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Armut / Arme (AT)

(erstellt: Januar 2006)

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1. Die Wirklichkeit der Armut

Armut ist im alten Israel eine allgegenwärtige Realität. Es wird kaum eine Zeit gegeben haben, in der die gesellschaftlichen Güter wirklich gleich verteilt gewesen wären (vgl. die Nathan-Parabel 2Sam 12,1-4, die mit dem Gegensatz von arm und reich operiert; → Nathan). Besonders bedroht von Armut sind die klassischen personae miserae, → Witwen und Waisen (vgl. 2Kön 4,1-7). Ab dem 8. Jh. wirkt die Überschuldungsproblematik dahin, dass freie Bauern in Armut geraten, schließlich ihr Land verlieren und als Schuldsklaven oder Tagelöhner (die in Dtn 24,14-15 per se als arm qualifiziert werden) oder gar als Bettler (Ez 18,7.16) ihr Leben fristen müssen (→ Sklaverei). Hauptursache für Verarmungsprozesse dürfte das Kreditwesen sein, weshalb Spr 22,7 den Gegensatz von Reich und Arm mit dem von Gläubiger und Schuldner identifiziert. Die eindrücklichste Schilderung des elenden Lebens der Armen findet sich in Hi 24. Insgesamt wird man von der Frühzeit bis zum Hellenismus mit einer kontinuierlichen Zunahme von Armut in Israel rechnen müssen.

2. Die Option für die Armen

Das Eintreten zugunsten der Armen zieht sich wie ein roter Faden durch die Hebräische Bibel. Die Tora fordert, dass im Gericht das „Recht des Armen“ nicht gebeugt werden soll (Ex 23,6). Propheten begründen das angekündigte Strafgericht damit, dass in Israel die Armen unterdrückt werden (Jer 5,26-28). Für die Spruchweisheit ist das lästernde oder ehrende Verhalten gegenüber Armen zugleich ein entsprechendes Verhalten gegenüber Gott, dem Schöpfer des Armen (Spr 14,31). Schließlich preist ein Psalm Gott selbst als Beschützer der Armen (Ps 35,10). Wie theologisch zentral die Option für die Armen ist, malt Ps 82 in mythischen Bildern aus: Die Götter sollen ihr Gottsein verlieren, weil sie nicht in der Lage sind, die Armen zu retten und ihnen Recht zu verschaffen.

3. Keine Armutsverklärung

Trotz des eindeutigen Eintretens für die Armen verweigern sich die Texte der Hebräischen Bibel jeder Verklärung von Armut. Sie kennen kein Armutsideal, das in mönchischer oder asketischer Lebensweise zu verwirklichen wäre. Armut gilt als Elend, das nicht von selbst verschwindet („Es wird nicht fehlen an Armen inmitten des Landes“, Dtn 15,11). Entsprechend wird auch → Reichtum als solcher nicht negativ bewertet, sondern kann durchaus als Ausdruck göttlichen Segens verstanden werden. Was kritisiert wird – besonders in der prophetischen Sozialkritik –, ist die Bereicherung der Reichen auf Kosten der Armen. Das utopische Ideal ist eine „Gesellschaft ohne marginale Gruppen“ (Lohfink, 1990), die für den Fall der Einhaltung der Tora erwartet wird (Dtn 15,4-6).

4. Gegenstrategien

4.1. Sozialgesetze

Aus der Option für die Armen, die im biblischen Gottesbild selbst verankert wird, leiten sich konkrete Maßnahmen ab, die der Eindämmung von Armut dienen sollen. Hier sind an erster Stelle die Sozialgesetze der Tora zu nennen. Sie verbieten generell die Ausnutzung der Schwäche der Armen (Ex 22,20-21). Zu ihrer Versorgung erhalten diese das Recht auf Nachlese auf den abgeernteten Feldern (Lev 19,9-10; Lev 23,22; Dtn 24,19-22) bzw. den Ertrag dessen, was in einem → Brachjahr wächst (Ex 23,11). Das → Deuteronomium sieht vor, den Zehnten alle drei Jahre als Armensteuer zu verteilen (Dtn 14,28-29; Dtn 26,12-15). Eine Fülle von Wirtschaftsgesetzen dient dazu, Prozesse der Verarmung zu verlangsamen oder ganz zu verhindern. Dazu gehören das → Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38; Dtn 23,20-21), Beschränkungen bei der Pfandnahme (Ex 22,25-26; Dtn 24,6.10-13.17), Regelungen zu korrekten Maßen und Gewichten (Dtn 25,13-16), allgemeiner Schuldenerlass alle sieben Jahre (Dtn 15,1-11) und Beschränkung der Schuldsklaverei auf sechs Jahre (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18).

4.2. Almosenwesen

Da trotz aller Maßnahmen die Armut im Lauf der Geschichte des alten Israel eher zu- als abnimmt, gewinnt das Almosenwesen zunehmend an Bedeutung. Dabei heißt „Almosen“ im hebräischen – so bis heute in den jüdischen Gemeinden – → „Gerechtigkeit“. Auf das, was die Armen erhalten, haben diese ein Recht, das „Recht der Armen“ (Ex 23,6; Dtn 27,19; Jes 10,2 u.ö.). Die Gabe für die Armen ist kein Akt herablassender Gnade, sondern ein Akt der Herstellung von Gerechtigkeit. Dennoch bleibt bei der Beschränkung auf die individuelle Gabe einzelner Reicher an einzelne Arme die Gefahr der persönlichen Abhängigkeit zwischen Gebenden und Empfangenden. Wohl aus diesem Grund wird bereits in hellenistischer Zeit Armenfürsorge als „Aufgabe der Gemeinde“ (Kessler, 2004) verstanden. Am Tempel wird eine Armenkasse eingerichtet, die das Vorbild der Armenversorgung in den Synagogen und später den christlichen Gemeinden wird.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Dictionnaire d’archéologie chrétienne et de liturgie, Paris 1907-1953
  • Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950ff.
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, München / Zürich 1978-1979
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1992
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003

2. Weitere Literatur

  • Ebach, J., 1979, Arme und Armut im Alten Testament. Zum Umgang mit alttestamentlichen Aussagen, ZMiss 5, 143-153
  • Fensham, Ch.F., 1962, Widow, Orphan, and the Poor in Ancient Near Eastern Legal and Wisdom Literature, JNES 21, 129-139
  • Kessler, R., 1992, Die Rolle des Armen für Gerechtigkeit und Sünde des Reichen. Hintergrund und Bedeutung von Dtn 15,9; 24,13.15, in: F. Crüsemann u.a. (Hg.), Was ist der Mensch? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments (FS H.W. Wolff), München, 153-163
  • Kessler, R., 2004, Armenfürsorge als Aufgabe der Gemeinde. Die Anfänge in Tempel und Synagoge, in: F. Crüsemann u.a. (Hg.), Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel (FS L. Schottroff), Gütersloh, 91-102
  • Kuschke, A., 1939, Arm und reich im Alten Testament mit besonderer Berücksichtigung der nachexilischen Zeit, ZAW 57, 31-57
  • Lang, B., 1982, The Social Organization of Peasant Poverty in Biblical Israel, JSOT 24, 47-63
  • Levin, Ch., 2003, The Poor in the Old Testament. Some Observations, in: Ch. Levin, Fortschreibungen. Gesammelte Studien zum Alten Testament (BZAW 316), Berlin / New York, 322-338
  • Lohfink, N., 1986, Von der „Anawim-Partei“ zur „Kirche der Armen“. Die bibelwissenschaftliche Ahnentafel eines Hauptbegriffs der „Theologie der Befreiung“, Bib. 67, 153-176
  • Lohfink, N., 1990, Das deuteronomische Gesetz in der Endgestalt – Entwurf einer Gesellschaft ohne marginale Gruppen, BN 51, 25-40
  • Schwantes, M., 1977, Das Recht der Armen (BET 4), Frankfurt am Main u.a.
  • Strauß, H., 1992, „Armut“ und „Reichtum“ im Horizont biblischer, vor allem alttestamentlicher Aussagen, in: F. Crüsemann u.a. (Hgg.), Was ist der Mensch? Beiträge zur Anthropologie des Alten Testaments (FS H.W. Wolff), München, 179-193

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