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(erstellt: September 2019)

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1. Alttestamentliche Reflexionen

In der Regel wird אָהַב, das hebräische Wort für „lieben“, in der Septuaginta mit αγαπάω (agapao) übersetzt. Lieben bezeichnet in der Tora eine emotionale Zugewandtheit von Person zu Person (vgl. Gen 22,2 von Abraham über seine Beziehung zu Isaak), die sich durch konkretes Handeln auszeichnet; ἀγαπάω ist in der Tora immer auf die zwischenmenschliche oder auf die Gott-Mensch-Beziehung bezogen. Dasselbe gilt für das Substantiv אַהֲבָה, beziehungsweise seine Übersetzung. Diese Liebe steht für einen respektvollen und ehrfürchtigen Umgang mit dem anderen und für das Tun der Gebote. So heißt es in Dtn 10,12: „Und nun, Israel, was fordert der HERR, dein Gott, von dir, als dass du den HERRN, deinen Gott, fürchtest, auf allen seinen Wegen gehst, ihn liebst und dem HERRN, deinem Gott, dienst von ganzem Herzen und von ganzer Seele“. So soll Gott geliebt werden (Dtn 6,5), aber auch der Nächste (Lev 19,18) und sogar der Fremde (Lev 19,34). Jesus übernimmt beide Liebesgebote und ihre Zusammenstellung zum Doppelgebot der Liebe aus der Tradition (Theißen, 2003). Der Mensch ist zur Liebe befähigt und kann unterschiedlich intensiv lieben. Gott soll er mit seinem ganzen Herzen und seiner ganzen Lebenskraft und mit all seiner Stärke lieben (Dtn 6,5). In der hebräischen Bibel steht das Herz für den Willen, die Lebenskraft (נֶפֶשׁ [Nephesch]: Kehle; Seele) für das Verlangen und die Kraft für die Fähigkeit, etwas auszurichten. Die Liebe, die anderen gegenüber emotional innig zugewandt ist, wird mit einem willentlichen, einem verlangendem und einem zum Handeln befähigenden Aspekt verbunden. Aufgrund dieser Aspekte kann „lieben“ zum Gebot werden. Ob die emotionale Dimension ebenfalls „geboten“ werden kann, ist fraglich.

2. Paulus

2.1. Bedeutung von Agape

Die Bedeutungsaspekte der Tora zum Verb αγαπάω schwingen im Neuen Testament überall mit. Paulus entwickelt eine ausgeprägte Liebestheologie (Söding 2014). Er gliedert mit Glaube, Liebe und Hoffnung seinen frühsten erhaltenen Brief (1Thess) thematisch (Wick). Inhaltlich konkretisiert er das Nächstenliebegebot explizit im Sinne der Bruderliebe (1Thess 4,9) in der Gemeinde. In den weiteren Briefen wird die Agape durch die Selbsthingabe von Jesus Christus bestimmt (Gal 2,20). Sein Sterben für alle konkretisiert die Liebe Christi und so auch die Liebe Gottes (2Kor 5,14). In Christus zeigt Gott, dass er „der Gott der Liebe und des Friedens“ (ὁ θεὸς τῆς ἀγάπης καὶ εἰρήνης [2Kor 13,11; vgl. V. 13]) ist. Gott zeigt seine Liebe dadurch, dass Christus „für uns“ gestorben ist (Röm 5,8). Die Liebe Christi schützt und trägt die Glaubenden und verbindet sie unauflöslich mit Christus (Röm 8,35.39). Zugleich kann Paulus die Liebe auch dem Geist zuschreiben (Röm 15,30).

In 1Kor hat Paulus die Reihenfolge gegenüber 1Thess umgestellt: Jetzt gilt Glaube, Hoffnung, Liebe. Liebe (ἀγάπη) ist für Paulus eng mit Sanftmut verbunden (1Kor 4,21). Liebe ist langmütig (2Kor 6,6), gütig, nicht neidisch, sie tut nicht groß und bläht sich nicht auf. Sie ist nicht unanständig, sucht nicht das ihre, lässt sich nicht erbittern und rechnet das Böse nicht zu (1Kor 13,4-5). Liebe erbaut den Bruder und die Schwester im Glauben (1Kor 8,1). Liebe steht auch in der Nähe zur Reinheit, Erkenntnis, Geduld und zum Heiligen Geist (2Kor 6,6). Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses (Röm 13,10). Sie ist die Fülle des Gesetzes (πλήρωμα νόμου ἡ ἀγάπη [Röm 13,10]).

Die Liebe steht für Paulus an der Spitze. Für ihn ist der Glaube an Jesus Christus die Grundlage der Gottesbeziehung, doch die Liebe steht in 1Kor im Gegensatz zum früheren 1Thess an dritter Stelle der Triade von Glaube, Hoffnung und Liebe und bildet die Klimax davon. Sie ist größer als der Glaube und die Hoffnung (1Kor 13,13). Die Liebe verbindet – wie der Glaube und die Hoffnung auch – die Gegenwart mit dem Eschaton. Doch der Glaube und die Hoffnung werden sich im Eschaton grundlegend zu einem schauenden Glauben und einer erfüllten Hoffnung verändern. Die Liebe hingegen bleibt bis in Ewigkeit so wie sie ist. Sie vergeht niemals (1Kor 13,8). Liebe muss für Paulus zu allem hinzukommen, sonst verliert alles andere seinen Wert, sogar der Glaube ist nichts ohne die Liebe (1Kor 13,2). Glaube und Liebe stehen einander nahe (1Thess 5,8: Brustpanzer des Glaubens und der Liebe).

In Gal 5,13 schreibt Paulus: „Dient einander durch Liebe“. Das Verb „dienen“ (wie ein Sklave; δουλεύω) kann für Paulus praktisch zum Synonym für die Agape werden. Der Sklave (Knecht) ist derjenige, der sich selbst in Liebe ganz hingibt. So kann die erste Hälfte des Christushymnus in Phil 2,5-8 zur Definition der Liebe Christi werden. Er „entäußerte sich selbst, indem er Sklavengestalt angenommen hat“ (Phil 2,7). Paulus und Timotheus ahmen Christus nach, indem sie sich als Sklaven Christi Jesu bezeichnen (Phil 1,1) und sich in Liebe ganz hingeben für die Gemeinden (Paulus: Phil 1,13; Phil 2,17; Epaphroditus: Phil 2,19-23).

Paulus stellt sich den Gemeinden immer wieder als Liebender vor. So segnet er die Korinther mit dem Gruß: „Meine Liebe sei mit euch allen in Christus Jesus“ (1Kor 16,24). Paulus liebt seine Gemeinden, was er immer wieder betont (2Kor 2,4; vgl. 2Kor 11,11; 2Kor 12,16). Die Glaubenden sind für Paulus von Gott geliebte Brüder und Schwestern. Ihnen gilt die Liebe Gottes in Jesus Christus uneingeschränkt. In der von Gott ausgehenden Liebe ist die Gemeinde untereinander verbunden. So spricht Paulus seine Adressaten oft als Geliebte, beziehungsweise Geliebte Gottes an (u.a. Röm 1,7; Röm 12,19; 1Kor 4,14; 1Kor 10,14; Phil 2,12; Phil 4,1; 1Thess 2,8) und bezeichnet auch einzelne Menschen, zu denen er eine besondere Beziehung hat, als Geliebte (u.a. Röm 16,5.8.12; Phlm 1).

Die Quelle der Liebe ist für Paulus Gott selbst. So ist die Agape für Paulus letztlich die Liebe Gottes. Wenn sie von Gott her durch den Heiligen Geist in die Herzen ausgegossen worden ist, so wird sie auch in den Menschen wirksam. Liebe ist offensichtlich etwas, was Gott den Menschen in Christus durch den Heiligen Geist verleiht (Röm 5,5).

2.2. Ethik

Als von Gott Geliebte sollen die Glaubenden nun selber lieben. In der Tradition der hebräischen Bibel spricht Paulus große Verheißungen aus für die, die Gott lieben. Solchen dienen alle Dinge zum Guten (Röm 8,28). Gott bereitet solchen Unvorstellbares vor (1Kor 2,9). Die Liebenden erkennt Gott (1Kor 8,3), wobei hier im „Erkennen“ über den hebräischen Begriff für erkennen (ידע) ebenfalls die Liebe mitschwingt. Allerdings gebietet Paulus nirgendswo direkt, Gott zu lieben. Die Liebe zu Gott scheint Teil der Liebe zum Mitmenschen zu sein.

Die selbsthingebende Liebe Christi definiert inhaltlich das Liebesgebot unter den Glaubensgeschwistern. Agape wird durch die Selbsthingabe Jesu mitbestimmt, ohne dass dadurch die oben genannten Aspekte verdrängt würden (Gal 5,14). Als Geliebte sollen die Glaubenden zu liebenden Subjekten werden: Sie sollen lieben. Ihnen gilt das Liebesgebot uneingeschränkt und radikal. Sie sollen nach der Liebe streben, die Liebe verfolgen (1Kor 14,1) und alles bei ihnen in Liebe geschehen lassen (1Kor 16,14). Sie sollen prinzipiell gemäß der Liebe handeln und leben (Röm 14,15; Phil 1,16; Phil 2,1f). Die Liebe soll Leitnorm ihres Handelns sein. Sie sollen einander immer noch mehr lieben (Röm 13,8). Das ganze jüdische Gesetz wird für Paulus im Nächstenliebegebot zusammengefasst: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Röm 13,9; Gal 5,14).

So kann er eine Gemeinde zur Liebe gegenüber einem der Glaubensgeschwister ermahnen (2Kor 2,8). Gott selbst lehrt sie, sich gegenseitig zu lieben (1Thess 4,9). Die Liebe der Glaubenden soll sich im Tun konkretisieren, so etwa in der Kollekte für Jerusalem (2Kor 8,8.24). Der Glaube der Glaubensgeschwister soll durch die Liebe wirksam werden (Gal 5,6). Paulus lobt Philemon aufgrund von dessen Agape (Phil 5.7.9). Die Liebe soll ungeheuchelt sein. Offensichtlich sieht Paulus die Gefahr, dass jemand seine Liebe nur vortäuscht. Es gibt auch unechte Agape (Röm 12,9).

Zur Liebesethik des Paulus gehört auch eine Liebeskompetenz. Für die Gemeinde in Philippi betet er, dass „eure Liebe mehr und mehr überfließe an Erkenntnis und aller Einsicht, damit ihr prüft, worauf es ankommt ...“ (Phil 1,9f). Wer sich selbst hingibt, kann das nicht unbegrenzt tun. Die eigene Körperlichkeit bildet eine deutliche Grenze. Die volle Lebenshingabe ist nur einmal möglich und verhindert jeden weiteren Liebesdienst. Deshalb muss sich Paulus in Gefangenschaft auch entscheiden, ob er sterben oder bleiben will, um den Philippern zu dienen (Phil 1,22-25). So geht es für Paulus nicht darum, immer mehr Liebe zu haben, sondern auch darum, seine Liebe immer kompetenter einzusetzen.

Zur Liebe gehört Freiheit (vgl. Gal 5,1). Freiheit bildet eine der Voraussetzungen für die Möglichkeit, zu lieben. Folgerichtig mahnt Paulus zwar immer wieder prinzipiell zur Liebe, aber er befiehlt nirgends eine konkrete Liebestat. Dies wird der Grund sein, weshalb er der Gemeinde in Korinth beim Mahl des Herrn nicht befiehlt, die mitgebrachten Speisen zu teilen (1Kor 11,34). In 1Kor ordnet er viel Konkretes an, was zu Anstand und Ordnung gehört, eine eigentliche Liebesethik aber hält er zurück, denn diese wäre feste Speise für die Vollkommenen, und dazu gehören die Korinther noch nicht. Allerdings gibt er dann doch in 1Kor 13 einen konzentrierten Einblick in eine solche Ethik.

Am Konkretesten mahnt Paulus zur Kollekte in 2Kor. Diese soll eine Liebestat sein. Doch gerade hier schreibt er explizit, dass er diese Sammlung niemandem befiehlt (2Kor 8,8), sondern dass diese sich in Freiwilligkeit äußern soll (2Kor 8,9-12). Wer gibt, soll freiwillig geben, denn einen fröhlichen Geber liebt Gott (2Kor 9,7). Liebe steht in der dynamischen Spannung zwischen Freiwilligkeit und Norm.

2.3. Paulinische Liebetheologie und Liebesethik als Koinoniatheologie: Liebe im Gott-Mensch-Zusammenhang

Gott liebt die Menschen und gibt Jesus Christus für sie hin. Dieser gibt sich zugleich selber ganz hin für die Menschen. Der Mensch kann sich diese Liebe nicht erwerben. Diese Liebe ist deshalb ein unverdientes Geschenk von Rettung, Heil und Wiederherstellung, eine Gnade (χάρις [charis]; Röm 3,24). Die Menschen sollen auf dieses Liebesgeschenk zuerst nicht mit Liebe reagieren, sondern sie sollen es umsonst empfangen. Der Leitbegriff des Paulus für dieses Empfangen ist Glaube (πίστις [pistis]; Röm 1,17). Doch als Glaubende und damit als solche durch die Gnade Beschenkten werden sie ermächtigt, mit dieser durch das göttliche Heilshandeln bestimmten Agape nun ihrerseits ihre Glaubensgeschwistern und ihre „Nächsten“ zu lieben. Ohne etwas zurückzuverlangen sollen sie die Mitmenschen lieben und sich für diese hingeben. Die Liebe zu Gott hingegen fordert Paulus nicht direkt, sondern schreibt ihr Verheißungen zu.

Die Liebe von Gott zu den Menschen und die von den Gott geliebten Menschen zu den Mitmenschen erwartet nichts zurück. Dennoch will sie zu einer reziprok agierenden Gemeinschaft führen, in der die Liebe als Gabe Gottes zuerst von Gott an die Menschen und dann von diesen untereinander weitergeben wird, sodass zuletzt das gemeinsame Lob von vielen zu Gott emporsteigt (Phil 1,11; Phil 2,11; Phil 4,20). In diesem Kontext taucht ein Reziprozitätsgedanken auf. Die Liebesgabe muss erwidert werden (vgl. Barclay), wenn sie zur wechselseitigen Gemeinschaft beitragen soll. Dafür ist für Paulus die Kollekte bestimmt, die wie sein Evangelium unverdiente Gabe (χάρις; 2Kor 8,6) und freiwillige Liebe ist und zugleich in reziproker Weise eine Gleichheit des Empfangens und Gebens herstellen will (2Kor 8,13ff; vgl. zum Reziprozitätsaspekt der Liebe auch 2Kor 12,15). Die Kollekte als Gabe der paulinischen Gemeinden soll Gemeinschaft zwischen diesen und der Jerusalemer Gemeinde, von der das Evangelium ausgegangen ist und durch die die nichtjüdischen Gemeinden Anteil am Erbe Israels bekommen (Röm 10,27), stiften und fördern.

In Phil lobt Paulus seine Adressaten dafür, dass ihre Gaben seine Gaben ausgleichen. Er hat ihnen das Evangelium gebracht, sie haben ihn schon mehrfach materiell und mit Epaphroditus (Phil 2,25-30) auch personell unterstützt. Paulus kann diese ganz auf Freiwilligkeit beruhenden Gaben in ökonomische Sprache fassen und von der Rechnung des Gebens und Nehmens sprechen (Phil 4,15). Durch gegenseitiges Geben und Nehmen entsteht Gemeinschaft. Auf Liebe beruhende Koinonia wächst durch freiwilliges, ungeschuldetes Geben und Schenken (vgl. χάρις). Wenn dieses wechselseitig ist, dann ist eine Agape-Gemeinschaft realisiert.

3. Agape im Eph, Kol, 2 Tim und den Pastoralbriefen

Der Epheserbrief unterstreicht die Liebe zwischen Gott, dem Vater, und Jesus Christus als seinem Geliebten (Eph 1,6). Liebe ist der Grund für Gottes Heilshandeln am Menschen (2,4). Gott erwählt die Menschen zugleich zum Heil und dazu, in der Liebe zu wandeln (1,4). Liebe ist der Leitwert für das Zusammenleben (1,15; 3,19; 4,15) in der Gemeinde (4,16). Die Glaubenden sollen die selbsthingebende Liebe Christi nachahmen (5,2). Diese Liebesethik wird auf die Ehe übertragen. Mit dieser Liebe sollen die Männer ihre Frauen lieben (5,25) und zugleich ihre Liebe als Selbstliebe verstehen (5,33). Es ist eine besondere Leistung des Epheserbriefes, dass er die Agape so explizit mit der Ehe verbindet.

Im Kolosserbrief wird die ethische Bedeutung der Liebe in der Gemeinde hervorgehoben (Kol 1,4.8). Sie ist das Band der Vollkommenheit, das alle zusammenhalten kann (Kol 3,14; ähnlich 2,2). In 2Thess liegt der Fokus ebenfalls auf der Nächstenliebe, doch die Glaubenden sollen zugleich auch auf die Liebe Gottes ausgerichtet sein (2Thess 1,3; 2,10; 3,5). Auch in den Pastoralbriefen nimmt die Liebe in ethischer Hinsicht den Spitzenplatz ein: „Das Ziel der Weisung ist die Liebe“ (1Tim 1,5; vgl. 2,15; 4,12; 6,11; 2Tim 2,22; 3,10; Tit 2,2). Zugleich werden die Glaubenden durch die Selbsthingabe und Liebe Christi zur Liebe befähigt (1Tim 1,14). Liebe ist eine Gabe Gottes (2Tim 1,7).

4. Synoptische Evangelien

Die synoptischen Evangelien sprechen bemerkenswerter Weise nicht von der Liebe Gottes zu den Menschen. Die Zugewandtheit Gottes zu den Menschen wird in anderer Terminologie ausgedrückt. Der Stamm αγαπ- spielt wortstatistisch eine relativ marginale Rolle. Den inhaltlichen Schwerpunkt bildet die Verknüpfung von Gottesliebe- und Nächstenliebegebot.

4.1. Markusevangelium

Die Frage nach dem ersten Gebot und die Antwort Jesu mit dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mk 12,28-34) findet sich im Markusevangelium im Kontext von Streitgesprächen, die Jesus mit verschiedenen Gruppierungen des zeitgenössischen Judentums (Hohenpriester, Schriftgelehrte, Älteste, Pharisäer, Anhänger des Herodes, Sadduzäer) im Tempel (11,27; 12,35) führt (11,27-12,37). Der Jesus wohlgesinnte Schriftgelehrte lobt Jesus für seine Antwort und greift diese paraphrasierend und kommentierend auf. Darauf wiederum reagiert Jesus mit der Aussage, der Schriftgelehrte sei nicht fern vom Reich Gottes (11,34). Jesus und der (vermutlich der Partei der Pharisäer zugehörige) Schriftgelehrte stimmen im Blick auf die Bedeutung von Gottes- und Nächstenliebe und ihre Zuordnung zueinander grundlegend überein.

Analogien zum Doppelgebot der Liebe im antiken Judentum stellen Zusammenfassungen der Tora bzw. ethische Kernsätze dar, die den Inhalt der Tora auf den Punkt zu bringen suchen. Insbesondere in der hellenistisch-jüdischen Schrift der Testamente der Zwölf Patriarchen finden sich Zusammenstellungen von Gottes- und Nächstenliebe, allerdings ohne explizite Nennung und Nummerierung des jeweiligen Gebots. So gibt z.B. der sterbende Patriarch Issachar seinen Söhnen folgende Mahnung mit auf den Weg: „Liebt aber den Herrn und euren Nächsten …“ (TestIss 5,2; vgl. TestDan 5,3; TestBenj 3,3f.; TestSeb 5,1; TestJos 11,1; TestIss 7,6). Zusammenfassungen ethischer Kernsätze finden sich darüber hinaus nicht nur in den synoptischen Evangelien, sondern auch im rabbinischen Schrifttum. So ruht nach Auffassung Simon des Gerechten die Welt auf drei Dingen, der Tora, dem Kult und den Liebeserweisen (mAv 1,2), und Matthäus kann das, was die Tora in ihrem Innersten ausmacht, sowohl im Doppelgebot der Liebe (Mt 22,34-40) als auch in der Trias „Recht, Barmherzigkeit und Treue“ (κρίσις, ἔλεος, πίστις), die für ihn zu „den gewichtigeren Dingen“ (τὰ βαρύτερα τοῦ νόμου) in der Tora zählen (Mt 23,23), zusammenfassen. Hier klingt eine Hierarchisierung von Geboten an (vgl. Mt 5,18-19), die auch durch die Charakterisierung von Gottes- und Nächstenliebe als erstes (Mk 12,29) und zweites Gebot (Mk 12,31) bzw. die Überordnung dieser beiden Gebote über die anderen Gebote gegeben ist (Mk 12,31).

Gegenüber den Parallelen im antiken Judentum sticht im Markusevangelium (Mk 12,30f.) das jeweils explizite Zitat der Stellen Dtn 6,4f bzw. Lev 19,18 heraus, die über das Verb „lieben“ miteinander verbunden werden. In der Anwendung eines Analogieschlusses (gezera shawa) treibt der markinische Jesus proto-rabbinische Schriftauslegung. Dabei fällt auf, dass es sich bei Dtn 6,4 formal nicht um ein Gebot, sondern um das Bekenntnis Israels zur Einzigkeit Gottes handelt (Schema Israel). Im Neuen Testament findet sich ein Zitat von Dtn 6,4 nur an dieser Stelle. Das Bekenntnis zu Gott geht dem Gebot, Gott mit der ganzen Person zu lieben, voran. Das Gebot der Gottesliebe (Dtn 6,5) verbindet Jesus mit dem Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18. Das Gebot der Gottesliebe ist das erste, das Gebot der Nächstenliebe das zweite Gebot. Auch wenn beide Gebote gemeinsam über allen anderen Geboten stehen (V. 31), fallen sie dennoch nicht einfach ineinander: Vielmehr ist die Gottesliebe bzw. das ihr vorangehende Bekenntnis zur Einzigkeit Gottes die Grundlage für die Gestaltung zwischenmenschlicher Sozialität. Gottesliebe und Nächstenliebe sind so unterschieden und gleichzeitig untrennbar miteinander verknüpft.

In seinem Kommentar zur Antwort Jesu (11,32-33) wiederholt der Schriftgelehrte mit eigenen Worten den Verweis auf die Einzigkeit Gottes und bindet Gottesliebe und Nächstenliebe durch die Auslassung der Nummerierung noch enger aneinander als Jesus selbst. Er ist es auch, der sich in die Tradition prophetischer Kultkritik stellt und das sozialethische Gebot der Nächstenliebe den kultischen Geboten vorordnet. Allerdings steht nicht das Doppelgebot der Liebe, sondern die darüberhinausgehende Leidensnachfolge der Schülerschaft Jesu (8,34-38; 9,33-37; 10,35-45) im Zentrum der markinischen Ethik. Die einzige andere Stelle, an der im Markusevangelium das Verb „lieben“ vorkommt, ist innerhalb der Erzählung vom reichen Jüngling (10,21). Sie zeigt die emotionale Zugewandtheit Jesu: Jesus gewinnt den reichen Jüngling, der von Jugend an die Gebote befolgt hat, lieb. Das Substantiv ἀγάπη fehlt ganz.

4.2. Matthäusevangelium

Die gegenüber der Markusvorlage gesteigerte Bedeutung des Nächstenliebegebots (Lev 19,18) zeigt sich im Matthäusevangelium vor allem daran, dass der Evangelist es nicht nur im Kontext der Frage nach dem höchsten Gebot (Mt 22,34-40), sondern auch an zwei weiteren Stellen zitiert: So entwickelt er im sechsten Kommentarwort (Mt 5,43-48) das Feindesliebegebot explizit aus dem Nächstenliebegebot (allerdings fehlt hier das „wie dich selbst“) und fügt das Gebot der Nächstenliebe darüber hinaus auch in die Erzählung über den reichen Jüngling (Mt 19,16-22) ein, der er auf diese Weise seine eigene Handschrift verpasst.

Die matthäische Version der Frage nach dem höchsten Gebot (Mt 22,34-40) unterscheidet sich vor allem atmosphärisch von ihren synoptischen Parallelen. Wie die als versucherisch charakterisierte Frage nach dem höchsten Gebot (V. 35) und der unterbleibende Austausch zeigt (der Schriftgelehrte kommt nach der Frage nicht mehr zu Wort), ist Matthäus allein an der Differenz zwischen dem Schriftgelehrten und Jesus interessiert. In inhaltlicher Hinsicht sticht die explizite Gleichordnung des Nächstenliebegebots mit dem Gebot der Gottesliebe hervor: Hierin spiegelt sich die für den Evangelisten zentrale Priorisierung sozialethischer gegenüber kultischen Bestimmungen und darin die Differenz zu den Pharisäern wider. Diese Priorisierung der Ethik findet ihren prägnantesten Ausdruck in der zweifach redaktionell eingefügten und komparativisch zu verstehenden Aussage aus Hos 6,6: „Barmherzigkeit will ich und keine Opfer“ (9,13; 12,7; zur Priorisierung sozialethischer Bestimmungen vgl. auch Mt 5,23-24; 15,1-9; 23,23). Dass das Gebot der Gottesliebe trotz der Gleichordnung des Nächstenliebegebots das größte und erste bleibt (V. 38), impliziert die Verschränkung von Gottesliebe und Nächstenliebe: In der Hinwendung zum Nächsten erfolgt die Hingabe an Gott. Als Gottesliebe kann die Nächstenliebe der Gottesliebe gleichgestellt und letztere weiterhin erstes und größtes Gebot bleiben. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Gottesliebe bei Matthäus exklusiv verstanden wird (Mt 6,24) und auch Vater und Mutter nicht mehr geliebt werden dürfen als Jesus (Mt 10,37; hier allerdings phileo). Neu gegenüber der Markusvorlage ist auch die Aussage, dass am Gottesliebe- und Nächstenliebegebot Tora und Propheten hängen (22,40). Die beiden Liebesgebote aus der Tora werden zum hermeneutischen Schlüssel der ganzen Torainterpretation. Umgekehrt gilt auch: Wenn die Gesetzlosigkeit zunimmt, erkaltet die Liebe (Mt 24,12).

Den Torabezug der matthäischen Ethik unterstreichen insbesondere die Kommentarworte Jesu (5,21-48; veraltet und falsch: Antithesen; vgl. Vahrenhorst, Wengst), die auf das Gebot der Feindesliebe (5,43-48) als ihren Höhepunkt zulaufen. Die Feindesliebe ist hervorragendster Ausdruck der von Jesus geforderten „größeren“ Gerechtigkeit (5,20), die über die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer im Sinne eines „Mehr“ hinausgehen soll. So versteht der Evangelist das Feindesliebegebot als Ausweitung des Gebots der Nächstenliebe, das er verkürzt zitiert und mit einer vulgärethischen Maxime verbindet, die kein Bestandteil von Lev 19,18 ist: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben‘ und deinen Feind hassen“ (Mt 5,43). Das konkrete „Mehr“ besteht hier darin, dass nicht nur der Freund, sondern auch der Feind geliebt wird, eine Forderung die halachisch nicht justitiabel ist. Die so verstandene, über die Nächstenliebe hinausgehende Feindesliebe orientiert sich an der Vollkommenheit des Schöpfers selbst (V. 48), der allen seinen Geschöpfen unabhängig von ihrer moralischen Disposition (gut/böse bzw. gerecht/ungerecht) das zum Leben Notwendige, im Bild: Sonne und Regen, gewährt (5,45). Feindesliebe wird hier als Durchbrechung negativer Reziprozität auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen verstanden (vgl. auch Mt 5,38-42), der auf der Ebene der Gottesbeziehung Gegenseitigkeit entspricht (vgl. insbesondere die Rede vom „Lohn“ in V. 46, der Mt 5,43-48 mit dem folgenden Abschnitt 6,1-18 verbindet). Jesu Weisung zur Feindesliebe kritisiert ebenso wenig wie im Lukasevangelium den Gegenseitigkeitscharakter sozialer Beziehungen, sondern das Fortschreiben von Feindschaft (vgl. Maschmeier). Als Konkretionen der alltagsweltlich relevanten Feindesliebe nennt der Evangelist die Fürbitte für die Verfolger (V. 44) und das Grüßen deren, die nicht zu den „Geschwistern“ gehören (V. 47).

Das Verständnis ethischer Vollkommenheit als das eines „Mehr“ findet sich sowohl im sechsten Kommentarwort (Mt 5,43-48) als auch in der Erzählung vom reichen Jüngling (Mt 19,16-22). Ausgangspunkt der Erzählung ist die Frage eines jungen Mannes, was er tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen (V. 16). Jesus antwortet mit einer Aufzählung der sozialethischen Dekaloggebote, denen er das Gebot der Nächstenliebe hinzufügt (V. 18-19). Die Mehrzahl der Forscher geht davon aus, dass das positiv formulierte Gebot der Nächstenliebe den apodiktischen und negativ formulierten Verboten des Dekalogs gegenübersteht und ihm als solches eine Sonderstellung zukommt (allerdings ist auch das von Jesus in V. 19 aufgeführte, dem Nächstenliebegebot unmittelbar vorangehende Gebot, Vater und Mutter zu ehren, positiv formuliert). Der matthäische Jesus aber fordert auch hier ein „Mehr“: Über die Beobachtung der genannten Gebote hinaus, der der reiche Jüngling nachgekommen ist (V. 20), soll er als Ausdruck seiner Vollkommenheit seinen Besitz verkaufen, den Erlös den Armen zu gute kommen lassen und Jesus nachfolgen (V. 21). Dieses „Mehr“ der Wohltätigkeit geht aber in der Darstellung des Evangelisten über die Beobachtung der Toragebote hinaus (anders Konradt). Damit reklamiert er für seine Gemeinde, was auch der erst später anzusetzenden rabbinischen Literatur zu entnehmen ist: Gerechtigkeits- und Liebeserweise gegenüber dem Nächsten treten an die Stelle des nicht mehr möglichen Tempelgottesdienstes.

Es zeigt sich: Liebe und Barmherzigkeit sind im Matthäusevangelium eng mit der Tora und Gerechtigkeit verknüpft.

4.3. Lukasevangelium

Auch im Lukasevangelium besitzt die Gottes- und Nächstenliebe zentrale Bedeutung für das ethische Handeln der Adressaten. Lukas bietet das Doppelgebot der Liebe bereits zu Beginn des Reiseberichts als Antwort auf die Frage eines Toragelehrten (νομικός), was er tun müsse, um das ewige Leben zu ererben (Lk 10,25). Jesus lässt sein Gegenüber die Antwort selbst finden: Er fragt ihn danach, was er zu seinem Anliegen in der Tora (νόμος) finde und wie er das Gelesene versteht: „Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du (es)?“ (V. 26). Der Toragelehrte antwortet mit dem Gottesliebe- und dem Nächstenliebegebot, die hier als eins erscheinen: So werden die beiden Gebote sprachlich-syntaktisch durch ein „und“ miteinander verknüpft und zudem durch den gleichen Imperativ (ἀγαπήσεις) regiert. Dementsprechend fehlt die in der Markusvorlage vorhandene Gewichtung als erstes und zweites Gebot. Der erste Gesprächsgang endet damit, dass Jesus der Antwort des Toragelehrten zustimmt und ihn auffordert, seiner Antwort entsprechend zu handeln, dann werde er leben. Der Gesprächspartner stimmt mit Jesus überein.

Ausgehend von der Frage des Toragelehrten, wer denn sein Nächster sei (V. 29), schließt sich ein zweiter Gesprächsgang an. Jesus antwortet mit der Parabel vom barmherzigen Samariter (V. 30-35) und verknüpft seine Erzählung mit der rhetorischen Frage, welcher der drei potentiellen Helfer (Priester / Levit / Samariter) dem von den Räubern Geschlagenen zum Nächsten geworden ist (V. 36). Die Antwort des Toragelehrten, lautet: „Derjenige, der Barmherzigkeit an ihm tat“ (V. 37). Lukas konzeptualisiert Nächstenliebe als Barmherzigkeit, wobei diese wesentlich durch drei Charakteristika gekennzeichnet ist: Sie sieht hin (V. 33) und nicht weg (V. 31.32), sie lässt sich vom Leid der Mitmenschen affizieren (V. 33) und sie wird helfend tätig, insbesondere auch unter Einbezug des eigenen Besitzes (V. 34-35). Affekt und Handeln sind hier intrinsisch miteinander verknüpft.

Mit seiner an die Parabel vom barmherzigen Samariter anschließenden Frage, wer dem Gewaltopfer zum Nächsten geworden sei (V. 36), dreht Jesus die ursprüngliche Fragerichtung seines Gesprächspartners um und lenkt sie auf das Subjekt der Hilfe. Wie das Beispiel des Samariters zeigt, ist die liebevolle Zuwendung zum konkreten Nächsten wichtiger als die kultischen Bestimmungen des Priesters und der Leviten (so Matthias Konradt im Anschluss an Michael Wolter).

Dem Gebot der Nächstenliebe korrespondiert das Feindesliebegebot innerhalb der Feldrede (Lk 6,20-48). Das Feindesliebegebot (6,27.35) bildet hier einen Rahmen um konkrete Forderungen nach einem Verhalten, dass negative Gegenseitigkeit durchbricht (6,27-29) und positive Gegenseitigkeit nicht auf die eigene Gruppe beschränkt (6,31-34): Auch Feinde und Undankbare und Böse (V. 35), von denen keine positive Reaktion auf das eigene Verhalten zu erwarten ist, sollen in Entsprechung zum Verhalten Gottes (V. 35) so behandelt werden, wie man selbst von seinen Mitmenschen behandelt zu werden wünscht: „Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so tut ihnen auch!“ (V. 31) Im Zentrum des durch die Feindesliebegebots gerahmten Abschnitts findet sich eine positive Fassung der Goldenen Regel.

Das Verhältnis des Feindesliebegebots zur Goldenden Regel ist in der Forschung häufig problematisiert worden. So schien der Charakter einseitiger und selbstloser Feindesliebe so gar nicht zum Gegenseitigkeitscharakter der Goldenen Regel zu passen, den Albrecht Dihle in seiner grundlegenden Monographie durch die Verortung der Regel im antiken Reziprozitäts- bzw. Vergeltungsdenken herausgestellt hatte. Ein Ausweg aus diesem Dilemma bot die Annahme, die Goldene Regel ziele im Lukasevangelium gar nicht auf Gegenseitigkeit, sondern erhalte ihre inhaltliche Füllung vom Feindesliebegebot her: Dass die Goldene Regel sich nicht am faktischen Verhalten des Mitmenschen orientiert, wurde als prinzipielle Kritik an einem Verhalten verstanden, das auf Gegenseitigkeit zielt (u.a. Bovon; Klein; Kollmann, trotz seiner Rede von „intendierter Gegenseitigkeit“).

Ein anderes Verständnis des Feindesliebegebots in seinem Zusammenspiel mit der Goldenen Regel hat Wolfgang Stegemann vorgeschlagen. Stegemann geht davon aus, dass die Goldene Regel auf durch positive Gegenseitigkeit gestaltete solidarische Beziehungen zielt und die Feindesliebeforderung somit im Rahmen antiken Reziprozitätsdenkens verstanden werden will. Das Feindesliebegebot fordere zwar Reziprozitätsverzicht, allerdings mit dem Ziel „soziale Feinde in die Solidaritätsbeziehung der Reziprozität wieder zurückzuholen“ (Stegemann, 2012, 77; ähnlich vor Stegemann bereits Kirk). Zudem sieht er die Gottesbeziehung und die zwischenmenschlichen Beziehungen darin verschränkt, dass Gott als dritter im Bunde an Stelle der zur Reziprozität Unfähigen oder Unwilligen vergilt. So wird denjenigen, die ihre Feinde lieben und nicht mit einer positiven Reaktion rechnen dürfen, eine Statuserhöhung als Lohn verheißen: Sie werden Söhne des Höchsten genannt werden (Lk 6,35). Recht und Liebe gehen bei Lukas Hand in Hand (Lk 11,42).

Wie bereits die Parabel vom barmherzigen Samariter eindrücklich gezeigt hat, wird Liebe im Lukasevangelium als emotionale Zugewandtheit verstanden, die sich in tätiger Hingabe konkretisiert. Der Hauptmann von Kapernaum finanziert aus Liebe zum jüdischen Volk die Synagoge der Stadt (Lk 7,5). Aus Liebe küsst und salbt die „Sünderin“ Jesus die Füße (7,42.47). Liebe umfasst so auch den Aspekt des Verlangens und Ausgerichtetseins des Willens. Die Pharisäer werden vor einem falschen Liebesverlangen nach den ersten Sitzen in den Synagogen und den Begrüßungen auf dem Markt gewarnt (Lk 11,43). Im Blick auf die Gottesbeziehung wird wie bei Mt Exklusivität beansprucht (Lk 16,13).

4.4. Johannesevangelium

Im Gegensatz zu den Synoptikern sind „Liebe“ und „lieben“ zentrale Begriffe für das Johannesevangelium. Gott ist derjenige, der liebt. Hervorragendster Ausdruck seiner Liebe gegenüber der Welt ist, dass er seinen einziggeborenen Sohn gibt zur Rettung für alle, die an ihn glauben (Joh 3,16). Gottes Liebe will das Leben der Menschen.

Liebe ist eng mit Geben und Gaben verbunden. Gott liebt die Welt, der er seinen Sohn als Gabe gibt (3,16). Seinem Sohn gibt er „alles“ als Gabe (Joh 3,35). Auch der Sohn gibt. Er gibt sein Leben. Dieses gegenseitige Geben ist Ausdruck der Liebe und der Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn. Der Autor kann dies sogar als Bedingung der Liebe und als Gebot des Vaters bezeichnen (Joh 10,17f). Zugleich ist die Lebenshingabe Jesu Gabe an seine Schüler, die in diesem Zusammenhang als Freunde bezeichnet werden (Joh 15,13). Die Gemeinde ist eine Liebesgabe des Vaters an Jesus (17,26).

Gott als Vater ist die Quelle der Liebe, die den Menschen ermöglicht, richtig zu lieben (Joh 8,42). Für das Johannesevangelium ist es fundamental wichtig, dass die Menschen die Liebe Gottes in sich haben (Joh 5,42). Dafür muss der Mensch aus Gott geboren sein (Joh 1,13).

Im Johannesevangelium sind Gott und die Menschen über Christus miteinander verbunden. Wie in einer top down Bewegung liebt Gott seinen Sohn (3,35) und dieser seine Schüler (Joh 15,9; 17,26; vgl. 15,10). Diese Bewegung geht auch in die andere Richtung. In Liebe und Gehorsam gegenüber Jesus zeigt sich die Liebe zu Gott. In der Gemeinschaft mit seinem Sohn haben die Jesusanhänger Gemeinschaft mit dem Vater: „Wer meine Gebote hat und sie hält, jener ist es, der mich liebt. Wer aber mich liebt, wird vom Vater geliebt, und ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren“ (Joh 14,21; vgl. 14,23f). Gleichzeitig gilt auch: In der Gemeinschaft untereinander haben die Schüler Gemeinschaft mit Jesus. Die Liebe Gottes zum Sohn und die Liebe vom Sohn zu den Schülern ist normativ für deren Liebe untereinander (Joh 15,9.12.17).

Liebe und Gebote sind unauflöslich miteinander verbunden (Joh 15,10). Wer Jesus liebt, hält seine Gebote (Joh 14,15.21). Doch der Plural der Gebote wird zugleich auf das eine Liebesgebot konzentriert. Dieses ist das Gebot Jesu (Joh 15,12). Jesus bezeichnet es als sein neues Gebot. Das Liebesgebot soll von den Schülern durch gegenseitige Liebe gelebt werden. Inhaltlich wird es durch die Liebe Jesu zu seinen Schülern gefüllt (Joh 13,34). Diese zeigt sich exemplarisch in der demütigen und sich hingebenden Liebe Jesu bei der Fußwaschung (Joh 13,3-17).

Die Menschen, die nicht zur Schülergemeinschaft gehören, erkennen an der Liebe unter den Jüngern, dass diese zu Jesus Christus gehören (13,35). Die Liebe ist das Erkennungszeichen der Schülerschaft Jesu. Gelingende Liebe zeigt sich an der Einheit der Gemeinde, an welcher die Welt sowohl die Liebe Jesu zur Gemeinde als auch die Liebe des Vaters zu Jesus erkennt (Joh 17,23).

Liebe ist treu (Joh 13,1). Liebe gibt dem anderen Raum und lässt ihm die Freiheit (Joh 14,28). Liebe ist ein starkes Ausgerichtetsein. Wenn Liebe nicht auf das Gute ausgerichtet ist, dann gibt sie dem Bösen Raum und Gestalt (Joh 3,19; 12,43).

Als Ausdruck emotionaler Zugewandtheit findet sich Liebe in Joh 11,3.5. Jesus liebt die Geschwister Martha, Maria und Lazarus. Auch seinen Schülern gegenüber ist er voller sich hingebender Liebe (Joh 13,1). Aus dem Schülerkreis wird aber ein einzelner herausgehoben. Er ist derjenige, den Jesus liebt und der beim Mahl an seiner Brust liegt (Joh 13,23; 19,26; 21,7.20). Offensichtlich gibt es unterschiedliche Intensitäten der Liebe Jesu.

Ein eigentümliches Phänomen findet sich strukturell im Johannesevangelium. Während es in diesem Evangelium vor allem darum geht, zum Glauben an Jesus Christus als Sohn Gottes zu kommen, ist das Thema Liebe vor allem auf Jesu Gespräch mit Nikodemus (Joh 3,1-21) und die Abschiedsreden (Joh 13-17) begrenzt. Diese Reden finden in der Nacht statt. In der Dämmerung am Morgen fragt Jesus den Petrus dreimal, ob er ihn liebt (Joh 21,15-17). Offensichtlich stehen sich Liebe und Glaube polar auch im Gegensatz von Nacht und Tag gegenüber. Sie sind nicht dasselbe, sondern ergänzen sich gegenseitig.

5. Johannesbriefe

Eine vergleichbare Polarität findet sich auch in den Johannesbriefen. Der Stamm αγαπ- steht in 2Joh und 3Joh von der Häufigkeit her dem Stamm ἀλήθ- (wahr, wahrhaftig, Wahrheit) symmetrisch gegenüber. In 1Joh ist Gott – ganz parallel formuliert – sowohl Licht als auch Liebe (1Joh 1,5; 4,8.16). Licht, Wahrheit und Glauben werden der Liebe gegenübergestellt und mit ihr verbunden (3,23). „Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht“ (1Joh 2,10).

Gott ist der Liebende, der in Jesus Christus seine Liebe erweist. Die so Geliebten werden zur Gottesliebe aufgefordert, die zugleich immer auch Liebe zu Jesus und Glauben an ihn ist (1Joh 5,1f).

1Joh fokussiert ähnlich wie Joh auf die Bruderliebe, die als die Erfüllung des Liebesgebotes verstanden wird. Dieses ist zugleich das alte und das neue Gebot (1Joh 2,7.8.10; vgl. 3,23; in 2Joh 5 ist es nur das alte), das der Gemeinde von Anfang an verkündet worden ist (1Joh 3,11; so auch 2Joh 6). Inhaltlich kann die Liebe als Lebenshingabe für die Brüder in der Nachahmung der Lebenshingabe Jesu Christi verstanden werden (1Joh 3,16). Liebe konkretisiert sich im Tun und in der Wahrheit (1Joh 3,18). Mit der Liebe wird auch die Gerechtigkeit und das Tun der Gebote verknüpft (1Joh 3,10.23). Das Tun der Gebote ist nicht schwer (1Joh 5,3). Gottes Liebe ist mit der Bruderliebe verschränkt. Gottes Liebe ermöglicht die Liebe unter den Glaubensgeschwistern (1Joh 4,7.19). Sie findet ihren Ausgangspunkt in der Sendung des einziggeborenen Sohnes zur Versöhnung für die Sünden (1Joh 4,9f).

Bruderliebe ist Ausdruck innigster Gottesbeziehung (1Joh 4,8). Ohne jene gibt es diese nicht (1Joh 3,10). Gott und Liebe können in eins gesetzt werden (1Joh 4,16). Die Liebe Gottes verpflichtet die Menschen zur Liebe. Ihre zwischenmenschliche Liebe ist Bedingung dafür, dass Gott in ihnen bleibt (1Joh 4,11f). Wer den Bruder nicht liebt, bleibt im Tod (1Joh 3,14). Die Liebe zur Welt steht der Liebe zu Gott unversöhnlich gegenüber (1Joh 2,15). Vollendete Liebe führt zur Freiheit und schließt jede Furcht aus (1Joh 4,18).

6. Katholische Briefe und Offenbarung

Im Hebräerbrief spielt die Liebe einmal als Liebe zu Gott (Hebr 6,10) und einmal als Dienst an den Heiligen (10,24) eine Rolle. „Lieben“ als Verb kommt nur in alttestamentlichen Zitaten vor (1,9; 12,6). Im Jakobusbrief spielt die Agape eine prominentere Rolle. In Jak 1,12 wird das Erdulden der Versuchung mit der Liebe zu Gott gleichgesetzt. Der Brief parallelisiert Gottesliebe und Glaubensreichtum. Dieser wird den Armen zugesprochen. Damit werden die Armen zu solchen, die Gott lieben (Jak 2,5). Das Nächstenliebegebot aus Lev 19,18 wird in Jak 2,8 zitiert und als königliches Gesetz bezeichnet. Offensichtlich kommt dem Liebesgebot eine königliche Würde zu und eine hervorragende Stellung, die es über die anderen Gebote herrschen lässt.

Im ersten Petrusbrief werden Glauben und Liebe parallelisiert. Wie der Glaube so sieht auch die Liebe Gott nicht. Doch beide sind auf Jesus Christus ausgerichtet und beiden ist unaussprechliche und herrliche Freude verheißen (1Petr 1,8). Zugleich erwächst aus dem Glaubensgehorsam die Bruderliebe (1,22; 2,17). Diese hat eine sühnende Funktion (4,8). Der Bruderkuss in der Gemeinde wird als Kuss der Liebe bezeichnet (5,14). Im zweiten Petrusbrief findet der Glauben sein Ziel in der Liebe (2Petr 1,5-7). Der Plural von Agape wird im Judasbrief als Bezeichnung der Gemeinschaftsmähler in der Gemeinde verwendet.

In der Offenbarung ist Jesus Christus derjenige, der zuerst geliebt und so die Sünden abgewaschen hat (Apk 1,5; vgl.3,9). Die Liebe der Gemeinde steht in einer Reihe mit den Werken, dem Glauben, dem Dienst und der Geduld und ist somit Ausdruck der Gottesbeziehung (2,19). In diesem Zusammenhang bekommt die Rede von der ersten Liebe (2,4) einen emotionalen und leidenschaftlichen Aspekt. Diese Dimension schwingt auch in der Rede von der geliebten Stadt mit (20,9).

7. Auswertung und Ertrag

Liebe ist im Neuen Testament ein Beziehungsbegriff ersten Ranges. Der Begriff Liebe kann je nach Kontext die emotionale und willentliche Zuwendung Gottes zu den Menschen, der Menschen zu Gott und der Menschen zueinander beschreiben. Die gegenüber dem Mitmenschen geübte Liebe kann sogar als gegenüber Gott geübte Liebe verstanden werden (Mt). Jesus Christus ist die Verkörperung der Liebe Gottes. Sowohl für die johanneische Literatur als auch für Paulus ist Liebe der Grund und Ursprung des rettenden Handelns Gottes durch Jesus Christus. Interessanterweise findet sich dieser Gedanken nicht in den synoptischen Evangelien. Liebe ist in unterschiedlicher Intensität möglich (auch von Jesus) und verlangt nach einer eigenen Liebeskompetenz.

Beziehung ist antikem Denken zufolge auf Gegenseitigkeit angewiesen. Das gilt auch für die Liebe, deren Einseitigkeit auf κοινωνία (koinonia), ein wechselseitiges Geben und Nehmen, zielt. Diese Wechselseitigkeit unterscheidet sich von einem Tauschgeschäft durch die Dimension der Freiwilligkeit. Gabe und Gegengabe müssen freiwillig erfolgen, sonst sind sie nicht Ausdruck von Liebe. Auch die im Neuen Testament prominente Feindesliebe stellt nicht die Gegenseitigkeit von Beziehungen in Frage, sondern zielt auf die Durchbrechung negativer Reziprozität. Ziel ist auch hier gelingende, durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen bestimmte Gemeinschaft. Die positive formulierte Goldene Regel bringt diesen Gegenseitigkeitscharakter der (Feindes-)Liebe deutlich zum Ausdruck. So bilden der Wunsch und die Hoffnung, vom Gegenüber in Liebe behandelt zu werden, die Grundlage des eigenen Handelns. Feindesliebe und Goldene Regel halten die Möglichkeit gelingender Beziehung offen.

Liebe ist nie nur emotionale Haltung, sondern immer auch ein mit dieser Haltung verbundenes konkretes Handeln. Für einige neutestamentliche Autoren ist die imitatio der Lebenshingabe Jesu Christi für die Menschen hervorragendste Konkretion der Liebe (Paulus, Johannes) und die Liebe untereinander das Kennzeichnen der Schülerschaft Jesu schlechthin (Johannes). Mitunter findet sich auch die Aufforderung, Gottes Liebe nachzuahmen. Nächstenliebe soll allen Menschen gelten (u.a. in den Synoptikern) oder auf die Glaubensgeschwister fokussiert sein (so in der johanneischen Literatur).

Das Nächstenliebegebot spielt in fast allen neutestamentlichen Schriften eine führende Rolle. In den synoptischen Evangelien steht es entweder als zweitwichtigstes Gebot neben dem Gottesliebegebot (Mk), oder aber es wird mit diesem verschränkt (Mt; anders, aber vergleichbar: Lk). Paulus zufolge ist die Nächstenliebe die Erfüllung des ganzen Gesetzes (Gal 5,13), nach Matthäus bilden das Gottes- und Nächstenliebegebot die entscheidende Perspektive, aus der auch die anderen Gebote wahrgenommen werden sollen. Die Deutung aller anderen Gebote der Tora sind von diesen beiden abhängig (Mt 22,34-40). Für Paulus fasst das Nächstenliebegebot alle anderen Gebote zusammen und überragt diese (Röm 13,9; ἀνακεφαλαιοῦται). Liebe steht an der Spitze von allem (1Kor 13,13). Im Jakobusbrief kommt dem Nächstenliebegebot überragende Würde und Macht zu: Es ist das königliche Gesetz (Jak 2,8). In der johanneischen Literatur leitet Liebe das Handeln Gottes und das von Jesus Christus und will auch das Handeln seiner Schüler bestimmen.

Agape und αγαπάω stehen in der Regel nicht in einem engen Zusammenhang zu Philia (freundschaftliche Liebe / Freundschaft) und φιλέω (phileo: freundschaftlich lieben, lieben, küssen). In der Regel ist φιλέω negativ konnotiert. Es wird für ein Lieben verwendet, dass auf ein falsches Objekt ausgerichtet ist (seine Frömmigkeit zu zeigen in Mt 6,5; Vater und Mutter mehr Lieben als Jesus in Mt 10,37; die besten Plätze in Mt 23,6 und auch Lk 20,4; sein Leben in Joh 12,25; die Lüge in Apk 22,15) oder hinterhältig ist (das Küssen des Judas in Mt 26,48, Mk 14,44; Lk 22,47). In einem rein positiven Zusammenhang steht es nur in Tit 3,15 (vgl. 1Kor 16,22, dort allerdings in einer Negation, und Apk 3,19 in Bezug auf den strafenden Gott). Philia (φιλíα) erscheint nur in Jak 4,4 und zwar als Freundschaft zur Welt. Auch der Begriff Freund (φίλος [philos]) wird positiv im NT nur einmal für die Beziehung von Jesus zu seinen Schülern (Lk 12,4), einmal für die Beziehung eines Menschen (Abraham) zu Gott (Jak 2,23) und einmal für innergemeindliche Beziehungen (3Joh 15) verwendet. Im Johannesevangelium hingegen wird der αγαπ-Stamm in enger Beziehung zum φιλ- Stamm gebracht: Sowohl Johannes der Täufer als auch Lazarus sind Freunde des Bräutigams (Joh 3,29; 11,11). Die von Gott und Jesus geliebten Schüler, die selber anfangen, sich gegenseitig mit der Agape zu lieben, werden zu Freunden (φίλοι) von Jesus (Wick, 2015). Das Verb φιλέω kann zum Synonym von αγαπάω werden, wenn dieses Verb in 5,20 die Liebe Gottes zu Jesus und in 11,3.36 die Liebe Jesu zu Lazarus bezeichnen kann (11,3.36). Dass seine Schüler Jesus lieben und Gott die Schüler liebt kann auch je mit φιλέω ausgedrückt werden (Joh 16,27). Dasselbe gilt für die Liebe Jesu zum Lieblingsjünger (Joh 20,2). Αγαπάω und φιλέω scheinen beinahe identisch zu sein. Exegetisch herausfordernd ist Joh 21,15-17: Zweimal fragt Jesus den Petrus, ob er ihn liebt (αγαπάω), einmal ob er ihn liebt (φιλέω). Dreimal bejaht Petrus die Frage mit φιλέω. Es ist möglich, dass Joh mit φιλέω einen stärken Akzent auf die freundschaftliche Liebe und der damit besonders betonten Reziprozität setzt.

Das Begriffsfeld der erotischen Liebe kommt im Neuen Testament nicht vor. Allerdings sind sinnliche Konnotation im Kontext von Agape nachweisbar. In 1Petr 5,14 wird der Bruderkuss als Agapekuss bezeichnet. Jesus liebt (αγαπάω) die Maria (Joh 11,5). Diese löst vor ihm ihre Haare und salbt seine Füße (12,3-4). Beides ist in der Antike erotisch konnotiert. Die Begegnung von Maria Magdalena mit dem Auferstanden im Garten vor dem Grab erinnert an die Wiedererkennungsszenen im antiken Liebesroman und ist aufgrund der zahlreichen Bezüge zum Hohenlied mit dem Eros und durch den Kontext implizit mit dem Agapekonzept des Evangeliums verbunden (Windsor; Taschl-Erber; Wick, 2008). Ihre Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem Geliebten kann noch nicht erfüllt werden (Joh 20,17: „Berühr mich nicht“). Deutlich wird die Verbindung von Eros und Agape in Lk 7,36-50 gemacht. Die „Sünderin“ hört nicht auf, Jesus die Füße zu küssen, sie zu salben und mit ihren Haaren zu trocken. Jesus bezeichnet dies explizit als „viel Lieben“ (αγαπάω) (Lk 7,44-47).

Das Sinnpotential von Agape wird durch seinen semantischen Kontext angereichert. Paulus verbindet Liebe eng mit Glauben und Hoffnung (1Kor 13,13; Röm 5,5) und mit dem Geist Gottes. Sie steht in Opposition zum Bösen (Röm 13,10). Paulus stellt Liebe in einen engen Zusammenhang zu Tugenden wie Bescheidenheit (1Kor 8,1), Sanftmut, Geduld, Güte, aber auch zu Wahrheit (1Kor 13,4-7), Reinheit und Erkenntnis (2Kor 6,6). Als Gabe Gottes verstandene Frucht des Geistes steht Agape u. a. zusammen mit Freude, Friede, Treue und Selbstbeherrschung (Gal 5,22). In den synoptischen Evangelien rückt Agape in die Nähe von Barmherzigkeit (besonders Lk) und ist eng mit der Gerechtigkeit verbunden und nur aus deren positiven Beziehung heraus zu verstehen (besonders Mt). Die johanneische Literatur bildet eine Doppelspitze ihrer Werteskala. Auf der einen Seite steht das semantische Feld von Glaube, Wahrheit und Licht, auf der anderen Seite die Liebe. Beide Spitzen sind komplementär aufeinander bezogen und nur so zu verstehen. Die Liebe Gottes in Jesus Christus führt dazu, dass die Menschen glauben und in der Wahrheit und dem Licht sind. Dieses neue Sein befähigt sie zur Liebe, was wiederum ein Glaubenszeugnis für anderen Menschen ist.

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