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Leben / naefaesch (AT)

(erstellt: November 2020)

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næfæš ist ein zentraler Terminus alttestamentlicher Anthropologie, für den es im Deutschen keinen Begriff gibt. Die traditionelle, z.B. in Bibelübersetzungen anzutreffende Wiedergabe mit „Seele“ ist irreführend, da sie mit dem Begriff Vorstellungen verbindet, die alttestamentlichem Denken fremd sind. Die alttestamentliche Rede von der næfæš zeigt vielmehr ein Geflecht von anthropologischen Bestimmungen des Menschen, ohne dass sich eine widerspruchsfreie semantische oder inhaltliche Systematik ergibt.

1. næfæš – das ist der Mensch aussagbar als nucleus, als vitaler Kern, als elementare Potentialität. Darin ist er sowohl dieser eine und unteilbare Mensch vor Gott als auch er selbst in seiner ganzen Existenz und Basis seiner Lebensmöglichkeiten mit ihrer Körperlichkeit, Sozialität, Vergangenheit und Zukunft. Zwei Grenzaussagen im breiten Befund zur Rede von der næfæš können in ihrer Sperrigkeit erneut Prüfstein für das Spezifikum dieser anthropologischen Rede sein.

In Hi 1-2 verbleibt dem Menschen → Hiob allein die næfæš, während ihm alles mit der Existenz Gesetzte genommen wurde (Hi 2,6). Reduziert auf seine næfæš, auf seine vitale Potentialität, durchlebt er die Prüfung durch Satan und Gott, in einer Gestalt seines Daseins an und auf der Grenze menschlicher Existenz, fern aller „Lebensfreude“ (Seebass, 538, in der Bestimmung von næfæš), herausgefordert und befähigt zum Zeugnis für Gott und damit zum Gottvertrauen.

2. næfæš – das ist das Leben des Menschen, der sich im → Recht selbst als Objekt begegnet. Die Rechtssätze spiegeln, wie er mit seinem gesamten Leben Gegenstand von Selbst- und Fremdverfügungen wird. Das Recht reguliert diese Selbst- und Fremdbestimmung und schützt so, indem es die næfæš schützt, den in Verantwortung vor den Menschen und vor Gott handelnden Menschen.

3. næfæš – das ist der Mensch, der in → Kult und → Gebet Gegenüber Gottes ist. Die kultischen Regularien bieten ihm für das Sein und Handeln vor Gott Optionen an, wie er mit Reinheit und Unreinheit, Verfehlung und Sünde mit und vor dem heiligen Gott umgehen kann. Im Gebet bringt er sich zur Sprache – vor sich und mit sich selbst, seinen Mitmenschen und zu Gott hin. Mit der Rede von sich als næfæš verfügt er dabei über eine Ausdrucksform, die elementar die Dynamik seines Lebens auszusagen vermag. Auf Grund des Genus „Gebet“ steht dabei der Gottesbezug im Zentrum, auf den seine Sozialität (etwa Feinde) und sein Selbstverhältnis bezogen sind.

In den kultischen Strafsätzen zum „Ausrotten der naefaesch“ (kārat næfæš) wird seine næfæš getilgt, ohne dass wir aus den Quellen zu erkennen vermögen, ob sein soziales und faktisches Dasein ebenfalls beendet wird. Existiert der Gestrafte weiter, so tut er dies – in den Worten abendländischer Tradition – als Seelenloser. Diese Überlegungen machen deutlich, dass das Verhältnis der Rede von der næfæš zur Tradition der abendländischen Seelenvorstellung neu zu besehen ist (vgl. Krüger; Bremmer).

1. Annäherungen an einen anthropologischen Zentralbegriff

Der hebräische Begriff נֶפֶשׁ næfæš gehört mit seinen 754 nominalen und 3 verbalen Verwendungen (vgl. Westermann, 72; Seebass, 536f.) sowie seiner breiten Verwendung im alttestamentlichen Schrifttum zu den zentralen Wörtern, die in diesem Schriftenkorpus den Menschen bezeichnen. Seine Übersetzbarkeit wird durch seine Bedeutungsbreite und durch eine lange Wirkungs- und Transfergeschichte zum Begriff der „Seele“ erschwert (vgl. Rösel). Die gängigen alttestamentlichen Wörterbücher und Lexika unterscheiden bei der Erfassung der Breite von Verwendung und Sinngebung zwischen konkreten Grundbedeutungen auf der einen und umfassenderen sowie übertragenen Grundbedeutungen auf der anderen Seite (vgl. Gesenius / Donner / Meyer). Zu den konkreten Bedeutungen rechnet næfæš als Begriff für (1) „Kehle / Gurgel / Rachen“, (2) „Hals“ und (3) „Hauch / Atem“, zu den umfassenderen zählt næfæš als „Bez. f. das, was Menschen und Tiere zu Lebewesen macht: herk. Seele (…), a. Leben, Lebenskraft“ (Gesenius / Donner / Meyer, 834) bzw. als „Bezeichnung desjenigen, was ein Körperwesen (…) zu einem lebendigen macht“ (Gesenius / Buhl, 514). næfæš kann auch Träger von Gefühlen oder Ersatzbegriff für einen Menschen insgesamt sein. Als „organischen Fixpunkt“ (Janowski, 205) des Begriffs macht die neuere Debatte im Anschluss an Seebass dabei „die Vitalität, die sprudelnde Lebensenergie, die Leidenschaftlichkeit“ (Seebass, 545) aus.

Neben diesen Versuchen der Zusammenschau und Systematisierung der Verwendung des Begriffs zielen altorientalische, ägyptologische, graezistische und alttestamentliche Arbeiten (vgl. Landsberger, 17f.; Janowski, 16 Anm. 77) darauf, seine dicho- oder trichotome Verzeichnung zu verhindern und die Eigenbegrifflichkeit freizulegen. Als für das Alte Testament zentral wird dabei immer wieder auf das Kennzeichen der althebräischen → Poesie, den Parallelismus membrorum, mit seiner paarweisen Anordnung von Aussagen und die damit verbundene „Stereometrie des Gedankenausdrucks“ (Landsberger, 17f.) hingewiesen. Vom Menschen werde in Einzelaspekten, jedoch immer als von einer „komplexen und differenzierten Ganzheit, d.h. als Komposition seiner Glieder und Organe und deren spezifischen Funktionen“ (Janowski, 19) gesprochen. Das Interesse liegt bei diesen Beiträgen deutlich in der Schärfung eines eigenen Profils der alten Überlieferungen im Gegenüber zu abendländisch-neuzeitlichen Verengungen. Hand in Hand kann damit eine Modernismuskritik des 20. und 21. Jahrhunderts gehen. „Nichtobjektivierbarkeit des biblischen Menschenbildes“, „semantische Weiträumigkeit der anthropologischen Grundbegriffe“ und die „metaphorische Sprache“ (Janowski, 19) gehören dabei ergänzend zu den identifizierten Besonderheiten einer alttestamentlichen Sprechweise vom Menschen.

2. næfæš als Gegenstand mit Ausdehnung und Qualität

In Aussage- und Beschreibungszusammenhängen wird die næfæš wie ein Gegenstand im Raum beschrieben. Sie ist kurz oder lang, klein oder groß, ausgedehnt, kann ausgegossen werden oder erscheint selbst als ein zu füllender Behälter (Ri 10,16; Num 21,4; 1Sam 26,24; Jes 5,14; Spr 28,25; Ps 13,3). Die kurze oder kleine næfæš JHWHs bringt dessen Ungeduld, im übertragenen Sinn also seine Kurzatmigkeit den Hirten Israels (Sach 11,8) gegenüber zum Ausdruck. Eine klein werdende næfæš kann die Haltung Gottes (Ri 10,16: Ungeduld JHWHs angesichts des Leids seines Volkes) oder eines Menschen (Ri 16,16) einem bestimmten Zustand gegenüber signalisieren. Ist dieser ihm endgültig verleidet, so verkürzt die næfæš sich zum Tode hin (Ri 10,16). Dieser Lebensabschnitt oder dieses Lebensmoment findet damit sein Ende. Dieser Verwendung kommt die Rede von der Enge der næfæš (Gen 42,21) nahe, mit der eine Notlage ausgesagt wird.

Umgekehrt steht eine große næfæš für ein geachtetes und wertzuschätzendes Leben (→ Saul), das selbst, wenn es in die Verfügung eines Feindes gerät, (durch → David) nicht angetastet wird (1Sam 26,24). Die quantifizierende Aussage drückt hier eine Qualität aus. Dies gilt auch für die Rede von der weiten, ausgedehnten næfæš, die für die unersättliche → Gier der Scheol (Jes 5,14; → Jenseitsvorstellungen) oder des Menschen (Spr 28,25) stehen kann.

Wird die næfæš in diesen Aussagen als eigener Gegenstand behandelt, so erscheint sie in anderen räumlichen Zuordnungen, als etwas im Menschen bzw. etwas, das der Mensch aus sich ausgießen kann. In Ps 13,3 wird von næfæš als einem Behältnis im Inneren des Menschen gesprochen, in dem dieser seine Pläne aufbewahrt. Spricht er sich zu Gott hin aus, so gießt er seine næfæš vor ihm aus (1Sam 1,15; Klgl 2,19 parallel mit לֵב lev „Herz“). Ein innerer Vorgang im Menschen wird durch ein inneres Geschehen oder ebenso durch ein äußeres Geschehen zum Ausdruck gebracht. Wenn der Beter seine næfæš über sich ausschüttet, dann geht er erinnernd mit sich selbst um und macht sich zum Gegenstand der Reflexion (Ps 42,5). Die verobjektivierende Rede kann so weit gehen, dass vom Essen der næfæš im Sinn der Vernichtung der Menschen gesprochen wird (Ez 22,25).

Weiter kann næfæš auch qualitativ bestimmt werden. Vor allem die Rede von der bitteren næfæš findet sich angewandt auf Einzelpersonen (1Sam 1,11) und kollektive Größen (Ri 18,25; 1Sam 30,6). Dabei ist es vom Kontext abhängig, ob מַר mar an diesen Stellen mit „verbittert und traurig“ (1Sam 1,10) oder mit „erbittert und zornig“ (1Sam 22,2) wiederzugeben ist. So oder so wird in dieser Weise der Zustand von Leben und Mensch(en) gekennzeichnet, indem von ihrer næfæš und von dieser qualifizierend gesprochen wird.

3. næfæš und ihre organischen Haftpunkte – Kehle, Rachen und Hals

Eine Reihe von Texten lässt die somatische Verhaftung des Begriffs noch erkennen (zur altorientalischen Parallele napištu vgl. Steinert, 271-293). Funktional sind es vor allem zwei Zusammenhänge, die dabei eine Rolle spielen: die Atmung (verbale Verwendungen: Ex 23,12; Ex 31,17: Verschnaufen oder 2Sam 16,14: Aufatmen) und die Nahrungsaufnahme (Jes 55,2). Beide sind mit der Kehle, dem Rachen bzw. dem Hals verbunden (Gen 42,21: Enge seiner Kehle; Num 21,4: das Kurz-Werden der næfæš; Ex 15,9: den Hals voll bekommen; Num 11,6: Vertrocknen der Kehle; Jes 29,8: leere Kehle). Davon abgeleitet kommt næfæš zur Anwendung, wenn elementare Lebensbedürfnisse bzw. Lebensvorgänge wie Hunger (Jes 58,10: „Gib dem Hungrigen deine næfæš und die gebeugte næfæš wird satt werden.“), Gier, Verlangen (Ez 16,27; Spr 13,2; Pred 6,9; Hos 9,4; Ex 15,9; Ex 34,3; Jes 5,14), Begehren und Sehnsucht (Pred 6,9: Personalisierung: die umhergehende næfæš) ausgesagt werden. Übertragen auf seelische Vorgänge können die innere Unruhe (Ps 42,6; Ps 43,5 bzw. Ps 3,5), das Mitleid oder der Hass so zur Sprache gebracht werden.

4. Das Leben (næfæš) als Gegenstand menschlichen Handelns und menschlicher Verantwortung

In Rechtstexten löst sich die Verwendung von næfæš von einer gegenständlichen oder organbezogenen Rede. Der Begriff bezeichnet nunmehr das Leben generell und kann so auf Mensch und Tier unterschiedslos angewendet werden (zur altorientalischen Parallele napištu vgl. Steinert, 285-288). So heißt es etwa in den kasuistischen Bestimmungen (→ Recht) des → Bundesbuches, die eine Ersatzleistung für die næfæš festlegen:

„Wenn ihm Sühne auferlegt wird, so gebe er als Lösegeld für seine næfæš alles, was ihm auferlegt wird.“ (Ex 21,30; vgl. Ex 30,12.15.16)

Analog formuliert im gleichen Kontext das Talionsgesetz:

„Wenn Schaden entsteht, sollst du geben næfæš für næfæš.“ (Ex 21,23)

Im Kontext des → Heiligkeitsgesetzes zeigt Lev 24,17-22 eine differenzierende Anwendung dieser Rede, wenn zwischen Ersatzleistungen für das Leben von Menschen (næfæš ’ādām) und für das Leben von Tieren (næfæš bəhemāh), unterschieden wird. Im ersten Fall wird für das Töten der næfæš das Leben des Täters eingefordert, im zweiten eine nach der Regel næfæš für næfæš festgehaltene Talion festgelegt. Bei den Bestimmungen zu den Asylstädten (→ Asyl) wird in einer feststehenden Wendung ein unbeabsichtigt totgeschlagenes (Menschen-)Leben als næfæš bezeichnet (Num 35,11).

Im Zusammenhang mit Gelübden findet sich der verobjektivierende Umgang des Gelobenden mit sich selbst, wenn etwa Num 30,3 davon spricht, dass er seine næfæš bindet (vgl. auch Num 30,5-14).

Die Rechtsfindung und die sie spiegelnden Rechtssätze haben es also mit dem Zugriff von Menschen auf næfæš oder der sonstigen Bedrohung, Minderung oder Zerstörung von næfæš zu tun. Über das Leben von Menschen oder Tieren wird intentional oder ohne Absicht verfügt. Die Legitimität dieser Verfügung bewertet die Rechtsfindung und regelt den Ausgleich bei illegitimer Verfügung. Dieser Ausgleich, in kasuistischer Schiedsgerichtsbarkeit geregelt, stellt erneut einen menschlichen Zugriff auf næfæš dar. So lässt sich die Logik dieser Verwendung knapp zusammenfassen. Die Rede von der næfæš kennt und erfasst also Selbst- und Fremdverfügung als Selbst- und Fremdbestimmung des Menschen. Zugleich bringt sie sprachlich eine Differenz zwischen dem Menschen und dem Menschen als næfæš, hier als Objekt rechtlicher Regelungen, zum Ausdruck. Sein Leben ist Gegenstand dieser Regelungen.

5. Der Mensch ist næfæš

Kann næfæš also zusammenfassend für das „Leben“ stehen, so löst sich eine weitere Verwendung noch weiter von einer gegenständlichen oder organbezogenen Rede. Der Mensch besitzt nicht mehr nur eine næfæš, sondern er ist næfæš. Aus einem Segment oder Aspekt wird eine Gesamtbestimmung des Menschen. In dieser Weise als næfæš bestimmt, handelt der einzelne Mensch und wird auf sein Handeln als Verantwortlicher angesprochen.

Diese spezifische Verwendung findet sich zunächst in den Texten des Buches → Leviticus. Formal begegnet næfæš hier als handelndes Subjekt, inhaltlich jeweils in Zusammenhängen von Versündigung und Verunreinigung (→ Sünde). In der ganzen Breite kultischer Sachverhalte steht næfæš für den jeweils handelnden Menschen. Es ist die næfæš, die durch den Kontakt mit → Aas von unreinen Tieren selbst unrein wird (Lev 5,2; vgl. Lev 7,20f), die sich verfehlt, wenn sie sich als potentieller → Zeuge der Zeugenschaft verweigert (Lev 5,1), oder die sich an JHWHs Opfergaben verfehlt, wenn sie diese veruntreut (Lev 5,15). Neben dieser ausdifferenzierten Rede kann auch in allgemeinen Aussagen vom kultisch relevanten Handeln der næfæš gesprochen werden, so etwa in der Einleitung zu Lev 4:

„Sprich zu den Israeliten: Dies gilt, wenn eine næfæš sich ohne Absicht verfehlt gegen eines von den Geboten JHWHs, indem sie (die Gebote) nicht beachtet und beachtet eines von ihnen nicht.“ (Lev 4,2; vgl. Lev 4,27).

Diese breite Einführung des 4. Kapitels verwendet næfæš wiederum im Kontext von Verfehlungen, die nun weitergehend als unbeabsichtigte und damit als sühnbare gekennzeichnet sind (vgl. Num 15,27ff). Dass næfæš hier als allgemeinste und inklusive Bezeichnung für Menschen verwendet wird, machen die folgenden Differenzierungen deutlich. Nach der einleitenden Aussage in Lev 4,2 werden vier Adressaten unterschieden: die Priesterschaft in Lev 4,3, die ganze Gemeinde Israel in Lev 4,13, die Fürsten in Lev 4,22 und eine einzelne næfæš aus dem Volk vom Land in Lev 4,27. In einem kasuistischen Sinn werden hier jeweils konkrete Anlässe einer Versündigung geregelt. In markanter Verwendung spricht Ez 18,4 in Aufnahme priesterlich-sakralrechtlicher Redeweise davon, dass JHWH über alle næfæš und somit auch die jeder Generation verfügt.

Zum Profil dieser Verwendung von næfæš gehört weitergehend hinzu, dass mit der geprägten Formel כרת נֶפֶשׁ kārat næfæš „Ausschneiden / Ausrotten der naefaesch“ auch Verfehlung und Verunreinigung ausgesagt werden können, für die es keine Entschuldung oder Sühne gibt. Bei insgesamt 18 Belegen zu kultischen Vergehen, die eine Sanktion mit כרת kārat nach sich ziehen (vgl. Gen 17,14; Ex 12,15: aus Israel; Ex 12,19: Passabestimmungen; Ex 31,14: Sabbatheiligung; Lev 7,20.21.25.27: Verletzung kultischer Gesetze mit der Folge der Tilgung der næfæš aus dem Volk; Lev 18,29: zusammenfassende Feststellung zum Tun von Gräuel; Lev 19,8: kultischer Kontext und darin Verletzung des Sabbatgebotes; Lev 22,3: rein–unrein; Num 9,13: rein–unrein; Num 15,30f; Num 19,13: aus Israel), greifen 14 Stellen auf kārat næfæš zurück. Dabei wird in den meisten Fällen ein Herausschneiden aus dem Volk bestimmt, was als Trennung von Familie und Sippe zu verstehen ist. In den selteneren Fällen weitet sich die Sanktion im Sinne einer Ausstoßung aus Israel oder der Versammlung Israels (Ex 12,15; Num 19,13; Ex 12,19). Die feststehende Wendung kommt also ursprünglich im kultischen Kontext zur Anwendung, wenn es um Vergehen geht, die nicht gesühnt werden konnten (Lev 7,20.21.27; Lev 23,29; vgl. Num 15,30). In einer Variante der kārat-Formel („aus der Mitte seiner Sippe / seines Volkes herausschneiden“), in paralleler Verwendung zu „mein Angesicht gegen die næfæš richten“ (die Formel findet sich in dieser Fassung nur im Heiligkeitsgesetz – neben dieser Stelle in Lev 20,3; Lev 26,17; in Variation ferner in Lev 20,5; Jer 21,10; Jer 44,11 und Ez 15,7), wird die Strafe für den Blutgenuss (→ Blut) der næfæš in Lev 17,10 sowie die Befragung von Totengeistern und Wahrsagern in Lev 20,6 formuliert.

Die antiken und modernen Versuche, die damit verbundene Pragmatik oder Vorstellung zu bestimmen, sind so vielfältig wie unklar im Ergebnis. V. Wagner fasst die Bedeutung folgendermaßen: „Es ist also anzunehmen, dass die durch die כרת-Formel ausgesprochene Strafe die Teilnahme am gottesdienstlichen Leben für immer untersagte“ (Wagner, 177). Im Zusammenhang der obigen Bestimmungen kann næfæš hier erneut im Sinn eines kultischen Gegenübers zu Gott verstanden werden. Die in den Vorschriften angedrohte Vernichtung tilgt damit den Menschen coram Deo, was nicht zwingend mit rechtlichen oder sozialen Konsequenzen coram hominibus verbunden sein muss. Dass ein Mensch in einer auf seine næfæš reduzierten Weise vorgestellt werden kann, zeigt die Rahmenerzählung des Hiob-Buches (s.u.). Hier liegt erneut eine Variante dieses sperrigen Denkens vor.

Die Texte selbst geben an keiner Stelle explizit zu erkennen, warum sie diese Ausdrucksweise wählen. Mit Verweis auf Num 5,6f wird immer wieder hervorgehoben, dass mit næfæš eine inklusive Rede begegnet, die in der Lage ist, beide Geschlechter zusammenfassend zur Sprache zu bringen. So wird in den beiden Versen im Vordersatz die in Rechtstexten seltene Zusammenstellung von Mann (’îš) und Frau (’îššāh) verwandt, um dann im Nachsatz über alle Verfehlungen, die ein Mensch (’ādām) begeht, das Urteil zu sprechen: „…so wird diese næfæš schuldig werden.“

Die Funktion von næfæš in diesem Bereich als inklusive Rede zu verstehen, liegt nahe, zumal, wenn man Kollektivaussagen mit „alle næfæš“ (kål næfæš) ergänzend mit heranzieht. So findet sich in Gen 36,6 eine Auflistung zu → Esaus Hab und Gut, die neben seinen Frauen, seinen Söhnen und Töchtern, dem Viehbestand und Besitz alle sonstigen Menschen im Haus als „alle næfæš“ in seinem Haus bezeichnet. Vergleichbar finden wir diese Rede erzählerisch in 1Sam 22,22 und als summierende Erfassung der Zahl der männlichen und weiblichen Nachkommen in Gen 46,15.18.22.25-27, jeweils mit „alle næfæš“ und einer nachfolgenden Zahlenangabe. Dass diese Funktion der Rede von næfæš in einem abstrahierenden, unterschiedliche Entitäten zusammenfassenden Gebrauch über verschiedene Literaturen und Zeiten hinweg üblich war, zeigt 1Chr 5,21, wo erneut im Rahmen einer Aufzählung nach 50000 Kamelen, 250000 Schafen und 2000 Eseln 100000 næfæš von Menschen (næfæš ’ādām) benannt werden. Die Spezifizierung von næfæš durch ’ādām macht dabei deutlich, dass an dieser Stelle auch die Tiere zur næfæš gerechnet werden.

Die Übersicht zeigt, dass die Funktion der Inklusion und Abstrahierung primär in Aufzählungen begegnet, also die Numeri-Stelle dadurch beeinflusst ist. Die Bedeutung der Redeform an den sonstigen Stellen ist damit noch nicht ausreichend erfasst. Sie wird im kultischen Kontext eher weitergehend darin zu finden sein, dass Männer, Frauen, Priester (Lev 21,1; Hos 4,8), also der Mensch als kultisches Gegenüber zu Gott die næfæš ist. Sollen dessen Handeln oder Konsequenzen daraus ausgesagt werden, verwenden die Textbereiche die inkludierende und zugleich selbstreferentielle Rede von der næfæš. Keine andere anthropologische Grundkategorie kommt in dieser Weise zur Anwendung und man ist an die Definition in Gesenius (17. Auflage, 1962) erinnert: næfæš, d.i. „Bezeichnung desjenigen, was ein Körperwesen (…) zu einem lebendigen macht“ (Gesenius / Buhl, 514). Auch die Rahmenerzählung des Buches → Hiob lässt sich in diese Fluchtlinie einzeichnen. In der Erprobung der Gottesfurcht Hiobs wird dem → Satan alles an und von Hiob zur Disposition überlassen – mit Ausnahme seiner næfæš (Hi 2,6). Und nach den Schicksalsschlägen verbleibt Hiob auf diese næfæš als Gegenüber und Zeuge Gottes reduziert, auf sein nacktes Leben.

Auffällig ist, dass næfæš in diesen kultischen Zusammenhängen meist in negativer Konnotation von Unreinheit, Schuld (vgl. Rendtorff) oder Selbstminderung auftaucht. Letzteres gilt etwa für die exponierte Anweisung in Lev 16,29.31 und Lev 23,27 (weiter: Num 29,7; Num 30,14; Jes 58,3; Ps 35,13), die für den Versöhnungstag dazu auffordert, die eigene næfæš niedrig zu machen, was oft mit dem Vorgang des → Fastens identifiziert wird, wofür es jedoch mit צום ṣûm einen alternativen Begriff gegeben hätte. Wer dies unterlässt, dessen næfæš soll aus der Sippe bzw. dem Volk getilgt werden (Lev 23,29f). Wiederum geht es um grundlegende und kapitale Grenzsetzungen, mit denen die gesamte Existenz auf dem Spiel steht.

Neben Selbstminderung und den schon angesprochenen Verwendungen zur Verfehlung eines Menschen aus dem Leviticus-Buch finden sich im Buch → Numeri Anwendungen der Redeweise im Kontext von Verunreinigung. Dazu gehört vor allem eine Reihe von Texten, die von einer Verunreinigung von Männern, Priestern oder → Nasiräern durch den Kontakt mit einer næfæš ‘ādām (næfæš „eines Menschen“) sprechen.

„Es gab aber Männer, die an einer næfæš ‘ādām unrein geworden waren und das Passa nicht halten konnten an jenem Tag.“ (Num 9,6)

Gleiches kann in Num 5,2 und Num 9,10 auch ohne ‘ādām formuliert werden (vgl. Num 6,11). Die Vorschriften aus Num 19,11 und für Priester aus Lev 21 machen deutlicher, worum es sich hier handelt.

„Wer einen Toten berührt, irgendeine næfæš ‘ādām, der wird unrein sieben Tage.“ (Num 19,11)

Die parallele Aussage in Num 19,13 kennzeichnet næfæš ‘ādām, darüber hinaus durch einen Nebensatz, als gestorben. Mit Blick auf einen Priester heißt es in Lev 21,11:

„Und er (der Priester) darf zu keiner toten næfæš gehen, auch an seinem Vater oder seiner Mutter darf er sich nicht verunreinigen.“

Analog formuliert es das Nasiräergesetz in Num 6,6.

Ein toter Mensch verunreinigt. Ihm soll man sich nicht nahen. Die gedankliche crux, dass næfæš, der hier gewählte Begriff für den verstorbenen Menschen, diesen ansonsten gerade als den Lebendigen qualifiziert, lässt sich primär aus der Übertragung der eben besehenen kultischen Redeweise auf die Regelungen zu Reinheit und Unreinheit im Umgang mit Toten verstehen. Die geprägte Redeweise und Verwendung bestimmt die Begriffswahl. Die Verfasser scheinen sich an dem von vielen Auslegern thematisierten Problem nicht wirklich gestört zu haben. Mit Diethelm Michel (vgl. Michel, 83) gehe ich davon aus, dass nach alttestamentlicher Vorstellung auch ein Toter (übergangsweise und zeitlich begrenzt) eine næfæš ist. Geht man zum Toten, so geht man zu einer toten næfæš. Dies könnte u.a. darauf hinweisen, dass hier der Schnitt zwischen Lebenden und Toten nicht in einer derart scharfen Weise gemacht wurde, wie wir dies aus einer neuzeitlichen und biologistischen Betrachtungsweise zu tun gewohnt sind. Für die Vorstellung einer unsterblichen næfæš kann diese Grenzaussage nicht herangezogen werden und es finden sich ansonsten auch keine Belege.

Die weitergehenden Überlegungen von Michel im Anschluss an Num 19,14f – eine Stelle, in der ein offenes, nicht durch einen Deckel verschlossenes Gefäß im Umfeld eines Toten unrein wird – bauen hier problemlos eine Brücke zu mitteleuropäischen Seelenvorstellungen. Zugleich führen sie im Spektrum der alttestamentlichen Verwendung von der Rede eines Menschen als næfæš wieder zu einer Vorstellung der næfæš als einem eigenen, dem Menschen eignenden bzw. von ihm ablösbaren Gegenstand. Nach dem Sterben kann der Mensch insgesamt noch als næfæš angesprochen werden. Num 19,14f zeigt nun allerdings die næfæš als etwas, das sich zunächst noch im Toten befindet. Sie löse sich dann jedoch vom Leichnam (zu altbabylonischen Parallelen vgl. Steinert, 276f.) und könne sich dabei etwa in ein Gefäß hinein bewegen. „Man stellte sich also offenbar vor, nach dem Tode versuche die נֶפֶשׁ, sich einen neuen ›Körper‹ zu suchen und in ihn hineinzuschlüpfen – und sei es ›nur‹ ein offenes Gefäß.“ (Michel, 83). Diese sich vom Leib lösende næfæš kehrt allerdings nicht zu Gott zurück. Wir haben hier also eine spezifische Nähe und Differenz zu platonisch-christlichen Seelenvorstellungen zu konstatieren, die weder biologistisch noch im Rahmen einer Ganz-Tod-Theologie erfasst werden kann.

6. Der betende Mensch als næfæš

Der Mensch als næfæš vor Gott findet sich vielfach in den Klage- und Dankliedern des → Psalters. Dort spricht sich der Mensch als næfæš aus, eine næfæš, die durch Gott gebeugt (Ps 57,7; Ps 42,6f; Ps 43,5; Ps 44,26) und verworfen (Ps 88,15) oder von ihm gerettet (Ps 56,14) und freigekauft (Ps 72,14) wird. Wenn der Beter sich vor dem Verderben zu Gott flüchtet, so tut dies seine næfæš (Ps 57,2). In umgekehrter Bewegung ruft er Gott herbei, dass dieser sich seiner næfæš nahe (Ps 69,19).

Das andere Moment in der psalmistischen Rede ist die Bedrohung und Gefährdung der næfæš. Feindliche und gewalttätige Menschen versuchen, ihrer habhaft zu werden (Ps 54,5), so in formelhafter Sprache in Ps 35,4; Ps 38,13; Ps 40,15; Ps 54,5; Ps 63,10; Ps 70,3; Ps 86,14. Außerhalb des Psalters zeigt sich dieselbe formelhafte Verwendung: Ex 4,19; 1Sam 20,1; 1Sam 22,23; 1Sam 23,15; 1Sam 25,29; 2Sam 4,8; 2Sam 16,11; 1Kön 19,10.14; Est 7,7; Spr 29,10; Pred 7,28; Jer 11,21; Jer 19,7.9; Jer 21,7; Jer 22,25; Jer 34,20.21; Jer 38,16; Jer 44,30; Jer 49,37. Satt an Leiden ist sie, das Leben dem Tod nahe (Ps 88,4).

Beide Momente fließen darin zusammen, dass sie um eine Dynamik der næfæš wissen. Sie sehnt sich nach dem lebendigen Gott, nach der Gottesschau (Ps 42,2), einem elementaren Durst vergleichbar (Ps 63,2). Die Sehnsucht nach dem präsenten Gott, erlebbar in seinen Vorhöfen, kann auch als Ruf von Herz und Leib nach dem lebendigen Gott ausgesagt werden (Ps 84,3). In erwartungsvoller Stille richtet sie sich auf Gott aus (Ps 62,2.6). Sie verweigert es, sich fern von Gott trösten zu lassen (Ps 77,3).

Ist die Hilfe und Rettung eingetreten, jubelt die næfæš (Ps 71,23). In der Rückspiegelung erfahrener Zuwendung segnet sie JHWH (Ps 103,1f).

7. Spezifika in verschiedenen Literaturwerken

In einzelnen Literaturwerken finden sich eigene Ausprägungen der Rede von næfæš, wie dies schon mit Blick auf die Besonderheiten des priesterlichen Gutes deutlich wurde. Darüber hinaus gibt es mit der Wendung „von ganzem Herzen, von ganzer næfæš und mit ganzer Kraft“ ein weiteres markantes Beispiel im Bereich der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur (→ Deuteronomismus). Prominent in dieser dreigliedrigen Fassung taucht es in Dtn 6,5 als Teil des → Schema-Israel, weiter in Dtn 4,29 („JHWH suchen“), Dtn 10,12 und Dtn 11,13 (JHWH dienen), Dtn 13,4 sowie Dtn 30,6 (JHWH lieben), Dtn 26,16 (Satzungen beachten), Dtn 30,2 (auf seine Stimme durch Mose hören), Dtn 30,10 (umkehren zu JHWH) und 2Kön 23,25 (Bundesschluss des Josia) auf. Zweigliedrig mit לֵב lev „Herz“ und næfæš verwenden es 1Kön 2,4; 1Kön 8,48 und 2Kön 23,3. In wechselnden inhaltlichen Zusammenhängen drückt diese Formel eine besondere Intensität des Handelns oder der Beziehung aus. So qualifiziert sie in Dtn 6,5 die von Israel geforderte Liebe zu JHWH und damit das Gottesverhältnis. In 1Kön 2,4 wird damit die JHWH-gemäße Lebensführung der Söhne Davids als Bedingung für den Bestand der Dynastie benannt. Im Tempelweihgebet, 1Kön 8,48, kennzeichnet es die Intensität und Aufrichtigkeit der Umkehr Israels zu Gott als Voraussetzung für die Erhörung des Gebets um Rettung aus der Gefangenschaft im Feindesland. In gleicher Linie bekräftigt → Josia in 2Kön 23,3 beim → Bundesschluss mit JHWH, dass er die Gebote befolgen werde. Im summarischen Abschluss der Szenerie schlägt die dreigliedrige Formel einen Bogen zu Dtn 6 und hebt Josia in seiner JHWH-Treue als einzigartigen König heraus, was auch durch die Kennzeichnung der Weisung als Mose-Tora unterstrichen wird. Sekundär auf JHWH übertragen finden wir es in Jer 32,41, wenn im Zusammenhang der Ankündigung einer ewigen בְּרִית bərît „Bundesverpflichtung“ davon die Rede ist, dass JHWH sein Volk im Land einpflanzen wird und dieses Tun als Handeln „mit ganzem Herzen und ganzer næfæš“ gekennzeichnet wird (vgl. sekundär 1Chr 22,19; 2Chr 6,38; 2Chr 15,12; 2Chr 34,31). Wie vom Menschen gefordert, wendet sich Gott selbst nun in gleicher Intensität seinem Volk zu.

Im nichtpriesterlichen Schöpfungsbericht (→ Schöpfung) und dem entsprechenden Stratum finden wir mit Gen 2,7 eine den Leviticus-Texten parallele Rede vom Menschen als næfæš. Die Verbindung des Begriffs mit חַיָּה ḥajjāh „lebendig / Leben“ signalisiert, dass hier nicht mehr an ein Einzelmoment in Erinnerung an die organischen Haftpunkte oder an die Bedeutung „Leben“ zu denken ist. Letzteres ergäbe schlicht eine Tautologie. Der von Gott in seiner Leiblichkeit geformte und durch seinen Atem belebte Mensch ist næfæš und als solcher vital.

Priesterschriftlich wird diese Rede vorausgesetzt und auf die Tierwelt erweitert. Nach der → Priesterschrift eignet sowohl Menschen als auch Tieren eine næfæš. Beide werden ohne Unterschied als „lebendige næfæš“ angesprochen (Gen 1,20f.24.30). Analog dazu werden die Tiere als die „ganze lebendige næfæš“ auch in den Noahbund Gottes in Gen 9,12.15f mit einbezogen (vgl. Spr 12,10). In den Reinheitsvorschriften aus Lev 11,46 finden wir diese Denkweise erneut.

8. Unterschiedliche Funktionen der Rede von der næfæš

Bei der Frage nach der Funktion der Rede sind besonders zwei herauszuheben, ohne dass damit die Leistungsfähigkeit dieser Fragestellung schon erschöpfend erfasst wäre (vgl. etwa die grammatische Funktion eines Personalpronomens; Kollektivaussagen; Beziehungsqualität).

Zum einen kann mittels der Rede von der næfæš Selbstdistanz und Reflexivität zum Ausdruck gebracht werden, so in den Aussage- und Beschreibungskontexten: næfæš als ein Behälter zur Aufbewahrung der eigenen Pläne (Ps 13,3) bzw. das Ausschütten der næfæš über sich selbst als Akt der Erinnerung, der Vergegenwärtigung vor und für sich selbst (Ps 42,5). Hier hält die althebräische Sprache die Möglichkeit bereit, das menschliche Vermögen zur Distanzierung von sich selbst, von seinem eigenen Wollen und seiner eigenen Geschichte auszudrücken.

Auch erzählerisch wird davon Gebrauch gemacht, etwa wenn Figuren über sich selbst oder wenn andere über sie sprechen. So bringt die wiederholt auftauchende Redeweise „die næfæš in die Hand nehmen“ oder „auf die Handfläche legen“ zum Ausdruck, dass ein David gegen den Philister → Goliat sich und sein Leben aufs Spiel gesetzt hat (1Sam 19,5) oder dass ein Hiob unerschrocken gegen Gott sein Recht einfordert:

„Wozu soll ich mein Fleisch mit meinen Zähnen festhalten? Vielmehr nehme ich meine næfæš in meine Hand!“ (Hi 13,14)

Da ergreift jemand die Initiative, übernimmt Verantwortung (Ri 12,3) oder macht sich verwundbar, indem er seine næfæš offenlegt (1Sam 28,21). Jeweils bringen die Formulierungen mit næfæš als dem handelnden Subjekt zum Ausdruck, dass sich ein Mensch mit seiner ganzen Existenz wagt und als dieser eine Mensch agiert. In unterschiedlichen Fremd- und Selbstaussagen kann in dieser Weise ein Mensch zum Gegenstand einer Aussage gemacht werden. Übersetzungen dieser Formulierungen mit „sich ein Herz fassen“ oder „den Mut zusammennehmen“ kommen zwar unserer Sprachwelt nahe, verdecken aber leicht, dass hier der Mensch ganz involviert ist.

Die Aufforderung aus 1Sam 2,16 bringt den Menschen in seiner Möglichkeit zur Selbstdistanz zur Sprache: „Nimm dir, was deine næfæš will!“ Hier wird deutlich, dass der Angesprochene sich auch anders als willfährig gegenüber seiner næfæš verhalten kann (vgl. Dtn 4,9).

Eindrücklich bringt auch die Erzählung von → Elia in der Wüste in 1Kön 19,1-18 die Leistungsfähigkeit dieser Distanz schaffenden und reflexiven Rede zum Ausdruck. Dort heißt es von Elia, dass er sich unter einen Ginsterstrauch setzt und „seine næfæš zum Tod hin befragt“ (1Kön 19,4). Die Zürcher Übersetzung gibt dies wieder mit: Er „wünschte sich den Tod.“ Die hebräische Erzählung formuliert anthropologisch subtiler, eine kaum übersetzbare Offenheit, bei der noch nicht die nachfolgende Aussage vorweggenommen wird. Noch befragt Elia seine næfæš und erst im nächsten Schritt spricht er: „Genug ist es, JHWH, nimm meine næfæš.“

Auch Ps 49,19 spielt mit den Möglichkeiten dieser hebräischen Redeweise. Wörtlich heißt es in der Beschreibung des reichen, dem Beter bedrohlich erscheinenden Feindes zunächst über sein Handeln an sich selbst: „Denn seine næfæš segnet sich in seinem Leben“ – und dann in einer Beschreibung der Reaktion anderer auf sein Leben: „Sie preisen dich, dass du dir Gutes schaffst.“. Die parallelen Aussagen bringen das Gleiche zum Ausdruck. Seine Umgebung stellt den Erfolg heraus, mit dem dieser Mann sein Leben bereichert. Und er selbst existiert in eben dieser Selbstbezüglichkeit, indem er seiner eigenen næfæš Lebenskraft zufügt.

Neben Selbstdistanz und Reflexivität bringt die Rede von der næfæš nicht nur in der deuteronomisch-deuteronomistischen Wendung „von ganzem Herzen und von ganzer næfæš“ eine besondere Intensität zum Ausdruck. „Klebt, hängt eine næfæš an jemandem“, so drückt dies die Liebe zum Gegenüber aus (Gen 34,3). Die gleiche Redeweise kann auch das Verhältnis zu Gott erfassen: „Meine næfæš klebt / hängt an dir, deine Rechte hält mich fest.“ (Ps 63,9).

Weiter wird die besondere Liebe des Vaters → Jakob zu seinem Sohn in Gen 44,30 durch die Redewendung ausgedrückt, dass „seine næfæš an seine næfæš gebunden ist“. Zwei Menschen sind in dem, was sie als Menschen ausmacht, aneinander gebunden. Darin drückt sich für diese alttestamentliche Anthropologie die Liebe zu einem anderen Menschen aus. In direkter Parallelität formuliert dies 1Sam 18, wenn über → David und → Jonatan gesagt wird: „Die næfæš Jonatans ist gebunden an die næfæš Davids. (…) Er liebte ihn wie seine næfæš.“ (1.Sam 18,1.3).

In vergleichbarer Intensität kann auch von der Todesnähe gesprochen werden: „Meine næfæš klebt am Staub“ (Ps 119,25a) – eine Klage, auf die der korrespondierende Halbvers mit der Bitte um Leben reagiert (Ps 119,25b).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973-2015.
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004.
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  • Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006.

2. Weitere Literatur

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  • Michel, D., 1994, næpæš als Leichnam?, ZAH 7, 81-84.
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  • Wagner, V., 2005, Profanität und Sakralisierung im Alten Testament (BZAW 351), Berlin / Boston.
  • Westermann, C., 2004, Art. נֶפֶשׁ, in: THAT, Bd. II, München / Zürich, 71-96.

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