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Abravanel, Don Jitzchak

(1437-1508/09 n. Chr.)

Andere Schreibweise: אברבנאל; Abrabanel; Abravanel; Abarbanel; Abarvanel

(erstellt: Juli 2013)

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Andere Schreibweisen: אברבנאל, Abrabanel, Abravanel, Abarbanel, Abarvanel

Jitzchak Abravanel war ein bedeutender Bibelkommentator und Philosoph portugiesischer Herkunft an der Schwelle vom Mittelalter zur frühen Neuzeit.

1. Leben

Jitzchak ben Jehuda Abravanel, 1437 in Lissabon geboren, entstammte einer führenden ibero-jüdischen Familie, die ihre Wurzeln bis auf König David zurückführte (Perusch al Nevi’im Rischonim, S. 2). Nachdem sich die politische Situation für die jüdische Minderheit in Spanien drastisch verschlechtert hatte, verließ Jitzchaks Großvater das heimische Sevilla und siedelte sich und die Seinen schließlich Ende des 14. Jh.s in Portugal an.

Seiner aristokratischen Abkunft entsprechend erfuhr Jitzchak Abravanel eine sehr sorgfältige jüdische Ausbildung bei führenden Gelehrten seiner Zeit. Es heißt, er habe die biblische und rabbinische Tradition u.a. an der Jeschiva des berühmten Jitzchak Aboab von Kastilien (1433-1493) studiert und außerdem beim Religionsphilosophen Joseph ben Schem Tov ibn Schem Tov (ca. 1400-1480) gelernt.

Zu seiner traditionellen Gelehrsamkeit gesellten sich – auch dies für die führenden ibero-jüdischen Familien typisch – profunde Kenntnisse in „weltlichen“ Wissenschaften und etlichen nichtjüdischen Sprachen (wie portugiesisch, kastilisch, arabisch, Latein). Aufgrund dieser Fähigkeiten stand ihm die philosophische, medizinische und poetische Literatur der Christen und diejenige der Muslime offen.

Wie sein Großvater und Vater gehörte Jitzchak Abravanel zu den führenden Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft Portugals und diente König Alfonso V. (1431-1482) als Berater und Financier. Nach dessen Tod verdächtigte man ihn der Konspiration gegen Alfonsos Sohn João II., weshalb er im Jahre 1483 zunächst nach Kastilien und, aufgrund des allgemeinen Ausweisungsedikts gegen die Juden Spaniens 1492, nach Italien fliehen musste.

Auch in Italien kam er wegen französischer und spanischer Invasionen in der Region nicht wirklich zur Ruhe. Nach einigen Ortswechseln ließ er sich schließlich in Venedig nieder. Er starb 1508/1509 und wurde in Padua begraben.

Unter Jitzchaks fünf Kindern ragte besonders sein Sohn Jehuda ben Isaak (ca. 1460- nach 1521) heraus. In der nichtjüdischen Gelehrtenwelt wurde dieser als Leo Hebraeus (lat.) bzw. Leone Ebreo (ital.) bekannt. Er gehörte zu den führenden Renaissance-Philosophen Italiens und verfasste die Dialoghi d‘amore, einer Abhandlung über die Liebe im Stile platonischer Dialoge.

2. Werk

Das von Don Jitzchak Abravanel hinterlassene Oeuvre gehört zu den umfänglichsten Korpora mittelalterlich-(frühneuzeitlicher) jüdischer Autoren. Der weitaus größte Teil seiner Schriften umfasst exegetische Texte; eine moderne Schätzung (Ruiz, S. xxii) behauptet, Abravanel habe 12.000 Seiten Bibelkommentar zu verantworten.

Die frühesten schriftlichen Äußerungen des jüdisch-portugiesischen Gelehrten waren allerdings philosophischer Natur. So verfasste er eine Abhandlung über die vier Elemente („Formen der Elemente“; Zurot ha-Jessodot / צורות היסודות) und einen theologischen Traktat über Vorsehung und Erwählung („Krone der Alten“; Ateret Seqênim / עטרת זקנים).

Ab den 1460er Jahren wandte sich Abravanel verstärkt der exegetischen Arbeit zu. Seine ersten Versuche galten dem Buch → Deuteronomium / Devarim (Mirkevet ha-Mischné / מרכבת המשנה). Es entstand ein erster Kommentar, den er in Italien überarbeiten sollte. Während seines Aufenthalts in Spanien (nach 1483 bis 1492) schuf er in rascher Folge Werke zu den Vorderen Propheten (außer den Königsbüchern). Die Vollendung dieses Projekts durch eine Interpretation der Königsbücher erfolgte erst in Italien.

Dort erarbeitete er auch zwei ausgesprochen eschatologisch ausgerichtete Kommentare („Quellen der Errettung“; Ma‘ajené ha-Jeschu‘a / מעיני הישוע zu Daniel; „Künder der Errettung“; Maschmi‘a ha-Jeschu‘a / משמיע הישוע zu anderen messianischen Perikopen der Bibel). Zu diesen beiden Werken gesellte sich sein Buch „Errettungen Seines Gesalbten“ (Jeschi‘ot Meschicho / ישיעות משיחו), in dem Abravanel talmudische Passagen interpretiert, die zu antijüdischen Argumentationen genutzt wurden. Diese Texte sollten christlichen Polemikern zufolge belegen, dass angeblich sogar den rabbinischen Schriften zu entnehmen sei, dass der Messias bereits gekommen wäre.

Relativ organisch ergab sich aus diesen Vorhaben die Ergänzung seines exegetischen Werks durch Kommentare zu den Hinteren Propheten. Sein großer Kommentar zur Tora (Perusch al ha-Tora / פרוש על התורה), erarbeitet ab dem Jahre 1505, kann somit als Krönung seines Lebenswerks angesehen werden – eine Einschätzung, die Abravanel selbst im Übrigen teilte.

Ironischerweise war es jedoch Don Jitzchaks philosophisches Hauptwerk, „Anfang des Glaubens“ (Rosch Amanah / ראש אמנה), das die größte Beachtung erfuhr. Verfasst im Jahre 1494 in Neapel, wurde es bereits im Jahre 1505 in Konstantinopel gedruckt und schon 1638 ins Lateinische übersetzt (Liber de capite fidei).

Wie bei kaum einem anderen jüdischen Exegeten spiegeln sich die persönlichen Erfahrungen Abravanels in seinem interpretatorischen Werk.

3. Zur Hermeneutik Abravanels

Einsicht in die von Don Jitzchak jeweils gewählten exegetischen Verfahren findet man zumeist in den recht ausführlichen Einleitungen zu seinen Kommentaren. So beschreibt er das von ihm präferierte Vorgehen in seinem Vorwort zu den Vorderen Propheten (פרוש על נביאים ראשונים, S. 13): Er habe den Text zunächst in einzelne Abschnitte (Perikopen) unterteilt, deren Hauptinhalte er der detaillierten Auslegung voranstellte. Bevor es an die genaue Untersuchung der Perikopen ginge, habe er zudem [sechs] Fragen zu jedem Text formuliert, um ein genaueres Lesen zu ermöglichen.

Diese Methode, bei ibero-jüdischen Gelehrten (vgl. Jitzchak Arama, ca. 1420-1494) durchaus verbreitet, fand durch Abravanels Werk weithin Anerkennung und Verbreitung. Sie erinnert gleichermaßen an Verfahren christlicher Scholastiker, sich durch systematischen Zweifel („dubia“) gesicherte Erkenntnisse zu verschaffen.

Abravanels Kommentare zeichnen sich gleichfalls durch eine sehr bewusste Auseinandersetzung mit seinen großen Vorläufern – vor allem → - Raschi (1040-1104) und → Abraham ibn Esra (1089-1164) – aus. Diese beiden repräsentieren seiner Meinung nach zwei unterschiedliche Ansätze in der jüdischen Exegetik. Während Raschi, Abravanel zufolge, dem rabbinischen Midrasch ein zu großes Gewicht bei der Erklärung der Bibel einräumt, fällt die Kritik an ibn Esra noch schärfer aus. Dem an der litteralen Bedeutung (פשט / P‘schat) der Texte orientierten spanischen Exegeten sei zu sehr an grammatischen Erläuterungen und der Oberflächen-Bedeutung der Perikopen gelegen, weswegen er der Tiefenstruktur der Bibel oft nicht gerecht würde. Die Anhänger der beiden „Schulen“ würden ebendiese Unzulänglichkeiten ihrer Meister teilen.

Anders als manchen seiner Kollegen war es Don Jitzchak darum zu tun, die verschiedenen Bedeutungsebenen der Bibel (ihre Polysemanz) exegetisch aufrechtzuerhalten.

4. Die Bedeutung Abarvanels für die Geschichte der jüdischen Bibelauslegung

Jitzchak Abravanel steht in mancherlei Beziehung auf einem Schnittpunkt zweier Epochen. Man kann ihn gleichermaßen als letzten großen Vertreter der mittelalterlichen ibero-jüdischen Exegetentradition betrachten, wie auch als ersten Bibelkommentator, der Impulse der (italienischen) Renaissance in die jüdische Wissenschaft integrierte.

Mit seinen (mittelalterlichen) Vorläufern führte Don Jitzchak eine intensive hermeneutische Debatte, in der er sich auf eine Gratwanderung zwischen einer (lediglich) linguistisch orientierten Erklärung der Texte, einer an Vorgaben der (rabbinischen) Tradition ausgerichteten Interpretation und – nicht zuletzt – philosophischen Auffassungen begab. Abravanel insistierte darauf, dass Exegese auch grundlegende theologische Fragen behandeln und spirituelle Aspekte berücksichtigen müsste.

Mehr als andere jüdische Kommentatoren seiner Epoche zeigte er sich von den Fortschritten der christlichen Exegese beeindruckt, deren Methodik ( divisio: die Aufteilung in Perikopen; expositio und dubio: die Untersuchung der wesentlichen Fragen) sich auch in seinem Werk spiegelt.

Auf der anderen Seite lassen sich am exegetischen Werk Abravanels durchaus Merkmale finden, die ihn als einen frühen Vertreter der Renaissance bzw. des Humanismus ausweisen. So könnte man sein Interesse an den bei jüdischen Exegeten eher unbeachteten Vorderen Propheten als einen Hinweis auf die in jener Zeit erblühende Historiographie werten. Stärker noch verweisen seine Reflexionen über die Autoren und die Entstehungsgeschichte biblischer Bücher in die neue Ära. Abravanel gab sich nämlich keinesfalls mit der Auskunft zufrieden, diese seien samt und sonders gleichermaßen prophetischen Ursprungs und also verbalinspiriert. Manch ein Prophet (insbesondere Jeremia und Ezechiel) wäre in seinem mündlichen Auftritt womöglich eloquenter gewesen als bei dessen Niederschrift. Er rechnete mit der Möglichkeit innerbiblischer → Fortschreibung älterer Texte (insbesondere zwischen → Königsbüchern und → Chronikbüchern) und befasste sich intensiv mit chronologischen Fragen.

In beiden Facetten seines exegetischen Werks – der kritischen Rezeption der klassischen jüdischen Exegetik und der Verarbeitung humanistischer Einsichten und Methoden – war Don Jitzchak Abravanel ein herausragender Vertreter seiner Zunft.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Encyclopaedia Judaica, 2. Aufl., Detroit u.a. 2007
  • Encyclopedia of the Bible and its Reception, Berlin 2009ff

2. Werke

  • Abravanel, פרוש על נביאים ראשונים (Perusch al Nevi’im Rischonim), Jerusalem 1955
  • Cohen-Skalli, Cedric (Hg.), 2007, Letters: Edition, Translation and Introduction (Studia Judaica), Berlin / New York
  • Kellner, Menachem (Hg.), 2004, Principles of Faith (Rosh Amanah), Oxford / Portland/Oregon

3. Weitere Literatur

  • Feldman, Seymour, 2003, Philosophy in a Time of Crisis: Don Isaac Abravanel: Defender of the Faith, New York
  • Lawee, Eric, 2001, Isaac Abarbanel’s Stance Toward Tradition, Albany
  • Lawee, Eric, 2008, Isaac Abarbanel: From Medieval to Renaissance Jewish Biblical Scholarship, in: M. Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of its Interpretation II: From the Renaissance to the Enlightenment, Göttingen, 190-214
  • Saperstein, Marc, The Method of Doubts: Problematizing of the Bible in Late Medieval Jewish Exegesis, in: J.D. McAuliffe u.a. (Hgg.), With Reverence for the Word, Oxford 2002, 133-156
  • Netanyahu, Benzion, 1998, Don Isaac Abravanel. Statesman and Philosopher, Ithaca, N.Y.

Abbildungsverzeichnis

  • Don Jitzchak Abravanel.

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