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Abschiedsrede (AT)

(erstellt: November 2008)

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1. Definition, Entwicklung und Vorkommen

Als Abschiedsrede bzw. Testament wird die biblisch-frühjüdische Literaturgattung der Rede eines Sterbenden bezeichnet. Allerdings ist der terminus technicus „Testament“ aufgrund des fehlenden Rechtscharakters sowohl inhaltlich als auch formal nicht treffend. Winter schlägt daher „Vermächtnisrede“ als Gattungsbezeichnung vor. Die Bezeichnung Testament geht auf den Titel „Testament des N.N.“ (griech. Διαθήκη / diathēkē) vieler frühjüdischer Schriften zurück, die unter diese Gattung fallen.

In einer letzten Rede teilt eine hohe Persönlichkeit Israels vor ihrem Sterben oder Weggehen einem bestimmten Adressatenkreis in einer fingierten Abschiedsszene ihr geistiges Vermächtnis mit. Die Ursprünge der Abschiedsrede werden in den Reden der Patriarchen und Könige gesehen (Winter; Bieberstein / Bieberstein). Sie ist als eine rein schriftliche Gattung anzunehmen, die keine mündlichen Vorstufen hat.

Ihre Blütezeit erlangte die Gattung in hellenistischer Zeit. Hier kann sie entweder als Rahmen- (→ Testamente der Patriarchen; Assumptio Mosis [→ Mose-Schriften, außerbiblische]) oder als Gliedgattung (Tob 14,1-11; Jub 20,1-23,8 [→ Jubiläenbuch]; Text Pseudepigraphen) auftreten. Dabei muss die Selbstbezeichnung „Testament“ nicht notwendigerweise vorhanden sein.

Als entscheidende Gattungsmerkmale sind 1. die fingierte Abschiedsszene (Anfangs- und Schlussteil) zu nennen und 2. die drei Redeelemente: Rückschau in die Vergangenheit – Verhaltensanweisung an die Zuhörer – Zukunftsansage. Die inhaltliche Gewichtung und Ausgestaltung der Gattungsmerkmale kann stark variieren.

Als Nähe zu der eigenständigen biblischen und frühjüdischen Literaturgattung sind die griechisch-römischen Abschiedsgespräche oder Abschiedsreden zu nennen. Diese haben allerdings das Ziel, das Sterben großer Männer (exitus clarorum virorum) zu überliefern. Manche tradieren auch letzte Aussprüche (ultima vox). Das bekannteste Beispiel ist der von Platon überlieferte Dialog des Sokrates mit seinen Freunden / Schülern vor dessen Hinrichtung (Platon Phaidon).

Die Fortsetzung der biblisch-frühjüdischen Gattung der Abschiedsrede wird in den Schriften des Neuen Testaments (z.B.: in der Vermächtnisrede Joh 13-17; Winter) und der christlichen Literatur (Heiligen-Viten z.B. Vita Antonii; Nordheim 1991) gesehen. Auch die rabbinische Literatur zeigt Einflüsse (Hollander; Goshen-Gottstein).

2. Abschiedsreden in der Hebräischen Bibel

Im → Pentateuch und den Geschichtsbüchern werden als Abschiedsreden diskutiert: die Reden → Isaaks (Gen 27,1-40), → Jakobs (Gen 47,29-49,32), → Josefs (Gen 50,24-26), → Moses (Dtn 32,48-33,29), → Josuas (Jos 23,1-24,28), → Samuels (1Sam 11,14-12,25) und → Davids (1Kön 2,1-9). Dabei wird interessanterweise in keiner der sieben Reden – die nur großen Männern, keinen Frauen zugeschrieben werden – näher auf das Verhältnis zum Jenseits eingegangen. Es fehlen Bitten um Beistand JHWHs, Beschreibungen des Jenseits etc., was sich mit der Absicht der Unterweisung der Zuhörer begründen lässt (Bieberstein / Bieberstein). Eine Nähe zur Gattung des Bundesformulars wird inzwischen übereinstimmend abgelehnt.

Die Entwicklung der Gattung wird dabei unterschiedlich gesehen. Winter nimmt als Ursprung den Abschiedssegen in vorstaatlicher Zeit an. Die literarische Entwicklung geht dann von den überlieferten Sterbebettsegen (Gen 27,47-50; 1Kön 2) zu einer dreiteiligen Vermächtnisrede (Rückschau in die Vergangenheit, Verhaltensanweisung, Zukunftsansage), wie bei den Reden des Mose und Josua. Durch den Segen des sterbenden Patriarchen sollte den Nachkommen Orientierung und Sicherung für die Zukunft gegeben werden. Diese paränetisch-ethische Intention wird dann durch die deuteronomistische Schule ausgebaut (→ Deuteronomismus).

Bieberstein / Bieberstein unterscheiden dagegen nach Funktionen drei Gruppen von Abschiedsreden in der Hebräischen Bibel, die nachträglich redaktionell verbunden worden seien. Als Ausgangspunkt nehmen sie die nichtpriesterschriftlichen Reden von Josef (Gen 47,29-31) und Jakob (Gen 50,24-26), die die Bitte um Beisetzung im verheißenen Land als inhaltlichen Schwerpunkt haben. Die zweite Gruppe ziele auf den Segen über die Nachkommen (z.B.: Isaak Gen 27,1-40; Mose Dtn 33). Die dritte Stufe weise dann das Gattungsschema auf, das grundlegend für die hellenistisch-frühjüdische Literatur wird: Rückblick auf die Vergangenheit, Verhaltensanweisung und Zukunftsansage. Ziel der dritten Gruppe (Mose Dtn 33, Josua Jos 23-24; Samuel 1Sam 12 und David 1Kön 2) sei die Weitergabe des geistigen Vermächtnisses und von Mahnungen an die Nachkommen.

3. Abschiedsreden in der hellenistisch-frühjüdischen Literatur

Die dreiteilige Abschiedsrede wird in hellenistisch-frühjüdische Literatur unterschiedlich ausgebaut. So können Bekenntnisreden (Testament Judas in den → Testamenten der Patriarchen), weisheitliche Lehrreden (Testament Naftali in den Testamenten der Patriarchen), Träume (Assumptio Mosis [→ Mose-Schriften, außerbiblische], Testament Judas), Hymnen (→ Testament Hiobs) und weitere Gattungen aufgenommen werden. Das Testament Salomos (Zauberbuch) gehört aufgrund seines ausgeprägt narrativen Charakters entgegen seinem Titel auch nicht mehr zur Gattung der Abschiedsreden. Als einflussreich für die hellenistisch-frühjüdischen Abschiedsreden werden die griechisch-römischen Abschiedsgespräche / Abschiedsreden (Nordheim 1991) und die frühjüdische Apokalyptik (Winter) angesehen.

Unter anderem sind als hellenistisch-frühjüdischen Abschiedsreden zu nennen: Testamente der Patriarchen; Testament Hiobs; Testament Isaaks; Testament Jakobs; Assumptio Mosis; Testament Hiskias (Ascensio Isaiae).

Abschiedsreden enthalten darüber hinaus: 1Makk 2,49-70; 1Makk 6,8-16; Tob 4; Tob 14,1-11; Targumim zu Gen 49 und Dtn 33; das äthiopische Henochbuch (→ Henoch-Schriften); Jubiläenbuch; 4Esra (→ Esra-Schriften, außerbiblische); syrischer Baruch; slawischer Henoch; Liber Antiquitatum Biblicarum; Vita Adae et Evae.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950ff.
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2005
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Bieberstein, K. / Bieberstein, S., 2005, Angesichts des Todes das Leben formulieren: Abschiedsworte Sterbender in der biblischen Literatur, in: M. Ebner u.a. (Hgg.), Leben und Tod (JBTh 19), Neukirchen-Vluyn, 3-47
  • Dimant, D., 1982, The Testament as a literary form from early Jewish Pseudepigraphic literature, WCJS 8/1, 79-83.
  • Goshen-Gottstein, A., 1994, Testaments in rabbinic literature: transformations of a genre, JSJ 25/2, 222-251
  • Hollander, H.W., 1981, Joseph as an ethical model in the Testament of the Twelve Patriarchs (SVTP 6), Leiden
  • Kolenkow, A.B., 1975, The Genre Testament and Forecasts of the Future in the Hellenistic Jewish Milieu, JSJ 6, 57-71
  • Kolenkow, A.B., 1986, Testaments I. The Literary Genre „Testament“, in: R.A. Kraft u.a. (Hgg.), Early Judaism and its Modern Interpreters (The Bible and Its Modern Interpreters 2), Atlanta, 259-267
  • Kugler, R., 2001, Testaments, in: D.A. Carson u.a. (Hgg.), Justification and Variegated Nomism. 1. The Complexities of Second Temple Judaism (WUNT 140), Tübingen,189-213
  • Michel, H.J., 1973, Die Abschiedsrede des Paulus an die Kirche Apg 20 (StANT 35), München
  • Nordheim, E. von, 1980, Die Lehre des Alten Testaments I: Das Testament als Literarturgattung im Judentum der hellenistisch-römischen Zeit (ALGHJ 13), Leiden
  • Nordheim, E. von, 1985, Die Lehre des Alten Testaments I: Das Testament als Literarturgattung im Alten Testament und im Alten Orient (ALGHJ 18), Leiden
  • Nordheim, E. von, 1991, Art. Abschiedsrede, in NBL 1, Zürich u.a., 22-24
  • Stauffer, E., 1950, Art. Abschiedsrede, in: RAC 1, Stuttgart, 29-35
  • Whitters, M.F., 2001, Testament and Canon in the Letter of Second Baruch (2 Baruch 78-87), JSP 12/2, 149-163
  • Winter, M., 1994, Das Vermächtnis Jesu und die Abschiedsrede der Väter. Gattungsgeschichtliche Untersuchung der Vermächtnisrede im Blick auf Joh. 15-17 (FRLANT 161), Göttingen

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