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Papyrologie (NT)

(erstellt: Januar 2018)

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1. Papyrologie

Papyrologie bezeichnet die wissenschaftliche Beschäftigung mit den auf → Papyrus, Tonscherben (Ostraka) und diversen Täfelchen (Holz, Wachs,...) erhaltenen Texten aus der (griechisch-römischen) → Antike. Für die Erforschung des Neuen Testaments sind insbesondere die griechischen und lateinischen Papyri, später auch die koptischen von Bedeutung, wenngleich natürlich auch Texte in Hieroglyphen, auf Demotisch, → Aramäisch, Nabatäisch, Arabisch usw. erhalten sind.

Papyri sind aus der Zeit vom 3. Jt. v. Chr. bis ins 14. Jh. n. Chr. erhalten. Der Hauptfundort der antiken Papyri ist → Ägypten, wo die klimatischen Verhältnisse, insbesondere der trockene Wüstensand, ein Überdauern der Papyri ermöglicht hat. Zu den bedeutendsten außerägyptischen Fundorten von Papyri zählen Italien (allen voran Herculaneum), die Levante, Dura-Europos (Syrien), aber auch die Römerlager Vindolanda (Großbritannien) und Vindonissa (Schweiz).

1.1. Literarische, dokumentarische und semiliterarische Papyri

Grundsätzlich unterscheidet man literarische und dokumentarische Papyri. Mit literarischen Papyri werden üblicherweise solche Texte bezeichnet, die für die Lektüre einer bestimmten Öffentlichkeit vorgesehen waren und darüber hinaus auf Nachhaltigkeit und Weitergabe zielen. Unter dokumentarischen Texten versteht man hingegen alle Texte, die aus dem Alltag und der Administration stammen, also Urkunden, Verträge, Listen, Geschäftsbriefe, Briefe persönlichen Charakters etc. Sie sind nicht für die Kunst, sondern für den Alltag bestimmt (Deißmann). Zwischen dieser scharfen Trennung liegen Texte, die als semiliterarisch oder paraliterarisch bezeichnet werden. Zu ihnen werden Texte aus dem Bereich der Schule und Bildung (Diktate, Schreibübungen,..), Astrologie (Horoskope,...), Medizin (Rezepte, Arztberichte,...), Magie etc. gezählt. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf literarische und dokumentarische Papyri.

1.2. Papyrus als Beschreibstoff

Papyrus war in der Antike das Schreibmaterial im Mittelmeergebiet. Der Beschreibstoff „Papyrus“ wird aus dem unteren Teil des Stängels der → Papyruspflanze hergestellt, die bis zu fünf Meter hoch wird. In der Antike wuchs sie v.a. im Nildelta und im Fayyum, wo die Bedingungen für ihr Wachstum am besten waren: ein Sumpfgebiet mit hoher Feuchtigkeit und Hitze. Obwohl Papyrus auch in Äthiopien, Teilen der Levante, Babylon und in der Gegend von Syrakus auf Sizilien wuchs, hatte Ägypten das Monopol in der Papyrusherstellung inne. Trotz des Konkurrenzmaterials Pergament, das seinen definitiven Siegeszug mit dem ausgehenden 4. Jh. n. Chr. antreten sollte, wurde der Papyrus nicht ganz verdrängt, sondern blieb bis ins 8. Jh. n. Chr. im Einsatz.

1.2.1. Papyrusherstellung

Grundsätzlich unterscheidet man zwei Arten der Papyrusherstellung. Zum einen gab es die Methode, bei der dünne Streifen (philyrai) vertikal vom Mark abgeschnitten und aneinander gelegt wurden. Im 90°-Winkel wurde dann eine zweite Schicht von Papyrusstreifen darüber gelegt. Die dadurch entstandenen Blätter wurden gepresst und getrocknet. Da das saftige Mark der Papyruspflanze klebrig ist, war in der Regel keine Zugabe weiterer Bindemittel nötig. Die zweite Methode, das sogenannte Groningen-Verfahren, ist wesentlich seltener an erhaltenen Papyri ersichtlich. Dabei werden die einzelnen Papyrusstreifen nicht geschnitten, sondern mit Hilfe einer Nadel rundum vom Papyrusstängel abgetrennt. Die dadurch entstandenen Streifen waren wesentlich breiter als bei der ersten Methode, die Herstellung des Blattes erfolgte jedoch ident dazu: die breiteren Papyrusstreifen wurden aufgelegt und mit einer entsprechend großen zweiten Schicht horizontal versetzt durch Pressen zusammengefügt.

Die Qualität bei der Herstellung von Papyrus nahm über die Jahrhunderte kontinuierlich ab. Der feinste und dünnste Papyrus stammt aus der Ramessidenzeit (13.-11. Jh. v. Chr.). In späterer Zeit, der Ptolemäischen und der Römischen, wurde Papyrus dicker und schwerer. Nach dem 3. Jh. n. Chr. verschlechtert sich die allgemeine Qualität zunehmend.

1.2.2. Papyrusrolle

Papyrusrollen (griech. βίβλος / biblos, βιβλίον / biblion oder βύβλος / byblos, lat. volumen) wurden durch das Aneinanderkleben der einzelnen Papyrusblätter (kollemata) hergestellt (zum Papyruscodex → Codex). Die Schnittstellen der Blätter nennt man kolleseis. Bei der Herstellung wurde darauf geachtet, diese möglichst flach zu halten, sodass sie problemlos beschrieben werden konnten. Dennoch sind diese Klebestellen bruchanfälliger als der restliche Papyrus. Vielfach sind Textverluste bei Papyrusfunden auf solche Bruchstellen zurückzuführen.

Ein übliches Maß für eine Rolle waren 20 aneinandergeklebte Blätter (je nach Blattgröße ca. 5 m). Die Rolle konnte allerdings durch weiteres Ankleben von Blättern erweitert werden, sodass auch Rollen von 10 m belegt sind. Meist verlief bei der Rolle die Faserrichtung auf der Innenseite, die beschrieben wurde, horizontal, während die üblicherweise unbeschriebene Außenseite eine vertikale Faserrichtung aufwies. Zu Beginn der Papyrusrolle – im aufgerollten Zustand der äußere Teil der Rolle – wurde mitunter ein Blatt in umgekehrter Faserrichtung gestellt, das sogenannte πρωτόκολλον / prōtokollon, welches unbeschrieben blieb und als Schutz für die gesamte Rolle diente.

Zur Aufbewahrung konnte eine Rolle um einen Stab (ὀμφαλός / omphalos) gewickelt werden, zusätzlich wurde häufig eine Art Etikett (σίλλυβος / sillybos) am Ende der Rolle befestigt, das je nach Text über den Inhalt oder Autor / Autorin und das enthaltene Werk Auskunft gab.

Die Kosten einer unbeschriebenen Papyrusrolle können den Berechnungen von Lewis (1974) nach über die Antike hinweg konstant mit dem Lohn eines einfachen Arbeiters für ein oder zwei Tage angenommen werden.

1.2.3. Beschreibung und Tinte

Beschrieben wie gelesen wurde die Rolle von links nach rechts (mit Ausnahme der Sprachen mit Rechts-Links-Schreibung), wobei die rechte Hand das Aufrollen zum Lesen wie Schreiben und die linke Hand das Zurückrollen übernahm. Beschrieben wurde Papyrus in der Regel im Schneidersitz sitzend. Für Hieroglyphen wurde zur Beschreibung ein Pinsel verwendet, in griechisch-römischer Zeit hingegen ein zu einer Schreibfeder zurechtgeschnittenes Schilfrohr (κάλαμος / kalamos). Die Beschreibung erfolgte mit Tinte, die sich aus Ruß, Wasser und Harz oder Gummi arabicum zusammensetzte. Auch farbige Tinte (vor allem rot und rotbraun) wurde zur Beschreibung verwendet.

Rollen konnten wieder verwendet werden, indem die Außenseite beschrieben wurde oder indem die Tinte von der Innenseite abgewischt wurde, um sie neu beschreiben zu können. Auf der Außenseite beschriebene Rollen werden häufig als Opistographen bezeichnet, wenngleich der Terminus ursprünglich nur solche Texte bezeichnete, die auf der Innenseite begannen und auf der Außenseite fortgesetzt wurden. Abgewischte und erneut beschriebene Papyri nennt man Palimpseste. Die Bezeichnung stammt vom griechischen Wort palimpsaō („abwischen“, „abreiben“).

1.3. Weitere Beschreibstoffe

Anderes Schreibmaterial, das vor allem für dokumentarische Texte verwendet wurde, sind Scherben, meist von zerbrochenen Tongefäßen, die schnell und billig zugänglich waren. Auch flacher Sandstein, eigentlich zur Mummifizierung vorgesehene Leinenbandagen, Holztäfelchen usw. wurden verwendet. Bei den Holztäfelchen, die v.a. in der Schule und beim Militär Einsatz fanden, gibt es verschiedene Arten. Weit verbreitet waren Wachstäfelchen. Das sind Täfelchen, die auf einer Seite mit einer Schicht dunklen Wachses (häufig schwarz, aber auch rot) überzogen waren, auf der mit der spitzen Seite des stylus geritzt und die mit seiner flachen Seite wieder für eine Neubeschreibung geglättet werden konnte. Die Wachstäfelchen konnten zu sogenannten Polyptycha zusammengebunden werden, wobei die übliche Menge bei zwei (Diptychon) oder drei Täfelchen (Triptychon) lag. Daneben sind auch dünne Holzplättchen erhalten, die direkt mit Tinte beschrieben wurden.

2. Literarische Papyri

2.1. Klassische Literatur

Unter den großen Klassikern der griechisch-römischen Literatur sind heute einige ausschließlich aufgrund der Papyrusfunde bekannt, wie z.B. das Werk Athēnaiōn Politeia („Der Staat der Athener“), das meist Aristoteles zugeschrieben wird, aber auch die Satyrspiele des Aischylos und des Sophokles, die Aitia des Kallimachos und religiöse Dichtung von Pindar. Autorinnen wie Sappho sind in literarischen Texten hauptsächlich durch Zitate überliefert, auf Papyrus hingegen finden sich Teile ihrer Lyrik. Autoren, deren Werke ausschließlich auf Papyri erhalten sind, umfassen Alkman, Bakchylides, Timotheos, Herondas, Hypereides und Menander auf Griechisch. Viele Funde bekannter Texte stellen darüber hinaus wichtige alte Zeugen zusätzlich zu den aus dem Mittelalter erhaltenen Handschriften dar und haben die Erforschung der Literaturgeschichte nachhaltig verändert.

2.2. Christliche Literatur

Unter den literarischen Texten der ersten Jahrhunderte auf Papyrus finden sich biblische Texte des Alten wie des Neuen Testaments, außerkanonische (apokryphe) Texte und Werke frühchristlicher Schriftsteller. Der vorliegende Artikel konzentriert sich im Wesentlichen auf Papyri mit neutestamentlichem Text.

2.2.1. Biblische Texte (Neues Testament)

Auf Papyrus wurden Texte des Alten wie des Neuen Testaments gefunden. Da die meisten Papyrusfunde nur fragmentarisch sind, sind in Summe lediglich 11% des gesamten neutestamentlichen Textes derzeit auf Papyrus erhalten. Von den 27 Schriften des Neuen Testaments wurden zwei bisher nicht auf Papyrus entdeckt, und zwar der → Erste und Zweite Timotheusbrief. Besondere Verbreitung in Ägypten dürften vor allem die Evangelien, insbesondere → Matthäus und → Johannes gehabt haben. Gleichzeitig gilt zu bedenken, dass derartige Aussagen auf dem derzeit edierten Fundbestand getroffen werden und zu einem gewissen Grad der Zufälligkeit entsprechen.

Derzeit werden 127 Papyri in der Textkritik zur Erschließung des neutestamentlichen Bibeltextes herangezogen (Nestle-Aland 28). Dabei handelt es sich faktisch allerdings nur um 124 verschiedene, da P11 und P14, P33 und P58 sowie P64 und P67 zusammengehören. Darüber hinaus sind inzwischen weitere Papyri bekannt, die bei den nächsten textkritischen Ausgaben des Bibeltextes Berücksichtigung finden werden.

2.2.1.1. Weitergabe in Codexform

Die meisten neutestamentlichen Texte auf Papyrus wurden auf Codices geschrieben. Ausnahmen bilden nach heutigem Wissensstand lediglich fünf der derzeit in der Textkritik zur Erschließung des neutestamentlichen Bibeltextes herangezogenen Papyri, und zwar P12, P13, P18, P22 und P98 (Gregory-Aland Zählung). Diese wurden zwar auf Rollen geschrieben, doch sind alle diese Rollen zur Beschreibung des neutestamentlichen Textes wiederverwendet worden, entweder in Form von Opistographen, i.e. die Wiederverwendung einer Rolle durch die Beschreibung auf der Außenseite, oder in Form von Palimpsesten, d.h. der ursprüngliche Text wurde abgewischt und die Rolle erneut beschrieben. Somit ist bei keinem dieser vier Papyri die Rolle aufgrund ihres Formats gewählt worden, vielmehr dürfte sie zum Zeitpunkt der Beschreibung das zur Verfügung stehende Format gewesen sein.

2.2.1.2. Bedeutende neutestamentliche Papyri

Die ältesten Handschriften des Neuen Testaments sind auf Papyrus erhalten. Zu den ältesten Texten gehören P52, P66, P75, P72, P45, P46 und P47 (Gregory-Aland Zählung). Obwohl sich keine genaue Reihenfolge der ältesten neutestamentlichen Papyri rekonstruieren lässt, ist klar, dass die ältesten aus dem 2. Jh. stammen.

Papyrus 52

P52 wird meist als der älteste erhaltene Text des Neuen Testaments gehandhabt. Frühere Datierungen haben das kleine Papyrusfragment mit Versresten aus Joh 18,31-33.37-38 auf die erste Hälfte des 2. Jh. n. Chr. geschätzt. Heute herrscht in der Wissenschaft dieser frühen Datierung gegenüber Skepsis, eine spätere Datierung, teilweise sogar um ein Jahrhundert später, wurde vorgeschlagen (Nongbri).

Papyrus 66

P66 (200 n. Chr.?), eine Handschrift mit dem Johannesevangelium, ist zunächst schon aufgrund seines Erhaltungszustandes beachtenswert, da sie als Codex gebunden mit den Lagenheftungen und den am Rand zur Stärkung verwendeten zusätzlichen Papyrusstreifen erhalten geblieben ist. Die 30 Blätter enthalten die Kapitel Joh 1-14 vollständig und den Rest des Johannesevangeliums fragmentarisch.

Papyrus 75

P75 weist 27 nahezu vollständig erhaltene Blätter mit Text aus dem Lukasevangelium auf, wobei nur Kapitel 6 bis 17 im Ganzen vorhanden sind, der Rest fragmentarisch. Darüber hinaus umfasst der Papyrus fast ganz Joh 1-12 sowie teilweise Joh 13-15. Selbst Teile des Einbandes des Codex sind noch vorhanden. Der Papyrus galt lange Zeit als Sensation, da er ins 3. Jh. datiert wurde, gleichzeitig aber einen nahezu identen Text zu Codex Vaticanus aus dem 4. Jh. aufweist. Neuere Datierungen setzen P75 allerdings ins 4. Jh. und damit in unmittelbare zeitliche Nähe zu Codex Vaticanus (Nongbri).

Papyrus 72

P72 hat besonders bei der Erforschung der Entstehung des biblischen Kanons Beachtung gefunden, da es sich bei den 95 erhaltenen Blättern um eine Sammelhandschrift handelt, die drei der sieben katholischen Briefe umfasst: Den → Ersten Petrusbrief und den → Zweiten Petrusbrief sowie den → Judasbrief. P72 liefert somit die derzeit älteste Textbezeugung dieser drei Briefe. Von der Handschrift her dürfte es sich bei P72 um eine Abschrift eines Schreibers oder einer Schreiberin handeln, der bzw. die diese Tätigkeit nicht von Berufs wegen ausübte.

Papyrus 46

Bei P46 handelt es sich um einen der ältesten Codices des → Corpus Paulinum. Mit 86 Blättern erhalten ist es der umfangreichste Text mit Paulusbriefen der frühen Zeit. Der ursprüngliche Umfang ist allerdings bis heute unklar und Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. In der heutigen Form weist der Codex Teile vom → Römerbrief, → Hebräerbrief, → Ersten und → Zweiten Korintherbrief, → Epheserbrief, → Galaterbrief, → Philemonbrief, → Kolosserbrief und dem → Ersten Thessalonikerbrief auf. Angeordnet scheinen die Briefe hinsichtlich ihrer Länge. Der Einschluss vom Hebräerbrief ins Corpus Paulinum macht P46 auch zu einem wertvollen Zeugen für Fragen nach dem Autor und für die Kanongeschichte.

Papyrus 45 und Papyrus 47

Bedeutung aufgrund ihres Alters und ihrer Textqualität haben auch P45 und P47 erlangt. P45 weist mit 30 Blättern Teile der vier Evangelien und der → Apostelgeschichte auf, P47 enthält auf 10 Blättern Apk 9,10-17,2.

2.2.1.3. Zur Bedeutung neutestamentlicher Papyri

Neutestamentliche Papyri liefern nicht nur – wie Handschriften auf anderem Beschreibstoff auch – eine Vielzahl von neuen und teilweise eigenen Lesarten (sog. Sonderlesarten), sondern können auch als älteste Textzeugen von besonderer Relevanz für Text- und Kanongeschichte des Neuen Testaments sein. Denn Texte auf Papyrus sind häufig, aber nicht immer älter als neutestamentlicher Text auf Pergament, das sich ab dem 4. Jh. als Beschreibstoff durchsetzte. Nur in dieser Hinsicht ist das besondere Interesse, das neutestamentliche Papyri insbesondere im 20. Jh. erfahren haben, gerechtfertigt.

In der → Textkritik, der neutestamentlichen Teildisziplin, die sich mit dem Text der Handschriften und seiner Weitergabe beschäftigt, wird unter anderem versucht, die älteste Form des Textes aufgrund der erhaltenen Handschriften zu erschließen. Von den derzeit zur Konstruktion des neutestamentlichen Textes berücksichtigten Papyri (124 verschiedene), fallen die Hälfte in die frühe Zeit des 2.-4. Jh. Im Vergleich dazu sind lediglich fünf fragmentarische Pergamentcodices (GA 0189; 0220, 0162, 0171 und 0312) vor dem 4. Jh. erhalten.

Zwei große Entwicklungen in der jüngeren Textkritik gehen zum Teil unmittelbar auf die Entdeckung und Edition der ältesten Papyrusfragmente zurück, wie sie im 20. Jh. erfolgte. Es handelt sich dabei einerseits um die nötige Vorsicht mit dem seit → Johann Jakob Griesbach etablierten methodischem Kriterium der Bevorzugung der kürzeren Lesart, andererseits um die wachsende Skepsis den sogenannten Texttypen (alexandrinischer Text, westlicher Text, byzantinischer Text,...) gegenüber, die bis heute in den Einleitungsbüchern zur neutestamentlichen Methodenlehre vermittelt werden.

Die längere Lesart in den Papyri

Das alte Prinzip der lectio brevior lectio potior est („die kürzere ist die wahrscheinlichere Lesart“) besagt, dass bei unterschiedlichen Lesarten der biblische Text als älter einzustufen ist, der kürzer ist. Diese Beobachtung entstammt der Annahme, dass Schreiber und Schreiberinnen eher Text hinzufügen, als diesen zu streichen. Doch schon Johann Jakob Griesbach formulierte beim Aufstellen dieses Prinzips die Ausnahme, dass die kürzere Lesart nur dann gelte, wenn alte und gewichtige Zeugen ihr nicht widersprechen. Diese alten und gewichtigen Zeugen sind insbesondere in den Papyri vor dem 4. Jh. anzutreffen. Griesbachs wichtiger Zusatz geriet im Laufe der Zeit vielfach in Vergessenheit, sodass allgemein der kürzeren Lesart der Vorzug eingeräumt wurde. Durch neuere Untersuchungen hat sich jedoch das Prinzip der längeren Lesart in den alten Papyri erneut bestätigt (Royse).

Das Ende der traditionellen Texttypen

Die Einteilung von Handschriftentexten in bestimmte Texttypen galt lange Zeit in der neutestamentlichen Wissenschaft als die Methode, um der Fülle der erhaltenen Handschriftenvarianten gerecht zu werden. Unterschiedliche Wissenschaftler führten unterschiedliche Systeme ein, in seiner Grundform wurden aber ein alexandrinischer (alter), ein westlicher und ein byzantinischer Text angenommen, denen dann alle Handschriften zugeordnet wurden. Durch die Entwicklung neuer Methoden in der Textkritik, wie z.B. der kohärenzbasierten genealogischen Methode (Mink), hat sich allerdings die Perspektive geändert: mit komplexen digitalen Berechnungen kann nun jede einzelne Lesart einer Handschrift mit der gesamten Texttradition (insofern sie schon digital erfasst ist) in Verbindung gebracht werden. Die ersten Anwendungsergebnisse dieser Methode an den Katholischen Briefen und der Apostelgeschichte im Rahmen der Editio Critica Maior zeigen bereits, dass die alte Rede von Texttypen nicht mehr haltbar ist. Führende neutestamentliche Textforschungszentren wie Münster (Institut für neutestamentliche Textforschung) und Birmingham (Institute for Textual Scholarship and Electronic Editing) sind in ihrer Arbeit am biblischen Text daher vom Konzept der Texttypen abgekommen, weitere Entwicklungen liegen noch in der Zukunft.

2.2.2. Apokryphe Texte

Unter den außerkanonischen Schriften auf Papyrus ist vor allem der → Hirt des Hermas zu nennen, der eine außergewöhnlich gute Textbezeugung aufweist. Allein aus dem 2.-4. Jh. sind auf Papyrus fünfzehn Handschriften erhalten. Möglicherweise erklärt sich die gute Bezeugung dieses Werkes, die viele neutestamentliche Texte weit übertrifft, durch eine – bei → Eusebius in seiner Kirchengeschichte und bei → Athanasius in seinem 39. Osterfestbrief bezeugte – Verwendung in der Vorbereitung und Unterweisung von Katechumenen. Darüber hinaus sind die → Oden und das → Testament Salomos, diverse Apostelakten (darunter Paulus- und → Petrusakten), das → Protevangelium des Jakobus, Marienevangelium usw. auf Papyrus überliefert. Auch griechische Fragmente des → Thomasevangeliums, das in vollem Umfang in einer koptischen Übersetzung 1945 in → Nag Hammadi gefunden wurde, sind auf Papyrus erhalten.

2.2.3. Patristische Literatur

Unter den auf Papyrus erhaltenen Werken frühchristlicher Autoren finden sich u.a. solche des Aristides, Basilius von Caesarea, Basilius von Seleucia, → Clemens von Alexandria, Cyrill von Alexandria, Didymus des Blinden, → Eusebius von Caesarea, → Gregor von Nazianz, → Gregor von Nyssa, → Ignatius von Antiochien, → Irenäus, → Johannes Chrysostomus, Julius Africanus, Melito von Sardes, → Origenes. Durch einen Sensationsfund 1941 in Tura in der Nähe von Kairo sind Werke des Origenes und Didymos des Blinden umfangreich erhalten geblieben, wie etwa im Falle des Origenes Contra Celsum, De Pascha, Dialogus cum Heraclide oder sein Römerbriefkommentar, im Fall von Didymus sind es v.a. seine exegetischen Abhandlungen zu → Genesis, → Hiob, den → Psalmen, → Kohelet usw. Auch ein kleiner Teil seines Kommentars zum Johannesevangelium ist erwähnenswert, da er ausschließlich auf Papyrus überliefert ist.

3. Dokumentarische Papyri

Innerhalb dokumentarischer Papyri lässt sich zwischen offiziellen und privaten Papyri unterscheiden. Die Grenzen zwischen diesen beiden Kategorien sind jedoch fließend. Zu Papyri offiziellen Charakters zählen zum einen Korrespondenzen mit offiziellen Stellen und Personen wie Edikte und Proklamationen, Protokolle öffentlicher Sitzungen wie Gerichtsverhandlungen, Anfragen, Befehle, Petitionen, Anzeigen, offizielle Steuerbescheinigungen, diverse Ansuchen, Deklarationen (z.B. Zensusdeklarationen), Geburts- und Todesanzeigen usw. Rein privater Natur sind hingegen Einladungen zu diversen Feiern, Zahlungen, Orakel, Geschäftsbriefe und solche mit ausschließlich persönlichem Charakter, aber auch Abmachungen u.Ä. zwischen Individuen, z.B. Eheverträge, Scheidungsurkunden, Arbeitsverträge, Verkäufe, Darlehen, Testamente usw., die durchaus öffentlichen Charakter besitzen.

Derzeit sind allein auf Griechisch ca. 40.000 solcher dokumentarischer Texte, die vielfach nur fragmentarisch erhalten geblieben sind, ediert (cf. http://www.trismegistos.org und http://aquila.zaw.uni-heidelberg.de/start). Vielfach höher ist die Zahl der Papyri, die noch unbearbeitet in Sammlungen lagern. Außerdem kommen jährlich neue Funde hinzu.

Dokumentarische Alltagstexte ermöglichen eine Fülle an Einsichten und Detailwissen über das Leben in der Antike. Neben dem Wissen über griechisch-römische Rechtsangelegenheiten ermöglichen Papyri vor allem Beobachtungen aus der Sozialgeschichte (Bevölkerungsstrukturen, demographische Daten, ethnische und religiöse Zusammensetzungen,...), der Landwirtschaft (mit Detailwissen zu Bewässerung, Bebauung etc.) und der Wirtschaftsgeschichte mit Handel und Gewerbe. Im Bereich der Religionsgeschichte bieten dokumentarische Texte nicht nur Hinweise zur Verehrung und Organisation in einer Vielzahl von paganen Kulten, sondern auch zur Verbreitung von → Judentum und → Christentum. Dokumentarische Papyri vermitteln ein eindrückliches, wenn auch nicht vollständiges Bild der Antike und sind daher für eine Vielzahl von Disziplinen interessant, allen voran für die Altertumswissenschaften, die Rechtsgeschichte und die biblischen wie historischen Fächer der Theologie.

3.1. Dokumentarische Papyri mit christlichem Kontext

In der Zeit des aufkommenden Christentums gibt es keine dokumentarischen Texte, die per se christlich wären, sondern lediglich Texte, die von Christen und Christinnen geschrieben wurden. Die Anliegen in Alltagstexten unterscheiden sich nicht aufgrund der religiösen Herkunft, es sind Geschäftsbriefe, persönliche Briefe, Petitionen etc., wie sie tausendfach vor- und nachchristlich belegt sind. Wer nach einem eindeutig christlichen Kontext bei dokumentarischen Text sucht, steht vor der Herausforderung, eindeutig christliche Merkmale im Text zu identifizieren.

3.1.1. Identifikationsmerkmale christlicher Verfasserschaft

Zur Klärung, ob christliche Verfasser und Verfasserinnen anzunehmen sind, werden meist einschlägige christlich relevante Begriffe oder biblische Namen sowie Zitate herangezogen, doch wenige davon sind exklusiv christlich und eine Abgrenzung zu einem jüdischen oder manichäischen Umfeld (→ Manichäismus) ist schwierig. Eindeutige Hinweise auf christliche Verfasserschaft wären etwa Selbstbezeichnungen als Christ oder Christin, doch sind solche Selbstbezeichnungen in dokumentarischen Texten äußerst selten. Ein Beispiel ist der Christ Heras, Verfasser des wohl aus dem 5. Jh. stammenden Briefes P.Oxy. XLIII 3149. Das „Fehlen“ solcher Selbstbezeichnungen lässt sich etwa dadurch erklären, dass sie im Grunde in einer Korrespondenz zwischen Menschen, die sich ohnehin kennen, überflüssig sind.

Andere Identifizierungsmerkmale wie monotheistische Formulierungen oder religiöse Anreden in den Briefgrüßen sind keineswegs immer eindeutig christlich, meist ist ein jüdischer Hintergrund ebenso wahrscheinlich. Auch das Vorkommen von nomina sacra (→ Codex), der abgekürzten Schreibweise einschlägiger Begriffe und Namen wie Gott, Geist, etc., kann nach dem Stand der neuesten Forschung nicht mehr als absolut sicheres Zeichen für christlichen Ursprung gelten, wenngleich sich ein solcher nahelegt. Ein anderes Kennzeichen für christliche Provenienz können Kreuze sein, die dekorativ einem Text beigefügt werden, doch nicht jedes Kreuz verweist auf einen christlichen Kontext. Meist ist es nicht ein Hinweis allein, sondern das gleichzeitige Auftreten mehrerer Kennzeichnen, die eine christliche Verfasserschaft wahrscheinlich machen. Der derzeit älteste Brief privaten Charakters mit christlicher Verfasserschaft liegt mit P.Bas. 16 (1. Hälfte 3. Jh. n. Chr.) vor.

3.1.2. Texte, in denen Christen oder Christinnen erwähnt werden

Die ältesten Texte, in denen Christen oder Christinnen erwähnt werden, stammen aus dem 3. Jh. n. Chr. Unter ihnen befindet sich eine Liste mit Namen für öffentliche Dienste, SB XVI 12497 (1. Hälfte 3. Jh. n. Chr.), in der ein gewisser Antonius Dioskorus erwähnt wird, der Christ sei, der Geschäftsbrief SB VI 9557 (264 oder 282 n. Chr.), in dem christlicher Klerus erwähnt wird, oder der Überstellungsbefehl P.Oxy. XLII 3035 (256 n. Chr.). Ab dem 4. Jh. sind Texte aus dem monastischen Umfeld in Ägypten erhalten sowie Korrespondenz unterschiedlichster Natur (Berichte, Bittbriefe an Mönche um Fürbitte, Heilung,...) im Umfeld von Klerikern, v.a. Bischöfen.

3.2. Bedeutung dokumentarischer Papyri für die neutestamentliche Wissenschaft

Dokumentarische Papyri sind auf unterschiedlichen Ebenen von immensem Wert für die neutestamentliche Wissenschaft und die Erforschung des → frühen Christentums. Auf der Hand liegt die Bedeutung dokumentarischer Texte mit einem erkennbaren christlichen Hintergrund. Diese geben Aufschluss über den Alltag der ersten Christen und Christinnen im → Imperium Romanum. Texte mit einem kirchlichen Kontext erlauben zudem Rückschlüsse auf Kirchenstrukturen, kirchliches Personal und Verwaltungsstrukturen, v.a. aber lassen sich Entwicklungen in diesen Bereichen über die Jahrhunderte nachweisen.

Nicht weniger aufschlussreich sind dokumentarische Papyri mit eindeutig nicht-christlichem Hintergrund. Adolf Deißmann war einer der ersten Wissenschaftler, die das Potential und die große Bedeutung dieser Texte für das Verständnis des Neuen Testaments erkannten. In der vierten Auflage seines Werkes „Licht vom Osten“ skizziert er drei Ebenen, auf denen das Verständnis neutestamentlicher Texte durch dokumentarische Papyri nachhaltig erweitert wird: eine sprachgeschichtliche, eine literargeschichtliche und eine religionsgeschichtliche Ebene.

Zahlreiche Einzelpublikationen, aber auch ganze Publikationsreihen sind dem Grundanliegen Deißmanns gefolgt und berücksichtigen dokumentarische Papyri für die Erforschung des Neuen Testaments. Dazu gehört zum einen die Erstellung eines Begriffslexikons (Moulton-Miligan), das die dokumentarischen Belege für die Angabe von Bedeutungen neutestamentlichen Vokabulars berücksichtigt. Zum anderen gehört dazu die Sammlung von Papyri, die für Text und Umwelt des Neuen Testaments besonders relevant sind, wie sie etwa in der Reihe „New Documents Illustrating Early Christianity“ vorliegt. Die Reihe „Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament“ wertet mit klarer Methodik dokumentarische Texte in sprachlicher, sozialgeschichtlicher und thematischer Hinsicht systematisch für das Verständnis des Neuen Testaments aus. Dabei steht als grundlegende Frage im Hintergrund, wie die Texte des Neuen Testaments zu ihrer Abfassungszeit verstanden werden konnten.

3.2.1. Sprachgeschichtliche Bedeutung

Dokumentarische griechische Papyri der griechisch-römischen Zeit sind in derselben Sprache geschrieben wie das Neue Testament, nämlich im sogenannten Koine-Griechisch. Mit dieser Sprache ist jene gemeint, die von einfachen Menschen gesprochen wurde, v.a. aber die Verkehrssprache (lingua franca) des Imperium Romanum und damit „Weltsprache“ war. Koine-Griechisch, die „allgemeine“, die „gemeinsame“ Sprache (he koinē dialektos) ist die Sprache der Menschen und ihres Alltags, öffentlich, privat, geschäftlich. Es ist dasselbe Griechisch, das sich auch im Neuen Testament findet, weswegen die Rede von einem „neutestamentlichen Griechisch“ irreführend ist.

Dokumentarische und neutestamentliche Texte sind syntaktisch, semantisch und stilistisch miteinander vergleichbar, auf Laut- und Flexionsebene zum einen, im Wortschatz, in Wortverbindungen sowie in formelhaften Wendungen zum anderen. Erhellend erweisen sich dokumentarische Texte im Hinblick auf Wortbedeutungen, sie geben vielfach einen wesentlich breiteren Eindruck in die tatsächlichen Bedeutungen und Anwendungsfelder von Wörtern, als sich dies aus dem unmittelbaren Kontext des Neuen Testaments erschließen ließe. Bei der Untersuchung von ganzen Phrasen in neutestamentlichen Texten lassen sich formelhafte Wendungen erkennen, was nicht nur – etwa bei Briefen in Form von Eingangs- und Schlussgrüßen – Aussagen über die Textsorte zulässt, sondern insbesondere über den Hintergrund der neutestamentlichen Autoren. Wenn etwa der Autor von 2Thess 2,3 die ansonsten im Neuen Testament nicht bezeugte Wendung „auf keine Weise“ verwendet, zeigt ein Vergleich mit Alltagstexten, dass diese Wendung ausschließlich in rechtlich bindenden Texten wie Verträgen vorkommt. Damit lässt sich eine mögliche Nähe des Autors zu solchen Texten argumentieren. Ähnlich legt sich aus dem Vergleich mit dokumentarischen Texten für das Wort ἀναπέμπω / anapempō („hinaufschicken“) in der Passionserzählung in Lk 23 eine technische Verwendung mit der Bedeutung „überstellen“ nahe, da dieses Wort einschlägig in Überstellungsbefehlen erhalten ist. Mit der Berücksichtigung des Kontextes dieser Überstellungsbefehle lassen sich weitere Rückschlüsse für die Passionsdarstellung im Lukasevangelium erschließen, galten diese doch der weiteren Untersuchung eines zur Anzeige gebrachten Falles, ein Urteil war damit noch nicht impliziert. Zudem lässt sich auch erkennen, dass der Autor des Lukasevangeliums wohl mit der Amtssprache seiner Zeit vertraut war.

3.2.2. Literargeschichtliche Bedeutung

Auf der Ebene der Literargeschichte helfen dokumentarische Papyri v.a., um Textsorten und Aussageabsichten von neutestamentlichen Schriften im Ganzen, aber auch in Teilen besser zu verstehen. Ein Hauptuntersuchungsfeld sind dabei seit Jahrzehnten Briefe. Zahlreiche Publikationen beschäftigen sich mit dem Vergleich zwischen den paulinischen Briefen und den aus der Antike erhaltenen Alltagsbriefen auf Papyrus. Dabei zeigt sich z.B., dass Paulus der Textsorte entsprechend Formeln und Phrasen konventionsgerecht verwendet, aber – wie andere Briefschreiber und -schreiberinnen seiner Zeit auch – einen individuellen Stil aufweist. Die Rede von einer eigenen „christlichen Briefform“ ist damit absurd: die neutestamentlichen Briefe eines Paulus folgen den Konventionen antiken Briefschreibens.

Papyri haben darüber hinaus geholfen, jahrzehntelang in der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft vorgenommene Einteilungen von Briefeinleitung, Briefcorpus und Briefschluss als überholt aufzuzeigen. Denn die Untersuchungen von Einleitungsformeln in Alltagsbriefen persönlichen Charakters haben verdeutlicht, dass persönlicher Dank für gute Nachrichten (z.B. an Adressaten und Adressatinnen, bei Paulus regelmäßig an Gott) stets Teil des Briefcorpus (Hauptteil des Briefes) und nicht mehr Teil der Briefeinleitung ist. Darüber hinaus lassen sich mit Hilfe der Papyri typische Wendungen identifizieren, die Aussagen über den Charakter der Briefe zulassen (Empfehlungsschreiben, Intensität vorgebrachter Anliegen in Briefen persönlichen Charakters,...).

3.2.3. Kultur- und religionsgeschichtliche Bedeutung

Der unschätzbare Reichtum an Informationen aus dokumentarischen Texten erlaubt die Lebenswelt und die Realität der Autoren wie der Adressaten und Adressatinnen der neutestamentlichen Schriften besser zu verstehen und auszuleuchten. So haben Alltagstexte etwa dazu beigetragen, Paulus als arbeitenden → Apostel tiefverwurzelt im Leinengewerbe zu erkennen. Zahlreiche seiner Begrifflichkeiten, die später zentrale christliche Begriffe werden sollten, sind der Alltagswelt seines Gewerbes entnommen, wie z.B. das Wort διακονέω / diakoneō („dienen“), das in Weberlehrlingsverträgen verwendet wird, um die Bereitschaft der Lehrlinge zu bezeichnen, dem Webermeister „in allem zu dienen“, was ihnen aufgetragen wird. Ein anderes Beispiel ist die antike → Sklaverei: Sklavenkaufverträge und ähnliche Dokumente lassen erkennen, dass Paulus den Sklaven → Onesimus aus dem → Philemonbrief nicht als einen entlaufenen, sondern als einen sich herumtreibenden Sklaven beschreibt, was rechtlich gesehen einen großen Unterschied macht.

Auf der Inhalts- und Sachebene sind dokumentarische Texte auch bei metaphorischer Sprache hilfreich. Wenn etwa im Gleichnis Lk 15,3-6 von einem Schafhüter die Rede ist, der einem verlorenen Schaf nachgeht, oder wenn der Autor in Joh 10,11 Jesus sich als guten Hirten, der sein Leben für die Schafe gibt, bezeichnen lässt, dann bieten Papyri Auskunft über den Beruf des Hirten, der üblicherweise nicht der Besitzer von Schafen war, über durchschnittliche Größen von Tierherden, über den Preis von einzelnen Schafen, über den Lohn von Hirten oder auch über die gesellschaftliche Einschätzung, dass Hirten nicht immer vertrauenswürdig seien und ihnen daher eine Nähe zum Banditentum nachgesagt wird. Diese Beispiele lassen erkennen, dass der Vergleich mit antiken Alltagstexten die Exegese vor Auslegungen bewahren kann, die der Realität zur Abfassungszeit der Texte nicht gerecht werden.

Doch geht die Bedeutung von dokumentarischen Papyri für die neutestamentliche Wissenschaft über diese Sachebene hinaus. In Mk 10,28-30 wird die Nachfolge im Munde Petri und Jesu thematisiert. Die Ernsthaftigkeit der → Nachfolge wird dabei mit dem Gedanken des „Alles Verlassen“-Habens unterstrichen. Vergleichstexte auf Papyri zeigen ähnliche Formulierungen, wie z.B. das Empfehlungsschreiben Ch.L.A. 267 (2. Jh. n. Chr., lateinisch), in dem ein Unteroffizier seinen Freund Theon u.a. mit den Worten empfiehlt, dass dieser „die Seinen und seine Habe und sein Tun zurückgelassen“ und ihm „gefolgt“ sei. Anhand solcher Texte wird deutlich, dass es sich bei der Idee des „Alles-Verlassens“ als Zeichen der treuen Nachfolge wohl eher um eine gesellschaftliche Konvention des Ausdrucks für eine verlässliche Person handelt denn um eine typisch „christliche“ Haltung, die sich von der Umwelt, in der die ersten Christgläubigen lebten, wesentlich unterschied.

Literaturverzeichnis

Die Abkürzung der dokumentarischen Papyri folgt der Checklist of Editions of Greek, Latin, Demotic, and Coptic Papyri, Ostraca, and Tablets (http://papyri.info/docs/checklist). Die Abkürzung der neutestamentlichen Papyri erfolgt nach der Gregory-Aland-Zählung (http://ntvmr.uni-muenster.de/liste).

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