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(erstellt: Mai 2021)

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1. Allgemeines

Auf der Textebene präsentiert das Neue Testament literarisch verfasste Visionen. Die Gattung der Vision wird durch Lemmata von sehen (ὁράω – horaō), erscheinen (ὤφθην – ōphthēn) oder Offenbarung (ἀποκαλύπτω – apokalyptō) angezeigt. Sie beschreibt ein Erlebnis, in welchem eine innerweltlich nicht ausweisbare, aus der Transzendenz auf die Seher und Seherinnen zukommende Offenbarung geschaut (und meist auch begleitend gehört) wird. Die geschilderte Vision kann in unterschiedlichen Situationen erlebt werden, sei es mitten im Tagesgeschehen (z.B. Lk 1,28), in Extremsituationen (z.B. Apg 7,56) oder im Traum („Traumvision“) (z.B. Mt 1,20-21). In der Antike in unterschiedlichsten Literaturen verarbeitet, vermitteln Visionen im Neuen Testament konstituierende theologisch-christologische Einsichten über Gegenwart oder Zukunft, leiten Handeln (z.B. als Berufungserlebnis, s.u.), fungieren als Trost oder Protest oder repräsentieren spirituelle Praxis (z.B. Apk, s.u.). Die hohe Bedeutung von Visionen für das frühe Christentum wird in Apg 2,17-18 (Pfingstereignis) ausgedrückt. Hier werden – neben Prophezeiungen (προφητεύσουσιν – prophēteusousin) der Söhne, Töchter und der Versklavten – Visionen (ὁράσεις – horaseis) der Jugend und Träume (ἐνύπνια – enypnia) der Alten als geistgewirkte Zeichen der Endzeit vor dem Hintergrund von Joel 3,1-2 gedeutet, die sich „unabhängig von Status und Geschlecht“ unter allen Menschen ausbreiten (Theissen 2007, 135-136). Trotz ihrer Bedeutung sind die Visionen im Neuen Testament im Vergleich zum Alten Testament meist kurzgehalten. Ausnahme sind die Visionszyklen der Johannesoffenbarung (Apk 4-22). Ihr literarischer Stil ist an die ausführlichen Visionen Ezechiels und Daniels angelehnt.

2. Paulusbriefe

In den frühesten Schriften des Neuen Testaments, den Paulusbriefen, treten vor allem die Ostervisionen hervor, in denen sich nach neutestamentlichem Verständnis der Gekreuzigte als Lebendiger zeigt. 1Kor 15,5-8 nennt eine große Anzahl von Visionären und Visionärinnen, denen der auferstandene Christus nacheinander erschien (ὤφθη – ōphthē). Die Formulierung entspricht der alttestamentlichen Sprache der Gottes- und Engelserscheinungen (z.B. Gen 12,7; Ex 3,2). Was Petrus laut 1Kor 15,5 als erster sah, interpretierte er in der jüdischen Deutungskategorie endzeitlicher Auferstehung (z.B. Dan 12) als auferstandenen Christus und nicht etwa als Gespenst, was für die Antike als Deutungskategorie ebenfalls nahegelegen hätte (vgl. Mt 14,26; Lk 24,37; siehe Lampe 2006, 106-109). Nach Petrus‘ Vision und Interpretation erlebten weitere Jesusanhänger und -anhängerinnen Visionen, die sie in derselben Weise deuteten.

In der vorpaulinischen (1Kor 15,3) Aufzählung der Visionäre und Visionärinnen von 1Kor 15,3-7 liegt die älteste Überlieferung von Ostervisionen vor. Nach Petrus erscheint der Auferstandene auch den anderen im Zwölferkreis (1Kor 15,5). Bevor Jakobus, der Herrenbruder, eine Vision empfängt, erscheint der Auferstandene fünfhundert adelphoi (ἀδελφοί) in einer Massenvision (1Kor 15,6). Nach antiker Sprachgepflogenheit sind in diese Kollektivbezeichnung auch Frauen eingeschlossen (gegen Heininger 2005). Dies gilt auch für die nach Jakobus genannten übrigen apostoloi (ἀπόστολοι) (1Kor 15,7), die (im Unterschied zur lukanischen Darstellung) über den Zwölferkreis hinausgehen. Beispiele für solche Apostel und Apostolinnen, die sich durch eine Auferstandenenvision zur Evangeliumsverkündigung berufen fühlten (Apostel), sind Andronikus und Junia in Röm 16,7. Auch Paulus zählt sich zu dieser Gruppe, nennt sich aber nochmals gesondert als Letzten in der Reihe (1Kor 15,8-10; 1Kor 9,1).

Den ältesten Bericht über Visionen des Auferstandenen bestätigen auch andere Autoritäten (1Kor 15,11). Paulus sprach mit einigen der genannten Zeuginnen und Zeugen selbst, mindestens mit Petrus und Jakobus (Gal 1,18-19). Von der Menge der 500 berichtet er das Detail, dass einige schon verstorben seien. So lässt er an der Authentizität der Erscheinungen keinen Zweifel (vgl. Theissen 2007, 141). Historisch lässt sich aussagen, dass über 500 Menschen kurz nach dem Kreuzestod Jesu (wie auch immer zu erklärende) Visionen von Jesus erfuhren, die sie so deuteten, dass dem gestorbenen Jesus „von Gott neues Leben, eine neue personale Existenz, geschenkt worden“ sei (Lampe 2006, 108). Dass Gott Jesus erweckt hatte, war für diese Menschen also „nicht nur sinnlich erfahrbar, diese Erfahrung konnte sich auch wiederholen, und sie breitete sich aus auf verschiedene Erfahrungssubjekte, so dass sich wachsende Intersubjektivität einstellte, eine Intersubjektivität, die sich weiter durch […] soziale Bestätigung verfestigte“ (Lampe 2006, 108).

Paulus selbst ist freilich der einzige Augenzeuge, dessen eigene Aussage direkt überliefert ist. In 1Kor 15,8 hat er sie im Vokabular der Tradition formuliert (ὤφθη – ōphthē). In anderen Briefen kann er seine Ostervision anders einfärben und in weitere Kontexte einbinden. In Gal 1,15-16 bezeichnet er sie mit dem Verb apokalyptō (ἀποκαλύπτω – apokalyptō) und stellt sie als Berufung zur Evangeliumsverkündigung unter den paganen Menschen dar. Somit ist auch an dieser Stelle die Vision mit einem konstitutiven Inhalt des frühen Christentums verbunden, insofern die Verbreitung des Evangeliums unter den paganen Menschen die heilsgeschichtliche Wendung vom Heilspartikularismus zum Heilsuniversalismus markiert. Auch in den Evangelien und in der Apostelgeschichte werden sowohl die Auferweckung Jesu als auch die Evangeliumsverkündigung unter den paganen Menschen in Visionserzählungen kommuniziert (s.u.). In Phil 3,2-11 schließlich beschreibt Paulus seine Vision in verinnerlichter Weise als eine Bekehrung (vgl. Heininger 1996, 300-303), indem er sie Erkenntnis (γνῶσις – gnōsis) Christi, meines Herren (Phil 3,8), nennt.

Eine weitere Vision schildert eine Himmelsreise des Apostels (2Kor 12,2-5). Der Apostel wird in den dritten Himmel, ins Paradies, entrückt und hört dort unaussprechliche Worte. Solche Himmelsreisen sind zahlreich belegt sowohl im Judentum (Gen 28,11; 1Henoch 1; 1Henoch 36; 1Henoch 40; 1Henoch 52–54; 1Henoch 60-61; 1Henoch 72-82; TestLev 2-5; Exagoge Ezechiel 68-89; 1QApGen 11,23; 4Q534; 4Q529; 4Q491 fr. 11; 1Q16,4–26; 4Q286; 4Q405; Philo, De specialibus legibus 3.1-2; ApcAbr 15-32; 2 Bar.; 2Henoch 8,1; TestAbr 10-15 [8-12 in Version B]; ApcZeph; 3Henoch; rabbinische Texte: tHag 2,2-5; yHag. 14b-15b; Cant. R. 1,28) als auch im paganen Bereich (z.B. Parmenides, Proem; Platon, Phaedrus 246a-247c.247de; Republica 614b-621d; Cicero, Somnium Scipionis 16-19; Plutarch, de genio Socrates 590b-592e; Apuleius, Metamorphoses 11.23).

Zeugnisse außerkörperlicher Erfahrungen werden bis heute dokumentiert und in z.B. Dorsch, Lexikon für Psychologie, an die Parapsychologie delegiert, die freilich die üblichen Methoden der Sozial-, Kultur- und Naturwissenschaften verwendet. Bei repräsentativen Umfragen gebe mehr als die Hälfte der Bevölkerung an, paranormale Phänomene aus eigener Erfahrung zu kennen –unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Bildung und Religion der Befragten. Intra- und interkulturell verbreitete Grundmuster paranormaler Erlebnisse seien Spukerscheinungen, Nahtod- und außerkörperliche Erfahrungen, Erscheinungen Verstorbener oder spontan auftretende Rückerinnerungen an angeblich „frühere Leben“. Die Parapsychologie suche nach sozial-, persönlichkeits- und neuropsychologischen Korrelaten solcher paranormalen Phänomene (Bauer). Eine neurowissenschaftliche Diskussion außerkörperlichen Erlebens findet sich z.B. in Karnath / Thier, 189-200.

Paulus argumentiert in diesem Text an korinthische Gemeindeglieder, die sich von charismatischen Erlebnissen paulinischer Gegner beeindrucken ließen, dass beeindruckende Visionen kein Anlass sind, sich religiös zu brüsten. Er selbst, der sich mit seiner Himmelsreise als vermeintlich beeindruckender Visionär ausweisen könnte, hält gegen eine pneumatisch-enthusiastische Visionstheologie die Paradoxie von der Macht der Schwachheit; in letzterer sei Gottes Gnade mächtig. Diesen theologischen Kerninhalt hat Paulus wiederum in einer schlichten Audition vom Kyrios vermittelt bekommen (2Kor 12,8-9).

3. Evangelien und Apostelgeschichte

3.1. Synoptiker

Chronologisch folgen den Paulustexten die Visionen im Markusevangelium. Sie beziehen sich auf Jesus, der entweder selbst Visionär oder Inhalt der Vision ist. Drei entscheidende, christologische Auskunft gebende Visionen am Anfang, in der Mitte und am Ende des Markusevangeliums helfen, die Erzählung zu strukturieren. In Mk 1,9-11 sieht Jesus selbst während seiner Taufe, wie sich die Himmel teilen und die Stimme Gottes ihn als seinen geliebten Sohn anspricht (parr. Mt 3,16-17; Lk 3,21-22). Diskutiert wird in der Literatur, ob die Tauferzählung als Berufungsvision zu bestimmen sei. Doch fehlt ihr das Element der Beauftragung (Frenschowski). Die vox dei („Stimme Gottes“) macht mit der Sohnesansprache in dieser intimen Szene zwischen Vater und Sohn den Hörenden des Evangeliums deutlich, wer Jesus bereits zu Beginn seines Wirkens ist.

Die vox dei bestätigt die Gottessohnschaft erneut in der Mitte der Erzählung auf einem Berg (sog. Verklärung), nachdem sich Jesus als Messias des Wortes und der Tat ausgewiesen hat und sich nach dem Bergabstieg auf den Weg nach Jerusalem begibt, der in seine Passion führt (Mk 9,2-13; parr. Mt 17,1-9; Lk 9,28-36; auch 2Petr 1,17-18). Gegenüber der Taufszene sind in dieser visionären Szene die Visionssubjekte und -objekte erweitert: Drei engste Jünger, Petrus, Jakobus und Johannes, sehen, wie Jesus in eine eschatologische Gestalt gewandelt wird. Sodann erscheinen vor ihnen als autoritative Figuren des Alten Testaments Mose und Elia und unterhalten sich mit dem gewandelten Jesus. Sie kommen ins Spiel, um die eschatologische und heilsgeschichtliche Stellung Jesu zu klären. Die vox dei weist an, auf die Worte Jesu zu hören. Es liegt nahe, diese Anweisung vor allem auf Jesu soeben zentral in der Mitte des Evangeliums gesprochenen Kreuzesnachfolge-Worte (Mk 8,34-9,1) zu beziehen. Ihre Befolgung trägt die Verheißung diesseitigen und jenseitigen heilvollen Lebens. Verschiedene Gattungszuordnungen für die Erzählung von der Verklärung auf dem Berg werden in der Exegese diskutiert. Besonders nahe legt sich die Parallele zur Theophanie auf dem Sinai in Ex 24 (Gnilka). Vor dem Hintergrund des Sinaibundes und im Angesicht der Propheten Israels, durch Mose und Elia vertreten, wird Jesus als Autorität installiert. Die Erzählung sticht heraus, da sie drei verschiedene Visionen, eine Wandlung, eine Doppelerscheinung und eine Theophanie, zusammenführt. Der gewandelte, strahlende Jesus mag ursprünglich einer Ostervisionserzählung entstammen, die der Evangelist in die Mitte des Evangeliums vorgezogen hat (Bultmann, 278–279; vgl. auch Theissen / Merz, 274-275).

Die bekannte traditionsgeschichtliche These Vielhauers (Vielhauer, 213), dass der Dreischritt von Taufe, Verklärung und Kreuzigung dem altägyptischen Thronbesteigungsritual entspreche (Apotheose, Präsentation und Inthronisation), konnte sich im Forschungsdiskurs nicht durchsetzen, da ägyptologisch zu bezweifeln ist, dass es solch ein Ritual überhaupt gab. Die Kreuzigungsszene ist jedoch auf andere Weise in die hier vorgeschlagene visionäre Dreierstruktur einzubeziehen: Vor jeder der drei Visionen verkündet eine menschliche Stimme ihre Einsicht, wer Jesus sei. Vor der Taufe ist es Johannes der Täufer (Mk 1,7), vor der Verklärung spricht Petrus sein Christusbekenntnis (Mk 8,29), und vor Ostern erkennt der Hauptmann unter dem Kreuz Jesus als Gottes Sohn (Mk 15,39; Vgl. Theissen / Merz, 429).

In der dritten Vision am leeren Grab am Schluss des Markusevangeliums (Mk 16,1-8) sind drei Frauen die Visionärinnen, die einen jungen Mann am Grab in weißem Gewand (vgl. Mk 9,3) sehen, der ihnen verkündet, dass Jesus auferstanden sei und als Auferstandener in Galiläa Petrus und den Jüngern erscheinen werde (parr. Mt 28,1-10; Lk 24,1-11). Damit wird die entscheidende christologische Aussage gemacht, dass der Gekreuzigte nun der Auferstandene sei. Maria Magdalena wird als erste im Kreis der Frauen am leeren Grab genannt. Ihre Erstbenennung gilt auch für Matthäus (Mt 28,1) und Lukas (Lk 24,10). Darüber hinaus markiert sie die einzige Schnittmenge in den abweichenden Listen von Frauen am Grab in den Synoptikern. In Mt 28,9 (in der Frauengruppe), Joh 20,14-18 und im sekundären Markusschluss (Mk 16,9; aus dem 2. Jh. n. Chr.) ist Maria Magdalena die erste Zeugin des Auferstandenen. Die breite Bezeugung ihrer Vision könnte auf eine frühe Tradition weisen. Ob die Protophanie Maria Magdalenas historisch der Nennung Petri als erstem Zeugen in 1Kor 15,5 vorzuziehen ist (vgl. auch Mk 16,7), ist hingegen schwer zu entscheiden. Dass die Historizität der Erzählung vom leeren Grab „eher skeptisch zu beurteilen sein dürfte“ (Konradt, 456), spräche für Petrus als Erstvisionär. Andererseits stellt eine Frau als erste Osterzeugin die lectio difficilior („schwierigere Lesart“) dar; d.h., es hätte einen Grund gegeben, eine alternative Tradition mit Petrus als erstem Osterzeugen in Umlauf zu bringen (weitere Argumente bei Theissen / Merz, 433-435).

In Mk 6,47-52 sehen die Jünger Jesus in einer weiteren Vision. Jesus erscheint ihnen, während sie im Boot auf dem See Genezareth dem Unwetter trotzen. Auf dem See wandelnd, stillt Jesus den Sturm. Stilelemente von Epiphanieszenen wie „fürchtet euch nicht“ werden verwendet. Die Jünger in ihrer Angst interpretieren Jesu Erscheinung als Gespenst. Das Motiv des Gespenstes erinnert an die Ostervision in Lk 24,36-43, in der ausdrücklich festgestellt wird, dass Jesus kein Gespenst sei, so dass wohl auch im traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Mk 6 eine Ostervision steht. Die Erzählung wirkt im Kontext der markinischen Erzählung darauf hin, auf Jesu Dasein zu vertrauen und Furcht durch Glauben zu überwinden.

Matthäus und Lukas überliefern in ihrem jeweiligen Sondergut Visionserzählungen über ihre Markusvorlage hinaus. Die Erscheinungen des Auferstandenen werden nicht nur wie bei Markus vom Engel angekündigt, sondern als Begegnungserzählungen ausgestaltet. Damit gehen Matthäus und Lukas weiter als Markus über den schlichten ὤφθη-Bericht (ōphthē-Bericht) von 1Kor 15 hinaus. Im Matthäusevangelium wird erzählerisch ausgeführt, wie der Auferstandene die Ankündigung des Engels erfüllt und zunächst den Frauen auf ihrem Weg zu den Jüngern begegnet. Dass sie dabei seine Füße umfassen, ist ein Hinweis auf die Körperlichkeit des Auferstehungsleibes, der damit nicht als Geist zu bestimmen ist (Mt 28,9). Die Jünger sehen (ἰδόντες – idontes) den Auferstandenen auf dem Berg (Bezug zur Verklärung: Mt 17,1-9), wo er ihnen als letztes Wort den Auftrag zur universalen Mission erteilt. Die lukanischen Begegnungserzählungen mit dem Auferstandenen (Lk 24,13-51) betonen die Leiblichkeit Jesu noch stärker, so dass sie sich noch deutlicher apologetisch gegen die Ansicht richten, die Jünger hätten bloß ein täuschendes Gesicht erlebt (vgl. Klein, 736). Der Auferstandene zeigt den Jüngern seine Wundmahle und isst Fisch mit ihnen (Lk 24,39-43). Die Visionsgattung wird sprachlich nicht deutlich markiert. Andeutungen finden sich aber durch das Unsichtbarwerden des Auferstandenen am Schluss der Emmauserzählung (Lk 24,31) sowie durch seinen Friedensgruß an die Jünger, auf den sie typischerweise mit Furcht reagieren (Lk 24,36-37). Doch es fehlen die Signalwörter aus den Wortfeldern des Sehens oder Offenbarens, was die apologetische Tendenz der Erzählung noch verstärkt, da so stärkeres Gewicht auf den Begegnungscharakter als auf den Visionscharakter gelegt wird. Wie im Matthäusevangelium beauftragt auch der lukanische Auferstandene die Jünger zur universalen Evangeliumsverbreitung. Allein bei Lukas (vom sekundären Markusschluss abgesehen) findet sich die Erzählung von der Entrückung des Auferstandenen in den Himmel (Lk 24,51; Apg 1,9-11), die wiederum mit Signalwörtern des Sehens bestückt ist (Apg 1,9-11: βλέπω – blepō, ὀφθαλμός – ophthalmos, ἀτενίζω – atenizō, ἐμβλέπω – emplepō, θεάομαι – theaomai).

In den Vorgeschichten des Matthäus- und Lukasevangeliums wird die Geburt Jesu durch Engelserscheinungen angekündigt und damit in ihrem heilsbedeutenden Anspruch legitimiert. In der matthäischen Vorgeschichte empfängt Josef vier Traumoffenbarungen, in der Gattung des Botentraums zur Sprache gebracht (Mt 1,20f; Mt 2,13; Mt 2,19-20; Mt 2,22), von denen die ersten drei erzählerisch ausgekleidet sind. Im Traum erhält Josef Weisungen von einem Engel, in denen es um die Heilsbedeutung der Geburt Jesu und um die Sicherheit des durch Herodes bedrohten Jesuskindes geht. Auch die Magier instruiert der Engel in Mt 2,12 im Traum, wie sie die Sicherheit des Jesuskindes bewahren können. Die Traumvisionen des Josef unterstreichen die Parallelen zwischen den Kindermordplänen des Herodes (Jesuskind) und denen des Pharao (Mosekind), insbesondere wenn man die zeitgenössischen legendarischen Ausweitungen der Mosegeschichte von Ex 2 in Josephus, Ant 2,205–237 und weiteren frühjüdische Quellen einbezieht (detailliert bei Konradt, 32). Die unterlegte Mosetypologie zeigt verstärkt, dass Gott die Heilsgeschichte lenkt, auch gegen mächtige Oppositionsversuche.

In den Engelsvisionen im Lukasevangelium erscheint der Engel Gabriel (vgl. Dan 8,16; Dan 9,21) Zacharias und Maria im Wachzustand und kündigt die Geburten des Täufers und Jesu an (Lk 1,11-20; Lk 1,26-38). Die Visionsszenen sind hier zu ausführlichen, kunstvoll gegliederten Dialogen ausgestaltet. Sie erinnern an bereits bekannte geburtsankündigende Engelsszenen wie etwa Gen 17,18 und Ri 13,3. Unmittelbar nach Jesu Geburt erscheint dann wiederum ein Engel den Hirten auf dem Felde und erläutert ihnen die Bedeutung dieses Ereignisses. Ein Chor von himmlischen Heerscharen erweitert die Engelserscheinung, um Gott anlässlich der Geburt des Retters zu preisen (Lk 2,8–21). Ein weiteres Mal erscheint ein Engel im Lukasevangelium Jesus selbst (Lk 22,42-44) und steht dem voller Angst in Gethsemane Betenden, dass der Kelch des Leidens an ihm vorübergehen möge, zur Seite. Diese Engelerscheinung erinnert an Daniels Stärkung durch den Erzengel Michael in Dan 10,18-19. Insgesamt werden die Engelserscheinungen den legendarischen Gattungen zugeordnet (Frenschowski).

Für die Frage nach dem historischen Jesus interessant ist die Vision Jesu über den Sturz des Satans in Lk 10,18 aus dem lukanischen Sondergut: Jesus berichtet seinen Jüngern, dass er den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen sah (ὁράω – horaō). Während spätere Christen den Satan durch Jesu Tod und Auferstehung überwunden dachten (Joh 12,31; Joh 16,11; Apk 12,5ff.), sah Lk 10,18 zufolge Jesus selbst den Sturz des Satans schon zu seinen Wirkzeiten in einer Vision, die sich angesichts seiner Exorzismus- und Wundergabe plausibilisierte. So könnte der Satanssturz eine Berufungsvision Jesu darstellen. Seinen Jüngern zumindest begründete Jesus deren Bevollmächtigung zur Dämonenaustreibung in Lk 10,19 mit dem Satanssturz (vgl. Theissen / Merz, 197 und 236). Mt 4,1–13 (par.) könnte eine mythische Ausgestaltung dieser Vision Jesu sein.

Die Seligpreisung des matthäischen Sondergutes Mt 5,8 (die reinen Herzens sind, werden Gott schauen; ὄψονται – opsontai) muss nicht allein auf die Gottschau im Eschaton zielen (Frenschowksi, Konradt, 69-70), sondern kann auch die metaphorische Bedeutung der Psalmensprache (vgl. Liess, 254-259) aufgreifen, in der „Gott schauen“ auf die leben- und heilspendende Gegenwart des sich zuwendenden Gottes abhebt. In dieser metaphorischen Bedeutung fiele Mt 5,8 aus der Visionskategorie heraus, es sei denn zu dieser Gegenwart Gottes käme ein mystischer Aspekt (vgl. Liess, 256-257, mit Blick auf Ps 11; Ps 16; Ps 17 als mögliche Beispiele) hinzu.

3.2. Johannesevangelium

Das Johannesevangelium geht theologisch anders mit Visionen um. Es geht weniger um einzelne Visionserzählungen (Jesus als Visionär: Joh 1,48f; Joh 5,19; Joh 6,46; Abraham und Jesaja mit prophetischer Vision in Joh 8,56 und Joh 12,41), die theologische Einsichten vermitteln oder Weisungen geben, sondern um einen grundsätzlichen Akt des Glaubens: Die Gottschau in Jesus. Philippus bittet Jesus in Joh 14,8-9, dass er ihnen, den Jüngern, den Vater zeige. Jesu Antwort „Wer mich sieht, sieht den Vater“, zeigt, dass Jesus zu schauen (θεωρεῖν – theōrein) und zu sehen (ὁράω – horaō) (siehe auch Joh 1,14), im Johannesevangelium eine Form von Gottesglauben darstellt.

Bei Philo findet sich ähnliches theologisches Denken (freilich nicht christologisch), wenn er in Cngr 51 und Fug 208 den Namen „Israel“ anders als in Gen 32,29 etymologisch als ὁρῶν θεόν (horōn theon, „Gott schauend“) interpretiert.

Das Schauen Gottes im inkarnierten Logos/Jesus verdichtet sich am Ostertag, wenn die Jünger den Auferstandenen sehen (Joh 14,19) und damit erkennen werden (γνώσεσθε – gnōsesthe; Joh 14,20): „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch.“ Der Evangelist spielt also mit dem Sehensbegriff, der changiert zwischen (a) dem visionären Sehen des Auferstandenen an Ostern, (b) dem Blicken der Jünger auf den Inkarnierten mitsamt seinen Worten (z.B. Joh 14,10; Joh 14,21) und seinem Tun (z.B. Joh 14,10-11) und (c) dem metaphorischen Schauen Gottes als einem Erkenntnisvorgang (Joh 14,20), der in den beiden anderen Sehensvorgängen stattfindet.

Der Auferstandene merkt freilich in der Erzählung vom ungläubigen Thomas kritisch zum Sehen an: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“ (Joh 20,29). Nach seinem Tod ist Jesus nicht mehr sichtbar (Joh 14,19), sondern unsichtbar im Geist als dem Parakleten / Tröster bei den Gläubigen (Joh 14,16-17 in Verbindung mit Joh 14,18). Was bleibt, ist Logos, Jesu Worte (z.B. Joh 14,15; Joh 14,21), das Erzählen von ihm, für alle Zeiten vernehmbar, etwa im Johannesevangelium (vgl. Theissen 2007, 162). Die Gottschau der Jünger im Erblicken des Irdischen und Auferstandenen wird für die johanneischen Gläubigen zur Gotteserkenntnis im geistbegleiteten Hören.

3.3. Apostelgeschichte

Apg 2,17-18 macht den konstitutiven Charakter deutlich, den Träume und Visionen für die Christusbewegung haben (siehe oben). Häufig ist der terminus technicus ὅραμα (horama), ergänzt durch ὅρασις (horasis) und ὀπτασία (optasia). Entscheidende Entwicklungen für die Verbreitung des Evangeliums werden in der Apostelgeschichte in Traumvisionen (Botentraum) angekündigt. Dazu gehören der Übertritt des Evangeliums nach Europa (Apg 16,9), der Zuspruch des Herrn für Paulus‘ Mission in Korinth (Apg 18,10) und für sein Zeugnis in Rom (Apg 23,11) sowie des Engels Zuspruch der Rettung aus Seenot auf dem Weg nach Rom (Apg 27,23-24). Botenträume, in denen verbunden mit Zuspruch weichenstellende Ereignisse angekündigt werden, finden Parallelen in Erzählungen über Potentaten der Antike: Xerxes z.B. empfängt im Traum Anweisungen für seinen Griechenlandfeldzug (Herodot, Historien 7,12-19). Josephus berichtet, dass der jüdische Hohepriester Alexander dem Großen im Traum erschien, um ihm Rat für seinen Perserfeldzug zu geben (Josephus, Antiquitates judaicae 11,333-335; vgl. weiter Theissen 2007, 137-138).

Träume und Traumdeutung hatten in der Antike eine hohe Bedeutung für die Sinnstiftung politischer und persönlicher Erfahrungen. Von Artemidorus von Daldis (ca. 2. Jh. n. Chr.) sind fünf Bücher zur Traumdeutung erhalten, die auf etliche Klassiker, die über Träume schrieben, rekurrieren, einschließlich Aristoteles, De somno et vigilia, und De insomnis (die meisten der Referenzwerke des Artemidorus sind verloren; weiteres in Trapp, 51-52). Auch Philo von Alexandrien widmet ein ganzes Werk, De somniis, den Träumen, fünf Bücher, von denen zwei erhalten sind. Er unterscheidet Träume, in denen Gott direkt spricht, von solchen, in denen Gott und Mensch zusammenwirken, und von solchen, die allein aus dem Inneren des Menschen kommen.

Neben Traumvisionen leiten Visionen im Wachszustand Weichenstellungen für die Evangeliumsverbreitung ein. Eine Praxisanleitung für universales Öffnen des Evangeliums empfängt Petrus in der ekstatischen Vision von Apg 10,9-16 in Joppe. Nach jüdischem Verständnis unreine Speisen werden von Gott als rein erklärt. Die folgende Begegnung zwischen Petrus und Kornelius (welche eine Engelsvision in Apg 10,1-7 angekündigt hatte) verdeutlicht dem Apostel, dass sich das neue Reinheitsprinzip nicht nur auf Speisen, sondern auch auf das Begegnen mit nichtjüdischen Menschen bezieht (Apg 10,34-36). Damit sind entscheidende theologische und gemeindepraktische Weichen für die universale Ausbreitung des Evangeliums gestellt. Auch diese Form der mit Symbolen angereicherten Vision findet Parallelen bei Potentaten. So erscheint z.B. dem Kaiser Vespasian im Serapistempel ein Freigelassener, der sich physisch zur selben Zeit andernorts aufhält, aber in der Vision dem Kaiser im Tempel Büschel, Öl und Opferkränze darbringt und so die göttliche Bestandssicherung für dessen Herrschaft anzeigt (C. Suetonius Tranquillus, Divus Vespasianus 7).

Visionen treten zudem an einem Wendepunkt in der Biographie eines Handlungstragenden auf. Stephanus sieht vor seiner Steinigung den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes (Apg 7,56), was seine Glaubensstärke als Märtyrer unterstreicht, und die Mitglieder des Hohen Rates sehen sein Gesicht als engelsgleich (Apg 6,15). Die Schau verklärter Antlitze oder gesamter Personen findet Parallelen im frühen Judentum und drückt intensive Gottesnähe bzw. Geisterfülltheit aus (z.B. Jesus in Mt 17,2 parr.; Mose in 2Kor 3,7; Ex 34,30; Philo, De vita Mosis 2.70; Abraham in De virtutibus 1.217). Auch pagane Mythologie kennt das Motiv des glänzenden Gesichts (z.B. Timarchos bei Plutarch, De genio Socratis 590b; Servius in Plutarch, De fortuna Romanorum 10).

Paulus Vision vor Damaskus wird prominent dreimal mit leichten Variationen erzählt (Apg 9,3-8; Apg 22,6-10; Apg 26,12-18) und von einer Vision des Hananias (Apg 9,10-16) und einer weiteren Paulusvision (Apg 9,12; Apg 22,17-18) flankiert. Sie ist als Lichterscheinung gestaltet, in der akustisch die Stimme Jesu mit Paulus dialogisiert. Die Audiovision läutet Paulus biographische Wende vom Verfolger zum Verfechter des neuen Christusglaubens ein, zu dessen Verkündigung unter paganen Menschen er beauftragt wird (Apg 22,5; Apg 22,21; Apg 26,17-18; Apg 26,20; Apg 26,23;). Paulus selbst verbindet Damaskusvision und Auftrag zur Heidenmisson in Gal 1,16.

4. Offenbarung des Johannes (Apokalypse)

Die Offenbarung (Apokalypse) des Johannes beansprucht, als ganze Schrift durch Christus vermittelte göttliche ἀποκάλυψις (apokalypsis – Enthüllung / Offenbarung; zur Frage der Übersetzung siehe Alkier / Paulsen 2020) zu sein (Apk 1,1). Der Visionär ist gleichzeitig der implizierte Autor der Schrift, nennt sich Johannes und Mitglied eines prophetischen Kreises (Apk 22,9). Literarische Vorbilder für seine ausführlichen Visionen bieten v.a. Daniel und Ezechiel, aber auf Jesaja und Jeremia. Zahlreiche Motivparallelen finden sich ferner zu anderen frühjüdischen Apokalypsen, insbesondere 1Hen 37–71, 4Esr und 2Bar (weiter z.B. Aune).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933–1979
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977–2004
  • Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart u.a. 21992
  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996–2003
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998–2007

2. Weitere Literatur

  • Alkier, S./Paulsen, Th., Die Apokalypse des Johannes. Neu übersetzt (FNT 1), Frankfurt 2020
  • Aune, D., Art. Johannes-Apokalypse/Johannesoffenbarung, I. Exegetisch, RGG4 4 (2001), 540–547
  • Bauer, E., Art. Parapsychologie, Dorsch. Lexikon der Psychologie, M. A. Wirtz (Hg.), 2020; abgerufen am 05.04.2020, von https://portal-hogrefe-com.ubproxy.ub.uni-heidelberg.de/dorsch/parapsychologie/
  • Bultmann, R., Geschichte der synoptischen Tradition. Mit einem Nachwort von Gerd Theißen, Göttingen 101995
  • Frenschowski, M., Art. Vision I.-V. NT., TRE 35 (2003),117–147
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