsu hinab. / Er nahm das Kraut, obwohl es [ihm in die Hand] st[ach], / schnitt die schweren Steine [von seinen Füßen], / (und) die Flut trieb ihn ans Ufer. / Gilgamesch sprach zu ihm, zu Urschanabi, dem Fährmann:

„Urschanabi, dies Kraut ist das Kraut gegen (meine) Verzweiflung, / durch das der Mensch sein Leben erlangt. / Ich will es nach Uruk... bringen, um das Kraut zu essen zu geben und zu erproben. / Sein Name ist ‚Als Greis wird der Mensch jung’. Ich werde es essen und so meine Jugendhaftigkeit zurückerlangen!“

Nach 20 Meilen brachen sie etwas Brot, / nach 30 Meilen legten sie ein Nachtlager an. / Dann sah Gilgamesch einen Brunnen, dessen Wasser kühl war. / Er stieg in ihn hinab, um sich mit dem Wasser zu waschen. / Eine Schlange roch den Duft des Krautes, / kam [unbemerkt] herauf und trug das Kraut weg; / bei ihrer Rückkehr warf sie die Haut ab. / [An] dem Tag setzte Gilgamesch sich weinend, / über sein Antlitz laufen seine Tränen.

(Tafel XI Z. 270ff; zitiert nach TUAT III,4, 672ff)

Tatsächlich erlangt der Heros also nicht ewiges Leben, wird aber gleichwohl durch seine Erfahrungen zum herausragenden Weisen schlechthin, zudem hat das Gilgamesch-Epos einen kräftigen Einschlag zum positiv besetzten Thema → Sexualität (dazu Hartenstein 108f). Ohne das eigentliche Stichwort „Baum“ sind die Themen „richtige Erkenntnis“ und „ewiges Leben“ bzw. Unsterblichkeit auch in anderen altorientalischen Epen / Mythen intensiv verbunden, etwa im Adapa-Mythos aus dem 2. Jt. v. Chr. (dort unter dem Stichwort „Brot und Wasser des Lebens“). Wie für den mesopotamischen Raum gibt es diese alte Verbindung von Weisheit / Erkenntnis und Leben auch in der ägyptischen Vorstellung etwa der → Maat. Vielleicht steht hinter den biblischen Texten auch die ägyptische Vorstellung einer Baumgöttin – schwankend dargestellt, in einem oder in zwei Bäumen (Krispenz 313) –, die Verstorbenen für ihr jenseitiges Leben Nahrung spendet; allerdings wäre die Thematik dann in Gen 2-3 radikal verdiesseitigt.

3. Sind beide Bäume in Gen 2-3 ursprünglich?

Trotz mancher neuerer Bestreitungen spricht nichts dagegen, dass Gen 2-3 im Prinzip einer (spät)vorexilischen Quelle entstammt, vielfach → Jahwist genannt (→ Pentateuchforschung). Der Text ist nämlich insgesamt im Blick auf seine Gottesvorstellung eher mythisch formatiert (→ Mythos). Das Thema Baum des Lebens bzw. Weltenbaum erscheint außerdem traditionsgeschichtlich, zumal in Verbindung mit dem Thema außergewöhnlicher, geradezu gottgleicher Erkenntnis bzw. Urteilsfähigkeit, eher in der altorientalischen Heroenliteratur und Königstheologie situiert (vgl. auch 1Kön 3,9, dazu 2Sam 14,17). Entsprechend den Belegen in → Proverbien und → Ezechiel deutet sich ebenfalls eher eine ältere Themensetzung an, auch wenn die Verbindung Tod / Leben mit Gut / Schlecht zusätzlich eine spezifisch spätdeuteronomistische Variante hat (Dtn 30,15). Das Spezifikum des biblischen Textes von Gen 2-3 ist, dass er, schon vorexilisch, diese königstheologischen Prärogativen auf alle Menschen hin universalisiert, einen Weg, auf dem die priesterschriftliche Schöpfungserzählung in Gen 1,26-31 noch weiter voranschreitet.

Möglicherweise ist der jetzt vorliegende Text in Gen 2-3 nicht einheitlich. Das liegt allerdings nicht daran, dass der auffällig lange Satzzusammenhang in Gen 2,9 sprachlich brüchig wäre, wie sehr häufig fälschlicherweise erwogen (dazu Michel 1-22). Gen 2,9 ist vielmehr eine sprachökonomische und elegante Formulierung, die erlaubt, dass sowohl der Baum des Lebens als auch der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse in der Mitte des Gartens stehen. Mit „Mitte“ kann dann freilich keine punktuelle, geometrische Mitte gemeint sein, und das ist im Hebräischen auch kein Problem. Die Probleme rühren anderswoher: Schwer zu verstehen ist erstens für viele Ausleger, dass Gott in Gen 2,17 von allen Früchten der Bäume des Gartens nur diejenigen des Erkenntnisbaumes verbietet, so als ob es den Lebensbaum nicht gäbe. Zweitens spricht die Frau in Gen 3,3 nur von dem Baum in der Mitte des Gartens, der mit dem Erkenntnisbaum identisch ist, was ebenfalls nicht recht zu Gen 2,9 passt. Und drittens ist es, vorausgesetzt der Baum des Lebens stünde tatsächlich in der Mitte des Gartens (Gen 2,9), erzähllogisch gar nicht nötig, die Menschen aus dem ganzen Garten (Eden) zu vertreiben: Keruben und Flammenschwert hätten auch nur die Mitte desselben sichern können (Gen 3,24).

Dieses dreifache Problem lässt sich u.a. dadurch auflösen, dass man das singularische hebräische „Baum“ (עֵץ ‘eṣ) in Gen 3,3 als Kollektiv (ThWAT 287), also „Bäume“ oder „Gehölz“ wiedergibt, wie gelegentlich erwogen (z.B. Krispenz 304). Tatsächlich machen das praktisch alle Übersetzer so fünf Verse, in Gen 3,8, später: Die Menschen, die eben von „dem Baum / den Bäumen inmitten des Gartens“ gegessen haben, verstecken sich nämlich danach „inmitten der Bäume des Gartens“ (hebräisch ebenfalls עֵץ ‘eṣ), eine für den Text in Gen 3 im Übrigen typische, aber von den Exegeten meist übersehene ironische Variation (und: der Täter kehrt zum Tatort zurück!). Im Prinzip elegant, aber wenig plausibel ist es deswegen, einfach die Rede von der „Mitte“ außer in Gen 3,8 aus dem ursprünglichen Text von Gen 2-3 zu verbannen (so aber Levin 51-52). Denkbar wäre sogar, dass die „rührend ungenaue Rede der Frau“ (Blum 21) in Gen 3,3 auf das Konto ihrer stereotypen Zeichnung als rhetorisch ungeschickte, geradezu kindliche, eher halbinformierte und auf jeden Fall leicht zu überredende Figur geht.

Dass die Sperrung nur der Mitte des Paradieses auch so hätte ausgedrückt werden müssen, erwartet von den Formulierungen des Textes vielleicht doch zu viel Präzision. Außerdem ist das Erzählziel die völlige „Vertreibung aus dem Paradies“, denn sonst würde der Übergang zur soziokulturellen Realität der vorderen Levante und würden damit die → Ätiologien in Gen 3,14-19 nicht funktionieren. Diesem übergeordneten ätiologischen Erzählziel mag auch die Präzision geopfert worden sein.

Man könnte schließlich bei Gen 2,17 die göttliche Intention auch so verstehen, dass nur vor dem Genuss von den Früchten des Erkenntnisbaumes gewarnt wird, nicht vor denen des Lebensbaumes. Dann muss man sich über das Ausklammern des Lebensbaumes in der göttlichen Rede nicht wundern. Die Botschaft des Gesamttextes wäre dann: So sehr hohe Erkenntnis und Leben auch zusammenhängen (so zu Recht Forti), darf der Mensch doch von beiden Bäumen zusammen nicht genießen, ansonsten wäre er Gott viel zu nahe getreten; deshalb danach die Vertreibung. Mit der Wahl der Erkenntnis hat der Mensch freilich gegenüber der von Gott präferierten Wahl der Unsterblichkeit das beschwerlichere Los der Erkenntnisfähigkeit gezogen. Insofern wird der Mensch nach Gen 2,17 dann auch tatsächlich – endgültig – sterben (kein „Todesurteil“), und zwar weil er sterblich bleibt. Theoretisch aber hätte er die geschöpflich gegebene Sterblichkeit (Gen 2,7) ablegen können (aber vgl. Wagner-Tsukamoto).

Im Blick auf alle diese Gesichtspunkte ist eine literarhistorische Erklärung also nicht unbedingt notwendig. Andere Spannungen in den beiden Kapiteln machen es aber doch möglich, dass hinter den Inkonsistenzen ein Wachstum des Textes Gen 2-3 steckt, ausgehend von einem Grundtext mit ursprünglich nur einem Baum, wobei der Einbau traditioneller Motive bzw. literarische Überarbeitungen Uneindeutigkeiten erzeugt haben. Die diesbezüglichen Theorien gehen so weit, dass der eine Baum womöglich sogar weder der Erkenntnisbaum noch der eigentliche Lebensbaum gewesen sei, sondern ein nicht näher bezeichneter Baum „in der Mitte“, der ggf. auch der vom Lebensbaum zu unterscheidende Weltenbaum gewesen sein könnte (Pfeiffer 2001, 14-15), doch bleibt das eine schwierige Hypothese. Ansonsten gibt es für die jeweilige Priorität von Lebensbaum (die seltenere Annahme) oder Erkenntnisbaum (die häufigere Annahme) Argumente, die auch davon abhängen, ob Gen 3,1-6 oder auch nur Gen 3,6 (Levin) ein ursprünglicher Bestandteil des Grundtextes ist. Zwingend sind solche Annahmen allerdings nicht.

4. Weitere Gesichtspunkte zum Verständnis der beiden Bäume in Gen 2-3

Ganz offenkundig überlagern sich in Gen 2-3 im Zusammenhang der Bäume mindestens drei Themenkreise: Das Thema Leben und Unsterblichkeit, das Thema Erkenntnis in einem kognitiv-ethischen Sinne und auch das Thema Erkenntnis in einem sexuellen Sinn (anders z.B. Witte 80).

Dass das Thema Leben / Unsterblichkeit gerade mit Bäumen, noch dazu mit Fruchtbäumen verbunden ist, ist angesichts der Erfahrung levantinischer Menschen mit ihren Bäumen überhaupt nicht erstaunlich: Bäume, besonders Olivenbäume, aber z.B. auch Dattelpalmen, werden deutlich älter, als der Mensch es je erreichen kann (vgl. Jes 65,22). Selbst bei radikalem Schnitt zeigen viele Bäume die Fähigkeit, wieder auszuschlagen und neue Früchte hervor zu bringen (vgl. Hi 14,7; Jes 11,1; dazu auch Ez 47,12); das Gedeihen von Bäumen ist geradezu sprichwörtlich (Ps 92,13-15). Insofern liegt es nahe anzunehmen, dass Bäume – wie etwa auch sich häutende Schlangen – das Leben schlechthin verinnerlicht haben und deshalb weitergeben können, natürlich, neben dem Schatten (Ri 9,15), besonders mittels der Früchte, mit denen sie Mensch und Tier auch tatsächlich am Leben halten. Entsprechend finden sich an sich merkwürdige Formulierungen wie die, dass man einen Baum „dem Tod übergeben“ kann (Ez 31,14; vgl. auch Ez 31,16.18) oder einen Baum „aus dem Land der ... Lebenden ausrottet“ (Jer 11,19). Insofern in den Frucht- bzw. Obstbäumen (עֵץ מַאֲכָל ‘eṣ ma’ǎkhāl, wörtl. „Essensbäume“, vgl. dazu die Formulierung in Gen 2,9: עֵץ ‘eṣ „Baum“ + טוֹב לְמַאֲכָל ṭôv ləma’ǎkhāl „gut zum Essen“) ein besonderes Leben liegt, sind sie auch mit ganz besonderer Achtung zu behandeln (Lev 19,23; Dtn 20,20). Vielleicht ist außerdem auch das in Ex 15,25 von Mose in den Brunnen geworfene Holz (עֵץ ‘eṣ) noch von dem belebenden Charakter solcher Bäume, kein Lebensbaum, aber ein Stück „Lebensholz“, das ungenießbares Wasser trinkbar macht.

Dass der „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ auf umfassendes Wissen und angesichts der Erweiterung „Gut und Böse“ speziell auf ein ethisches Unterscheidungsvermögen zielt, ist mit Blick auf Stellen wie Dtn 1,39 und Jes 7,15-16 unbestreitbar: Dieses Unterscheidungsvermögen ist es, das Erwachsene von Kindern unterscheidet. Es kulminiert in der Königsfigur (2Sam 14,17; 1Kön 3,9: mit langem Leben 1Kön 3,14), besonders aber in Gott (Pred 12,14). Thematisiert wird damit das Erwachsenwerden des Menschen, sozusagen das Erwachen aus der nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit hin zum intellektuell potenten und auch moralisch handelnden Menschen. Wer dazu nicht in der Lage ist oder gar absichtlich „Gut und Schlecht“ durcheinanderwirft (Jes 5,20), dem ist mit einem „Wehe“ zu begegnen, das das Verwirktsein seines Lebens anzeigt (Jes 5,24; plastischer Mi 3,2). Wer „das Gute“ sucht und nicht das „Schlechte“, der findet auch langes Leben (Am 5,14, vgl. auch Dtn 30,15). Von Gen 3 her ist allerdings offensichtlich, „dass die hohe Erkenntnisfähigkeit des Menschen auch eine Kehrseite hat (Sterblichkeit, Gefahr der Hybris)“ (Schellenberg 189); die Ambivalenz gründet darin, dass die „Erkenntnis von Gut und Böse“ immer eine hohe Machtaffinität hat („Wissen ist Macht“), was altorientalisch ja auch die besondere Affinität zur Königstheologie zeigt.

Beim Stichwort „Erkenntnis“, „Erkennen“ ist im Kontext von Gen 2-4 (vgl. Gen 4,1) schließlich die sexuelle Komponente wohl doch auch präsent. Tatsächlich ist die menschliche Fortpflanzung die Alternative zur Unsterblichkeit, um das Fortdauern des Menschengeschlechts zu garantieren. Es sind die zwei möglichen Seiten einer Medaille, zumal in einem älteren alttestamentlichen Kontext, in dem nach dem individuellen Tod noch und nur die Scheol, das Vergessen, auf einen wartet (→ Jenseitsvorstellungen). Entsprechend gilt ein Eunuch als „dürrer Baum“, also nicht als Lebensbaum, weil er nicht (mehr) in der Lage ist, Leben weiterzugeben und sich an der Weitergabe des Lebens zu beteiligen (Jes 56,3). Ohne dass man daraus definitive traditionsgeschichtliche Schlüsse ziehen müsste, hat also Gen 2-3, zumal in Gen 3,1-6, auch einen sexuellen Subtext („die Schlange“ z.B. ist im Hebräischen maskulin; Thema Nacktheit und Fortpflanzung im Kontext). Natürlich hat diese Verknüpfung etwas mit der Erfahrung zu tun, dass die pubertär-postpubertäre Unterscheidungsfähigkeit zwischen „Gut und Böse“ sich mehr oder minder gleichzeitig mit der Zeugungs- und Empfängnis-, also der Fortpflanzungsfähigkeit entwickelt.

Das Motiv „üppiger Baum“, verbunden mit sexuellen Ausschweifungen ist im Übrigen auch ein rekurrentes Motiv besonders in den Prophetenbüchern (Jes 57,5; Jer 2,20; Jer 3,6.9.13; Hos 4,12). Dabei kann die inkriminierte → Unzucht sogar mit dem Baum bzw. Holz selbst getrieben werden (Jer 3,9; Hos 4,12). Sprossender Baum und Sexualität gehen also auch andernorts in den alttestamentlichen Texten eine enge Verbindung ein.

5. Neues Testament

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 5. Aufl., München / Zürich 1994-1995
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
  • Herders Neues Bibellexikon, Freiburg 2008
  • Wörterbuch alttestamentlicher Motive, Darmstadt 2013

2. Weitere Literatur

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  • Blum, E., 2004, Von Gottunmittelbarkeit zur Gottesähnlichkeit. Überlegungen zur theologischen Anthropologie der Paradieserzählung, in: G. Eberhardt / K. Liess (Hgg.), Gottes Nähe im Alten Testament (SBS 202), Stuttgart, 9-29.
  • Bührer, W., 2014, Am Anfang... Untersuchungen zur Textgenese und zur relativ-chronologischen Einordnung von Gen 1-3 (FRLANT 256), Göttingen 2014.
  • Crüsemann, F., 2009, Essen und Erkennen (Gen 2f.). Essen als Akt der Verinnerlichung von Normen und Fähigkeiten in der hebräischen Bibel, in: M. Geiger / Chr. Maier / U. Schmidt (Hgg.), Essen und Trinken in der Bibel. Ein literarisches Festmahl (FS R. Kessler), Gütersloh, 85-100.
  • Forti, T., 2011, The Polarity of Wisdom and Fear of God in the Eden Narrative and in the Book of Proverbs, BN NF 149, 45-57.
  • Gerhards, M., 2013, Conditio humana. Studien zum Gilgameschepos und zu Texten der biblischen Urgeschichte am Beispiel von Gen 2-3 und 11,1-9 (WMANT 137), Neukirchen-Vluyn, 246-259 zu „Erkenntnis von Gut und Böse“.
  • Hartenstein, F., 2009, „Und weit war seine Einsicht“ (Gilgamesch I,202). Menschwerdung im Gilgamesch-Epos und in der Paradieserzählung Genesis 2-3, in: M. Geiger / Chr. Maier / U. Schmidt (Hgg.), Essen und Trinken in der Bibel. Ein literarisches Festmahl (FS R. Kessler), Gütersloh, 101-115.
  • Krispenz, J., 2004, Wie viele Bäume braucht das Paradies? Erwägungen zu Gen II 4B – III 24, VT 54, 301-318.
  • Levin, Chr., 1993, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen.
  • Michel, A., 1997, Theologie aus der Peripherie. Die gespaltene Koordination im Biblischen Hebräisch (BZAW 257), Berlin / New York.
  • Pfeiffer, H., 2000, Der Baum in der Mitte des Gartens. Zum überlieferungsgeschichtlichen Ursprung der Paradieserzählung (Gen 2,4b-3,24). Teil I, ZAW 112, 487-500.
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  • Rottzoll, D.U., 1997, Die Schöpfungs- und Fallerzählung in Gen 2f. Teil 1: Die Fallerzählung (Gen 3), ZAW 109, 481-499.
  • Rottzoll, D.U., 1998, Die Schöpfungs- und Fallerzählung in Gen 2f. Teil 2: Die Schöpfungserzählung, ZAW 110, 1-15.
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  • Schüle, A., 2006, Der Prolog der hebräischen Bibel. Der literar- und theologiegeschichtliche Diskurs der Urgeschichte (Genesis 1-11) (AThANT 86), Zürich.
  • Wagner-Tsukamoto, S., 2012, The Tree of Life. Banned or not Banned? A Rational Choice Interpretation, SJOT 26, 102-122.
  • Witte, M., 1998, Die biblische Urgeschichte. Redaktions- und theologiegeschichtliche Beobachtungen zu Genesis 1,2-11,26 (BZAW 265), Berlin / New York.

Abbildungsverzeichnis

  • Eine Schlange, die vor ihrer Verfluchung noch Beine hatte, verführt Adam und Eva, vom Baum der Erkenntnis zu essen (Hugo van der Goes, ca. 1470 n. Chr.).
  • Von Capriden flankierter Baum als Symbol von Fruchtbarkeit und Leben (Rollsiegel aus Megiddo; 14. Jh. v. Chr.). Aus: O. Keel / S. Schroer, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Freiburg / Göttingen 2002, Abb. 30; © Stiftung BIBEL+ORIENT, Freiburg / Schweiz

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