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Aphorismus / Gnome / Sentenz

(erstellt: November 2012)

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1. Definition

1.1. Aphorismus

Der Begriff Aphorismus entsteht im 16. Jahrhundert (Spicker, 20f.). Er ist eine Neubildung aus dem Griechischen: aph-horízo = abgrenzen (Gemoll 1997, 147), auswählen (Aland 1988, 255). Aphorismus entwickelt sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Gattungsbezeichnung (Spicker 1979, 27-125); die → Gattung ist ein „kurzer, schlagkräftig und äußerst prägnant formulierter einzelner Prosasatz zur Einkleidung e. eingenartigen, persönlichen Gedankens, Werturteils, e. Augenblickserkenntnis oder Lebensweisheit, durch geistreichen Inhalt und individuellen Stil unterschieden vom Niveau des Sprichworts“ (Wilpert 1969, 35). Einige Satzformen des Aphorismus wie Antithese, Paradoxon und Hyperbel (Übertreibung) stammen aus der Rhetorik der Antike. Sie sind in der antiken Prosaliteratur und auch in der neutestamentlichen Erzähl- und Briefliteratur zahlreich zu finden; zu ihnen gehören z.B. die Antithesen der → Bergpredigt (Mt 5,3-10), Weherufe (Lk 11,52/Mt 23,13), Paradoxien in der paulinischen Kreuzes- und Weisheitstheologie (1Kor 1,18-31; 1Kor 2,1-3,4) und hyperbolische Sätze in der paulinischen Narrenrede (2Kor 11,16-33). Nach Crossan finden sich 133 Aphorismen bei den → Synoptikern (Crossan 1983, 330-345). Diese Liste ist zu umfangreich, da sie Ich-Bin-Worte und Prophetien Jesu mit einschließt (s. u. 2.1)

Allerdings kaprizieren sich die antiken Autoren nicht nur auf solche rhetorischen Meisterleistungen, sondern ordnen ihre Worte entgegen neuzeitlichem Verständnis dem umfassenderen Bereich der griechischen Gnome und lateinischen Sentenz zu, die auch einfache, volkstümliche Sprichwörter und Weisheiten enthalten können. Neutestamentliche Weisheitslogien können auch durch „non-conventional use“ verfremdet werden, z.B. die → Seligpreisung der Armen (Mt 5,3/Lk 6,20b), und dann die Gestalt neuzeitlicher Aphorismen haben (Liebenberg 2001, 433-451).

1.2. Gnome und Sentenz

Gnome, griechisch Einsicht, Erkenntnis (Gemoll 1997, 174f), bezeichnet als Satz-Gattung „eine in allg., nach Möglichkeit prägnant-kurzer Formulierung mitgeteilte Erkenntnis…Sie hat zum Thema menschliches Leben und Befinden, bes. sittliches oder lebenskluges Verhalten“ (Spoerri 1979, 823). Die lateinische Parallele ist die sententia: „In beiden Sprachen aber haben sie ihren Namen deshalb, weil sie Ratschlägen oder allgemeinen Bestimmungen ähnlich sind. Eine Sentenz aber ist ein allgemeiner Satz, der auch unabhängig vom Zusammenhang eines Falles Anerkennung finden kann, zuweilen nur auf eine Sache bezogen; so etwa ‚nichts ist so beliebt im Volk wie Güte‘“ (Quint. VIII 5,3). Der antike Rhetoriker Quintilian (35-96 n. Chr.) verdeutlicht mit dieser Definition und dem Sprichwort-Beispiel den universalen (universalis) Charakter und die einfache, volkstümliche Stilhöhe der Sentenz und der parallelen griechischen Gnome. Noch immer wird in der deutschen Umgangssprache Sentenz in diesem universalen und allgemeinverständlichen Sinne verwandt (Wilpert 1969, 701).

2. Die Gnomen Jesu und der neutestamentlichen Autoren

2.1. Die Gnomen im Neuen Testament

Im Mittelpunkt des Neuen Testaments stehen die Gnomen Jesu. → Paulus hat nur wenige Herrenworte mit ausdrücklichem Verweis auf die Aussage des Herrn überliefert (1Kor 7,10; 1Kor 9,14; 1Kor 11,23-26); sie stehen auch bei den Synoptikern. Außerdem kennt Paulus die breite Tradition der weisheitlichen Herrenworte und spielt auf sie in den → paränetischen Teilen seiner Briefe an (Röm 12,9-21; Röm 14,14; Wong 2012, 61f). Der Hauptteil der Herrenworte befindet sich aber in den → Evangelien.

In ihnen lässt sich eine Grobklassifizierung der Herrenworte nach dem Rollenverständnis Jesu und nach den tradierten Gattungsmustern vornehmen. So unterschied → Bultmann zwischen Logien im engeren Sinn = Weisheitssprüchen, Gesetzesworten und Gemeinderegeln des „Weisheitslehrers“, prophetischen und apokalyptischen Worten des apokalyptischen → Propheten und → Ich-Bin-Worten des originären Selbstbewußtseins Jesu (Bultmann 1957, 73-176). Diese Einteilung hat sich bewährt (Vielhauer 1975, 291; von Lips 1990, 197ff). Bultmann berief sich auf die Gattungen, „die Jer 18,18 angedeutet ist: vom Weisen erwartet man ‚Rat‘ (ezah), vom Propheten ‚Wort‘ (dabar), vom Priester ‚Weisung‘ (torah)“ (Bultmann 1957, 73). Auf Jesus werden von der Gemeinde alle drei alttestamentlichen Traditionsstränge übertragen, da bereits die → Apokalyptik des Frühjudentums prophetische, priesterliche und weisheitliche Worte zu einer neuen Gesamtkonzeption zusammengefaßt (Koch 1970, 25; Müller 1978, 202ff) und eine eigenständige → eschatologische Weltsicht die Jesusbewegung von Anfang an bestimmt hat (Bultmann 1957, 110ff). Westermann präzisiert, dass die Weisheitsworte Jesu auf die mündliche Tradierung des „Buches der Sprichwörter“ (Spr 10-29) zurückgehen (We­stermann 1990, 242; vgl. auch Bultmann 1957, 111f).

Paulus und seine Nachfolger formulieren in ihren Briefen eine Fülle von weiteren Gnomen. Ebenso schreiben die Evangelisten die Gnomen Jesu fort und legen sie ihm nachträglich in den Mund. Außerdem formulieren sie für die anderen Handlungsträger weitere Gnomen. So bezeugen Petrus und Johannes vor dem → Synhedrion ihren Glauben mit einer sokratischen Gnome: „Ob gerecht es ist vor Gott, auf euch mehr zu hören als auf Gott, urteilt! Denn nicht können wir, was wir sahen und hörten, nicht sagen.“ (Apg 4,19f; Plat. Apol. 29 D).

2.2. Logien im engeren Sinne / Weisheitssprüche als Gnomen

2.2.1. Gattung Gnome im Neuen Testament

Zu den weisheitlichen Logien im engeren Sinn macht Bultmann nur wenige, knappe Bemerkungen. Die Weisheitsworte Jesu entstehen aufgrund von „konstitutiven Motiven“, die von „ornamentalen Motiven“ zu unterscheiden sind: „Zu letzteren gehören Formen wie Vergleich, Metapher, Paradoxie, Hyperbel, Parallelismus der Glieder, Antithese und dergl. Motive, die einzeln wie verbunden bei veschiedenen Grundformen angewandt werden, aber auch fehlen können“ (Bultmann 1957, 73). Mit dieser Definition von „ornamen­tal“ spielt Bultmann gemäß der antiken Rhetorik auf die „Lexis“ der Rede an, während er die konstitutiven Motive als gattungskonstituierend der Dispositio zurechnet: „Konstitutive Motive nenne ich solche, die die Form eines Spruches konstituieren“ (Bultmann 1957, 73). Sie sind „mit der logischen Form des Satzes gegeben“ (Bultmann 1957, 74). Es handelt sich um die syntaktischen Elementarformen Aussagesatz, imperativische Mahnung und Frage. Sie führen zu drei Grundformen der Weisheitsworte: „1. Grundsätze (Form der Aussage), 2. Mahnworte (Form des Imperativs), 3. Fragen“ (Bultmann 1957, 73f).

Diese Untergliederung wird von der gegenwärtigen Sprechaktforschung gestützt. Denn die Untergliederung der Weisheitslogien in grundsätzliche Aussage, imperativische Mahnung und Frage folgt den Elementen der syntaktischen Tiefen­struktur (Küchler 1979, 159). Mit der Sprechakttheorie lässt sich zwischen indikativischen, konstatierenden einerseits und imperativen, performativen Gnomen andererseits unter­scheiden (Austin 1972, 27). Die indikativen, konstatierenden Gnomen entsprechen den „Grundsätzen“, die performativen Gnomen entsprechen den „Mahnungen“. Die „Fragen“ lassen sich den konstatierenden Gnomen zurechnen, auch wenn sie den Optativ haben, da sie sich in eine indikative, konstatierende Aussage transformieren lassen. Es handelt sich bei ihnen ja um „rhetorische“, konstatierende Ausrufe und nicht um echte Fragen (Lausberg 1984, § 445).

Zwar vermeidet es Bultmann, für die Weisheitssprüche eine helleni­stische Gattungsbezeichnung wie Gnome oder das lateini­sche Äquivalent Sententia einzusetzen. Doch die Definition der Gnome schon bei Aristoteles zeigt deren Nähe zu den weisheitlichen Logien Jesu: „Es ist aber die Gnome eine Erklärung, jedoch nicht über das, was den Einzelnen betrifft, z. B. was Iphikrates für ein Mann ist, sondern über etwas das Allgemeine betreffend, jedoch auch nicht alles betreffend, wie z. B. dass das Gerade dem Krummen entgegengesetzt sei, sondern nur darüber, was die menschlichen Handlungen betrifft: was beim Handeln zu wählen oder zu meiden ist“ (Rhetorik 2,21).

Die Gnome oder Sentenz ist eine das Allgemeine betreffende Erklärung. Da sie auf menschliche Handlungen beschränkt ist, kann zu ihrer konstatierenden Aussage zusätzlich ein deliberatives Element hinzutreten. Der Imperativ rät dann, was zum Handeln zu wählen und zu meiden ist. Die rhetorische Frage wiederum verleiht einer konstatierenden Aussage einen besonderen Affekt (Lausberg 1984, § 445). So finden sich alle drei syntaktischen Grundformen des Weisheitsspruches in der antiken Gnome. Die konstatierende Aussage dominiert allerdings.

Bultmanns undefiniert bleibender Oberbegriff „Logien im engeren Sinn, Weisheitssprüche“ (Bultmann 1957, 73) ist daher mit der Sentenz und Gnome gleichzusetzen. Die syntaktischen Analysen Bultmanns bleiben für die Untergliederung der Gnome gültig und bilden statt drei nur zwei Untergattungen: die indikativische, konstatierende Gnome und die imperative, mahnende Gnome (v. Lips 1990, 204).

Entsprechend ist auch Bultmanns Unterscheidung zwischen Weisheitsprüchen einerseits und Gesetzesworten und Gemeinderegeln andererseits aufzuheben (Berger 1984, 1085f). Die unter den Gesetzesworten und Gemeinderegeln eingeor­dneten Worte sind entsprechend ihrer Satzform den indikativischen oder imperativen Gnomen zuzuordnen. In der gegenwärtigen Forschung wird der konkrete Einfluss der hellenistischen Sentenzen auf die neutestamentlichen Logien deutlich herausgearbeitet.

Küchler weist in seiner Monographie „Frühjüdische Weisheits­traditionen“ den Einfluss der griechischen Gnomologien auf die in Griechisch geschriebene, frühjüdische Sentenzensammlung des Pseudophokylides auf und geht dem Weiterwirken solcher hellenisierten, frühjüdischen Weisheitstraditionen im NT nach (Küchler 1979, 236-319; 553-593). Berger und Dormeyer rücken die neutestamentlichen Gnomen noch näher an die hellenistischen Logien heran, indem sie den Nachweis von Parallen im alttestamentlichen und rabbinischen Spruchgut um die Parallelen in der hellenistischen Gnomik erweitern (Berger 1984, 1049-1149; Dormeyer 1993, 67-140).

Die gegenwärtigen Untersuchungen von hellenistischem Vergleichsmaterial bieten Textbücher (u.a. Leipoldt / Grundmann 1965-67; Barrett / Thornton 1991; Berger / Colpe 1987; Schröter/Zangenberg 2013), die Reihe Studia ad Corpus Hellenistikum Novi Testamenti ab 1970 und die Herausgabe des „Neuer Wettstein“ von G. Strecker ab 1996.

2.2.2. Stil

Der Stil der neutestamentlichen Logien entspricht dem Stil der aramäischen und hebräischen Spruchweisheit: Passivum divinum, Parallelismus, Wortspiel, Paradoxien, Hyperbolik (Wendland 1912, 285; Bultmann 1957, 179f; Jeremias 1971, 20-38; Schwarz 1985, 121-158; Gnilka 1990, 32). Das Passivum divinum ist eine alttestamentliche Stilfigur, die im Frühjudentum zur Vermeidung der Namensnennung Jahwes vermehrt eingesetzt wird (Jeremias 1971, 20-24). Der Parallelismus membrorum zählt ebenfalls zu den Semitismen (Norden 1974, 365; Black 1982, 143-160).

Der synonyme Parallelismus wiederholt im zweiten Stichos den Gedanken des ersten Stichos mit synonymen Begriffen, z. B. in Mt 6,25. Der synthetische Parallelismus fügt wie in den Seligpreisungen im zweiten Stichos dem ersten Stichos eine Aussage hinzu, „die den Leitgedanken entweder ergänzt oder erklärt oder begründet“ (Schwarz 1985, 129). Der klimaktische Parallelismus führt die Aussage des ersten Stichos in einem zweiten und dritten Stichos, der den Hauptton trägt, weiter, z.B. in Mt 19,12.

Der antithetische Parallelismus stellt die beiden Stichoi in einen Gegensatz. Der antithetische Parallelismus wird von Jesus und der nachösterlichen Tradition deutlich bevorzugt (Jeremias 1971, 25-30), findet aber gleichfalls in der hellenistischen Spruchweisheit mit ihrer Vorliebe für Antithetik Verwendung, z.B. in den Parallelen zu Mk 2,27, und wird vom frühjüdischen Weisheitslernen ebenfalls geschätzt (Höffken 1986, 72-105).

Weitere Charakteristika der Worte Jesu sind die → Amen-Einleitung und → Abba-Anrede (Jeremias 1971, 44ff; vgl. Mt 11,11a; Mk 10,15;Mk 14,36; das Vater-Gebet Mt 6,9-13/Lk 11,2-4).

2.2.3. Indikative und imperative Gnomen Jesu

In den Gnomen nahm Jesus das frühjüdische und hellenistische Spruchgut auf, das für Frühjudentum und Hellenismus gesellschaftskritisch war und auf die Erfahrungsmöglichkeiten von Gottes neuem Handeln verwies. Die frühjüdische Weisheitstradition konnte Jesus aufnehmen, weil die Verschmelzung von weisheitlicher Ordnung der Welt und geschichtlichem Handeln Gottes in der Gesetzesoffenbarung am Sinai bereits vom Buch Jesus Sirach geleistet worden war (Sir 32,14-33,6) und weil die Apokalyptik diese gesetzeskundige Weisheit mit der Prophetie verband. Einige Gnomen sind allerdings nur im Hellenismus bekannt wie das Logion über das Verhältnis der Schüler zum Lehrer (Lk 6,40 / Mt 10,24f; Epikt., Ench. 51) und das Verbot des Schwörens (Mt 5,34; Epikt., Ench. 33,5) oder sind erst vom → Hellenismus ins Judentum gewandert wie der blinde Blindenführer (Lk 6,39 / Mt 5,14; Sextus Emp., Pyrrh Hyp III 259) und die goldene Regel (Lk 6,31 / Mt 7,12).

Jesus stellte mit singulärem Selbstbewußtsein den frühjüdischen, theologischen Randbegriff → Gottesherrschaft in das Zentrum seiner Botschaft. In eigenständiger Weise dynamisierte er die Metapher Gottesherrschaft zu einer personalen, aus der Zukunft andrängenden Größe.

Alle großen Themen der synoptischen Tradition sind in den Gnomen enthalten und denotativ oder konnotativ mit der Gottesherrschaft verbunden: Zuwendung zu den Sündern und Gesetzeskritik (Mk 2,17a.27 parr. u.ö.), machtvoller Anfang der Gottesherrschaft in Festfreude und Wundertätigkeit (Mk 2,19a; 3,27parr. u.ö.), Seligpreisungen der Armen und Machtlosen (Mt 5,3-10/Lk 6,20-26; Mk 10,14parr. u.ö.), Kritik der Reichen und Mächtigen (Mk 10,25parr.), Bruch mit Familie und Heimatdorf (Mk 6,4; 10,29parr. u.ö.), das neue Leben im Jüngerkreis (Mt 10,24f./Lk 6,40 u.ö.), das neue Handeln in der Gottesherrschaft als Entscheidungszeit (Mk 4,25parr. u.ö.), der unbedingte Gottesglaube (Mk 11,23parr.; Dormeyer 1993, 75-103). In diesen Themen klingt eine Soteriologie an. Jesu Proexistenz für die anderen lässt die Gottesherrschaft schon jetzt anbrechen; die Konsequenz dieser bedingungslosen Proexistenz ist aufgrund der Kritik des Gesetzes und seiner Verwalter der gewaltsame Tod Jesu, den dieser nicht sicher vorausweiß, wohl aber als Konsequenz seiner Praxis als unvermeidbar erwartet (vgl. die Gnome Mk 10,45; Oberlinner 1980, 155-168).

2.2.4. Paränetische Gnomen der Briefliteratur

Die Urgemeinde vermehrte nicht nur die Gnomen Jesu, sondern erweiterte sie auch um neue Formen wie den → Tugend- oder → Lasterkatalogen, den → Haustafeln und den Pflichtenkatalogen für → Presbyter, → Bischöfe und → Diakone. Die Urgemeinde füllte diese Formeln in eigener, apostolischer Autorität mit dem neuen Gehalt der eschatologischen, christlichen Verkündigung auf. Die Formeln übernahm die Urgemeinde von der alttestamentlich-jüdischen Spruchweisheit und der hellenistischen Popularphilosophie. Nach Dibelius blieb dieser Adaptionsprozeß ein Notbehelf der Gemeinde für nebensächliche Alltagssituationen und daher ohne christliche Durchdringung: „Die Ausbildung einer christlichen Ethik, d. h. eines Neubaus der Welt vom Evangelium aus, lag also nicht in ihrem Interessenkreis“ (Dibelius 1975, 141).Dieses Auseinanderreißen von ethischer Neugestaltung der Welt und hochgespannter Naherwartung lässt sich aber bereits von dem breiten Strom der Herrenworte her nicht halten. Schrage gibt den heutigen Konsens wieder, wenn er gegen Dibelius feststellt, dass die vorpaulinischen Judenhellenisten antike Formen und Inhalte der Ethik rezipiert, weiter­entwickelt und in ihre eschatologische Verkündigung integriert haben (Schrage 1982, 125f.).

2.2.4.1. Tugend- und Lasterkataloge

Die judenhellenistische Synagoge erwies sich als Vermittlerin von Tugend- und Lasterkatalogen, deren Form aus der hellenistischen Popularphilosophie stammte (Vögtle 1936, 201ff.). Lasterkataloge finden sich u. a. in 1Kor 5,10f.; 6,9f.; 2Kor 12,20f.; Gal 5,19-21; Röm 13,12-14; Kol 3,5-8; Mk 7,21f.; Eph 4,31; 5,3-5; 1Tim 1,9f.; 6,4; 2Tim 3,2-4; Offb 21,7f. Zu einer Diatribe gestaltete Paulus einen Lasterkatalog in Röm 1,18-32 aus. Außerdem kombinierte er den Lasterkatalog Gal 5,19-21 mit einem Tugendkatalog Gal 5,22f. und schuf damit die einzige unmittelbare Aufeinanderfolge von Laster- und Tugendkatalog (Vielhauer 1975, 51). Weitere christliche Tugendkataloge finden sich in Kol 3,12-14; Eph 4,2f.; Phil 4,8; 1Tim 4,12; 2Tim 2,22; 3,10; 1Petr 3,8; 2Petr 1,5-7.

Wie Jesu ermahnende Gnomen hatten die Tugend- und Lasterkataloge die Aufgabe, das neue Leben in der Gottesherrschaft an konkreten Verhaltensweisen zu veranschauli­chen und durch die Katalogisierung mnemotechnisch einzuprägen.

In den hellenistischen Regentenspiegeln sind die Tugend- und Lasterkataloge besonders ausgebaut worden (Dio Chrys. 1,15-35; 3,40-41). Die Regentenspiegel wiederum bilden die Grundlage für eine weitere Form der Paränese, für die Pflichtenkataloge, wie sie sich in den → Pastoralbriefen finden (Vögtle 1936, 74ff.).

2.2.4.2. Pflichtenkataloge

Die Pastoralbriefe führen Pflichtenkataloge auf für das Amt des Episkopos (1Tim 3,1-7), des Presbyters (Tit 1,5-9), des Diakons (1Tim 3,8-13) und der → Witwe (1Tim 5,3-16). Noch immer gilt das Urteil von Vögtle: „Das Schema der Pflichtenlehren dürften die Pastoralbriefe ziemlich eindeutig aus dem Hellenismus übernommen haben“ (Vögtle 1936, 237). Die populäre Moralphilosophie richtete nicht nur den Blick auf den Regenten, sondern auf alle Berufe und Stände (Dibelius 1966, 41ff.; Vögtle 1936, 78ff.). Die Verbindung von Berufseigenschaften mit allgemein menschlichen Qualitäten ist typisch für diese Pflichtenkataloge (Lukian, De saltatione 81; Dibelius 1966, 41). So gehen die Pflichtenkataloge der Pastoralbriefe auch kaum auf die spezifischen Qualifikationen der urchristlichen Ämter „Bischof“, zu dem der „Presbyter“ die sprachliche Variante bildet (Tit 1,6f.), „Diakon“ und „Witwe“ ein, sondern fordern Verhaltensweisen, die man „von jedem Menschen erwarten darf als Minimum rechtschaffenen Verhaltens und bürgerlicher Pflichterfüllung“ (Brox 1969, 140; vgl. Tit 1,5-9).

Lediglich die Aufträge zur Verwaltung des „Hauses Gottes“ und des „wahren Wortes“ gehen auf die speziellen Aufgaben eines Gemeindeleiters ein (Brox 1969, 149). Die anderen Tugenden und Warnungen vor Laster kennzeichnen lediglich die normalen bürgerlichen Pflichten. Trotz oder gerade wegen seiner Selbstverständlichkeit nimmt der Pflichtenkatalog einen zentralen Platz in der hellenistischen Moralphilosophie und Rhetorik ein (Vögtle 1936, 73ff.). Er bildet das axiologische Grundgerüst, ein Enkomion oder eine Biographie normgerecht auszugestalten (Dibelius 1966, 41). In den Progymnasmata nehmen daher die Anleitungen einen zentralen Platz ein, nach einem feststehenden Tugendkatalog Enkomien auf bekannte Persönlichkeiten der Vergangenheit oder auf zu ehrende Personen der Gegenwart stilgerecht zu üben (Theon 9).

Den Zusammenhang zwischen dem Pflichtenspiegel des Bischofs und Presbyters mit den Überlieferungen vom Wirken Jesu deuten die beiden amtsspezifischen Tugenden an. Wer Ökonom Gottes und Verwalter des wahren Wortes sein will, hat in der „Didache“ und „hygienischen Didaskalia“ zu bleiben, wie sie Jesus hinterlassen hat. Ohne auf die Evangelien explizit Bezug zu nehmen, wird schlaglichtartig deutlich, dass ein irdisches, ideales, „gesundes“ Leben Jesu für einen juden- und heidenhellenistischen Verfasser nur in Übereinstimmung mit dem normativen Pflichtenkatalog erzählbar ist. Diese Nähe von Pflichtenkatalog und Enkomion bedeutet aber nicht, dass die Evangelien nur Illustrationen eines enkomischen Pflichtenkatalogs sind (Lang 2012, 97-201).

2.2.4.3. Haustafeln

Haustafeln sind die Zusammenstellung von Gnomen zu den Pflichten der Mitglieder eines „Hauses“ (Gielen 1990, 62-67). Es wird hierarchisch differenziert nach den Ebenen Mann–Frau, Kinder, Sklaven. Wie die Pflichtenkataloge finden sich die Hausta­feln erst in den späten Briefen des NT: Kol 3,18-4,1par; Eph 5,22-6,9; 1Petr 2,18-3,12; 1Tim 2,8-15; Tit 2,1-10.

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