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Gedächtnis / Erinnerung

(erstellt: April 2020)

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1. Überblick

Gedächtnis und Erinnerung sind theologisch aufgeladene Begriffe mit großer Wirkungsgeschichte. Schon im Alten Testament sind Gedächtnis und Erinnerung theologische Kernkategorien: Das Volk Israel konstituiert sich über Erinnerung und Vergegenwärtigung. Im Christentum spielen Gedächtnis und Erinnerung ebenfalls eine wichtige Rolle, die Kategorie Anamnesis ist ein ähnlich zentraler Begriff wie zachor im Judentum. Das Neue Testament, das gewissermaßen die Gründungsurkunde des Christentums darstellt, ist dabei das Scharnier zwischen Gründungsereignis(sen) und vergegenwärtigender Erinnerung.

Im Neuen Testament selbst werden für Gedächtnis, Gedenken und Erinnerung unterschiedliche Begriffe verwendet, die alle auf der Wurzel μνη- basieren: ἀνάμνησις (Lk 22,19; 1Kor 11,24.25; Hebr 10,3), μνεία (Röm 1,9; 1Thess 1,2; 1Thess 3,6; Phil 1,3; Phlm 4; Eph 1,16; 2Tim 1,3), μνήμη (2Petr 1,15), μνημόσυνον (Mt 26,13; Mk 14,9; Apg 10,4) und ὑπόμνησις (2Tim 1,5; 2Petr 1,13; 2Petr 3,1). Die Verwendung des Begriffsfeldes sich erinnern, gedenken beschreibt dabei nicht allein ein innerliches oder geistiges Geschehen, sondern bezeichnet auch Worte oder Handlungen, die „dem Gedächtnis dienen und zur Erinnerung werden“ (Michel ThWNT IV, 678-687; 679). Diese Form von Gedächtnis und / oder Erinnerung kann sowohl individuell als auch kollektiv sein und dient in den meisten Fällen der Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens, die zu bewahren ist und damit eine komplementäre Bewegung einleitet: „Die apostolische Verkündigung ist nicht nur Erinnerung, sondern verlangt gleichfalls Erinnerung“ (Michel, ThWNT IV, 681).

Erinnerung als hermeneutische Kategorie für den Umgang und das Verständnis der Evangelien ist fast so alt wie das Nachdenken über die Evangelien selbst. Schon in der Antike wurde der Diskurs über die Evangelien mit Begriffen aus dem Wortfeld μνημονεύω geführt. In diesem Zusammenhang wird zumeist auf Justin (1.apol. 66,3; 63,7; dial. 100,4; 101,3; 102,5; 103,6.8; 104,1; 105,1.5f; 106,1.3f; 107,1), Papias und seine Re-interpretation bei Euseb (Frag. V, vgl. Euseb, h.e. III 39,15), sowie Irenäus von Lyon, bei denen die Evangelien als ἀπομνημονεύματα oder ὑπομνήματα (Euseb, h.e. II 15,1 ; III 24,5) bezeichnet werden, verwiesen.

Bei der Anwendung des Erinnerungsparadigmas gilt es zunächst, die Begrifflichkeit – Gedächtnis und Erinnerung – und die hermeneutischen Vorannahmen für die Übertragung des Konzepts in die Bibelwissenschaft zu klären (2). In der exegetischen Wissenschaft wurde das Erinnerungsparadigma zunächst auf die Frage nach der Weitergabe und Verschriftlichung von Jesuserinnerungen sowie die Frage nach der Verlässlichkeit dieser Traditionsprozesse angewendet (3.1). Ein weiterer Forschungszugang beschäftigt sich mit der Möglichkeit der historischen Rückfrage nach Jesus und löst die Forschungsfrage nach dem historischen Jesus durch das Paradigma des „erinnerten Jesus“ ab (3.2). Dabei wird die Möglichkeit erforscht, neutestamentliche Texte als Externalisierungen oder Artefakte kollektiver Erinnerung zu lesen bzw. kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie (im Gefolge von Maurice Halbwachs und Aleida und Jan Assmann) bzw. social memory theory (im Gefolge von Barry Schwartz) zum Verständnis und der Lektüre neutestamentlicher Texte heranzuziehen. Auch hier gilt es zwischen unterschiedlichen Zugängen zu unterscheiden. Zum einen wird kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie / social memory theory in der Historischen Jesusforschung rezipiert (3.2), zum anderen werden die neutestamentlichen Texte selbst in der Perspektive kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorie (social memory theory) als Externalisierungen des kollektiven oder Artefakte des kulturellen Gedächtnisses verstanden und ausgelegt (3.3).

2. Begriffsklärung: Was ist Erinnerung?

Erinnerung ist als Forschungsparadigma als inter- und transdisziplinäres Forschungsunternehmen seit einigen Jahrzehnten im Trend. Da das Konzept je nach Disziplin unterschiedlich verwendet wird, ist es sinnvoll, mit einer Klärung der Begrifflichkeit und einem Abschreiten des Feldes „Erinnerung“ insgesamt zu beginnen.

Eine sprachliche Herleitung des Erinnerungsbegriffs aus kulturwissenschaftlicher Perspektive lässt unterschiedliche Bedeutungsnuancen erkennen, die bereits anzeigen, in welche Richtung Forschung zur Erinnerung gehen kann. „Der Ursprung des Verbs ‚erinnern‘ liegt im ‚inne werden‘ oder ‚innern‘“ (Berek 2009, 30). Das zugrundeliegende semantische Wortfeld erstreckt sich dabei vor allem auf die Bedeutung „ins Bewußtsein bringen“ oder „ins Gedächtnis bringen“, also „an etwas denken oder zurückdenken“. Der Grundgedanke besteht darin, dass bestimmte Inhalte wieder in den Griff des gegenwärtigen Bewusstseins gebracht werden. Diese Bewegung kann reflexiv geschehen im „sich erinnern“, oder auf ein anderes Subjekt bezogen sein. Damit ist bereits die Unterscheidung zwischen individuellem und kollektivem Erinnern antizipiert.

Die Verwendungsgeschichte des Substantivs „Erinnerung“ zeigt vier unterschiedliche Nuancen auf. Die beiden älteren Nuancen sind einerseits „Mahnung, Aufforderung, Bitte, Hinweis, etwas nicht zu vergessen“, und andererseits „Gedenken, Andenken und Nachdenken über Vergangenes, Vergegenwärtigung, Rückblick“. Die Bedeutungsnuance „Summe der vorhandenen Erinnerungen“ ist hier grundgelegt. Hinzu treten etwa ab dem 18. Jahrhundert zwei weitere Bedeutungsnuancen: „Erinnerung“ steht nun auch für das Erinnerungsvermögen als „Fähigkeit, sich zu erinnern“ und für das Gedächtnis selbst als „Besitz der bisher aufgenommenen Eindrücke“. Wir haben es bei Erinnerung daher mit wenigstens vier unterschiedlichen Bedeutungsfacetten zu tun: a) Hinweis / Mahnung, b) Andenken / Rückblick („Summe“), c) Erinnerungsvermögen und d) Gedächtnis („Besitz“, vgl. Berek 2009, 30).

Auch das Bedeutungsfeld des Begriffs „Gedächtnis“ differenziert sich noch weiter aus in die beiden Bereiche „Erinnerungsvermögen“ im Sinne der „Fähigkeit, Sinneswahrnehmungen oder psychische Vorgänge im Gehirn zu speichern, sodass sie bei geeigneter Gelegenheit ins Bewusstsein treten können“ und dem Gedenken im Sinne des ehrenden Andenkens. Dabei besteht die Besonderheit von „Gedächtnis“ schlussendlich darin, dass hier weniger an einen Prozess als eine Struktur oder einen Zustand, eine Momentaufnahme gedacht wird (Berek 2009, 31). Die Unterscheidung von Speicher- und Funktionsgedächtnis ist hier ebenfalls bereits angelegt. Es gibt also einen Unterschied zwischen der eher prozesshaften Erinnerung und dem eher strukturhaften Gedächtnis. Dabei ist die Konnotation des Begriffs „Erinnerung“ eher aktiv, während das „Gedächtnis“ eher passiv erscheint.

Schon hier zeichnet sich ab, dass Forschung zur „Erinnerung“ und Forschung zum „Gedächtnis“ in ganz unterschiedliche Richtungen gehen kann und dass einzelne Ansätze außer dem gemeinsamen Überbegriff womöglich nicht viel miteinander teilen. Dieser Umstand ist bei der Applikation des Erinnerungsparadigmas in der Bibelwissenschaft ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen den unterschiedlichen Zugängen. Er betrifft beispielsweise die Frage, ob es bei Jesuserinnerungen um den Prozess der Weitergabe von Erinnerungen verbunden mit dem Erinnerungsvermögen der frühesten Zeugen und der Gedächtnisleistung einzelner Tradenten geht oder um Erinnerungsbilder, die in Textform vorliegen.

Wie unterschiedlich die Zugänge zur Erinnerung in den diversen Disziplinen sein können, führt Aleida Assmann in ihrer Einführung in die Kulturwissenschaft auf und formuliert eine Reihe von Unterschieden, die in den einzelnen Disziplinen im Bereich der Definition, aber auch der konkreten Forschung zum Tragen kommen. Dazu gehören nach Assmann (2006, 183):

  • Neurologie (neuronale Grundlagen)
  • Psychologie (kognitive und emotionale Gedächtnis-Prozesse von Individuen)
  • Psychoanalyse / Psychotherapie (Erinnerungsprozesse anlässlich von Lebenskrisen)
  • Soziologie (Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften in sozialen Kontexten)
  • Geschichte (Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit menschlichen Gedächtnisses im Verhältnis zu schriftlichen Quellen)
  • Geschichte / Politologie (Art und Weise, wie Gesellschaften ihre Vergangenheit in symbolischen Formen nach den Bedürfnissen ihrer Gegenwart und abgestimmt auf ihre Zukunftsorientierungen (re-)konstruieren)
  • Literaturwissenschaft / Kunstwissenschaftler (Kulturelles Gedächtnis als kulturelles Erbe in Form von Texten, Bildern, Vorstellungen und Praktiken)

Die Übersicht zeigt, dass das Forschungsfeld „Gedächtnis / Erinnerung“, insofern es die Einzeldisziplinen übersteigt und nur in einer arbeitsteiligen Form erforscht werden kann, in der Tat transdisziplinär ist. Die einzelnen Disziplinen erforschen unterschiedliche Bereiche, bauen dabei aber auf den Ergebnissen andere Disziplinen auf. Dazu gehört auch, dass keine der unterschiedlichen Perspektiven das Thema in seiner Gänze abbilden kann. Keine Disziplin – und das betrifft auch die hier nicht aufgeführte Theologie – hat den Gesamtüberblick und muss daher auf die Erkenntnisse der anderen Disziplinen zurückgreifen, um im wissenschaftlichen Diskurs zu bleiben. Auch diese Erkenntnis ist für die Applikation in der Bibelwissenschaft von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es gilt, den perspektivischen und partikularen Blick im Gedächtnis zu behalten, wenn Traditionsprozesse und ihre historisch-kritische Auswertung (3.1), historisch-kritische Jesusbilder (3.2) oder Evangelien als kollektive Gedächtnistexte (3.3) untersucht werden.

Bei der Übertragung des Erinnerungsparadigmas in die Bibelwissenschaft ist weithin unbestritten, dass es sich dabei nicht um eine historische, sondern um eine hermeneutische Kategorie handelt. Eine kurze Definition könnte lauten: Das Erinnerungsparadigma in der Bibelwissenschaft, das auch als „Memory Approach“ bekannt ist, bezeichnet die Anwendung von Erkenntnissen aus der inter- und transdisziplinären Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung bei Individuen und Gruppen aus Disziplinen wie bspw. der Neurowissenschaft, Historischen Psychologie oder Kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie auf die Erforschung und das Verständnis biblischer Texte. Es bietet damit einen hermeneutischen Zugang („hermeneutical lens“, Huebenthal 2018) für das Verständnis der Prozesse kollektiver Erinnerung, Identitätskonstitution und Traditionsweitergabe und kann bei der Klärung von Erwartungen an Artefakte kollektiver Gedächtnisse wie biblischer Text im Hinblick auf ihre historische Verortung und / oder ihre Bedeutung für eine bestimmte Erinnerungsgemeinschaft dienen.

3. Das Erinnerungsparadigma in der exegetischen Landschaft

Nach einer Pause von fast 1500 Jahren ist die Erinnerung als hermeneutische Kategorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die neutestamentliche Forschung zurückgekehrt. Seit den wegweisenden Arbeiten von Jens Schröter (1997) und James Dunn (2003) ist sie eine zentrale Kategorie in der historisch-kritischen Jesusforschung und wird methodisch, insbesondere für die historische Rückfrage, diskutiert. Auch wenn über den Begriff des „erinnerten Jesus“ oder „Jesus remembered“ Einigkeit zu bestehen scheint, können sich Konzept und hermeneutisches Vorverständnis der unterschiedlichen Zugänge sehr deutlich unterscheiden. Derzeit lassen sich drei grundsätzlich unterschiedliche Ansätze unterscheiden, die jeweils andere hermeneutische Grundlagen, Methoden und Frageperspektiven haben, sich jedoch in einzelnen Punkten berühren oder überschneiden, was eine trennscharfe Einteilung verkompliziert. Sie sind im Folgenden in chronologischer Folge aufgeführt.

3.1 Erinnerung, Überlieferung und Evangelienentstehung / Jesus Remembered I

Der erste Ansatz lässt sich unter die Begriffe „Erinnerung, Überlieferung und Evangelienentstehung“ fassen. Bei diesem Ansatz geht es darum, mit Hilfe des Erinnerungsbegriffs die Bewahrung und Weitergabe der Lehre Jesu durch seine frühen Anhänger zu verstehen und zu beschreiben. Dieser Zugang ist mit den Namen Birger Gerhardsson, Rainer Riesner und Samuel Byrskog verbunden. Gerhardsson führte den Ursprung und die frühe Formung der Jesusüberlieferung auf einen Prozess der Memorierung und Weitergabe der Lehre Jesu zurück. Durch eine Untersuchung der Memorisierungstechniken sei es demzufolge möglich, die in den Evangelien bewahrte Jesustradition bis in die Zeit Jesu und mitunter bis zu ihm selbst zurückzuverfolgen. Die hierbei verwendeten Techniken der Memorisierung und Tradierung ständen dabei einerseits im Kontext analoger hellenistisch-jüdischer Praktiken und hätten andererseits Parallelen in rabbinischen Praktiken, wobei die Lehre Jesu ähnlich wie die mündliche Tora zunächst in oraler Tradition aufbewahrt und schließlich verschriftlicht und ist bei der schriftlichen Weitergabe immer wieder reinterpretiert worden (Gerhardsson 1964).

Eine Stoßrichtung dieses Ansatzes ist, die Entstehung der Jesusüberlieferung in einem historisch-konkreten Setting plausibel zu machen und, anders als die Formgeschichte, die Überlieferungsvorgänge nicht als anonyme Gruppenprozesse zu verstehen, sondern an konkrete Personen als Überlieferungsträger zu binden. Das schließt mündliche Stufen und kreative Neuinterpretationen des Überlieferungsguts nicht aus, sorgt aber für eine personale Kontinuität von Jesus über die frühen Zeugen – Byrskog und Riesner denken hier an den Zwölferkreis – bis hin zu den Evangelien. Dabei spielen zwei unterschiedliche Komponenten eine Rolle: zum einen die Form bzw. die Formen, in denen die Überlieferung weitergegeben wurde und zum anderen die Tradenten selbst, die zumindest im Falle des Zwölferkreises auch gleichzeitig Augenzeugen sind.

Mit den Augenzeugen kommt neben der verlässlichen Form der Weitergabe auch die Frage der verlässlichen Autorität der Tradition ins Spiel. Die Frage der Augenzeugenschaft ist insbesondere für Richard Bauckham bedeutsam, der die Evangelien direkt auf Augenzeugen des Wirkens Jesu zurückführen möchte. Entsprechend ist für Bauckham der Begriff des ‚testimony‘ zentral, der in seinem Ansatz für das von Augenzeugen bewahrte verlässliche Zeugnis über das Wirken Jesu steht (Bauckham 2006). Auch Robert McIver, der zur argumentativen Untermauerung empirische Studien zur Verlässlichkeit des menschlichen Erinnerns heranzieht, ist ebenso wie Craig Keener ein Vertreter dieses Ansatzes.

Ebenfalls im weiteren Spektrum dieses Zugangs sind die Arbeiten von James Dunn zu sehen, der davon ausgeht, dass sich der Eindruck von Jesus und der Einfluss seiner Lehre als impact Jesu dergestalt Eingang in die frühe Jesusüberlieferung gefunden hat, dass es möglich ist, gleichermaßen auf Inhalt und Form der Verkündigung und des Wirken Jesus rückzuschließen (Dunn 2003). Dunn führt die Vielfalt der Überlieferung dabei nicht auf Fehler in der Erinnerung zurück, sondern auf die grundsätzliche Variabilität mündlicher Traditionsprozesse, die sich auch auf die Verschriftlichung niederschlägt. Die Traditionsgaranten sind bei Dunn jedoch nicht die Augenzeugen, sondern Kollektive, die den Stoff in Form einer „informal controlled tradition“ weitergeben, die Dunn den Arbeiten Kenneth Baileys entlehnt hat.

Orale Traditionen können in diesem Zugang sowohl Stabilität als auch Varianz in den Traditionsprozessen bedingen. An dieser Stelle unterscheidet sich der Zugang von der Formgeschichte, die für die Geschichte der synoptischen Tradition zunächst eine anonyme und unliterarische Traditionsweitergabe annahm, die durch Glauben und Liturgie der nachösterlichen Gemeinden Palästinas geprägt war. Anders als Martin Dibelius und Rudolf Bultmann geht dieser Zugang nicht von den Gemeinden als Trägerinnen der Überlieferung aus, sondern sieht Einzelpersonen mit einer gewissen Autorität aus dem Schatten der Vergangenheit treten.

Für diesen Zugang steht die Facette c) des Erinnerungsbegriffs, „Erinnerungsvermögen“ im Vordergrund, flankiert von der Facette b) im Sinne des Rückblicks und der Summe der Erinnerung. Entsprechend sind Ergebnisse der neurowissenschaftlichen und der psychologischen Forschung besonders wichtig, in denen es um die Erinnerungsfähigkeit ebenso wie Verlässlichkeit und Fehleranfälligkeit von individueller Erinnerung sowie deren Weitergabe geht. Ferner geht es hier um den Bereich des verkörperten Speichergedächtnisses, das durch die Verschriftlichung in ein anderes, ebenso verlässliches Speichermedium überführt wird.

Die Kritik an diesem Ansatz ist vielfältig. Drei Hauptkritikpunkte werden immer wieder vorgebracht: Zum einen sei die Analogie zu rabbinischer oder hellenistischer Memorisierungs- und Überlieferungstechnik historisch zweifelhaft, auch gäbe es keine Indizien für neutestamentliche Schulbetriebe oder ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Jesus und seinen Jüngern. Adressaten dieser Kritik sind vor allem die Vertreter der zuerst genannten Schule von Lund und Uppsala.

Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die mitunter einseitige Rezeption der Erinnerungsforschung, insbesondere im Gefolge von Bauckham, Dunn und McIver. Hinzu kommt, dass einige der Grundlagen, wie beispielsweise die „informal controlled tradition“ Kenneth Baileys, mittlerweile wiederlegt sind und damit in den Modellen nicht mehr als tragfähige Argumentationsbasis verwendet werden dürften. Es ist immer wieder zu beobachten, dass die Erinnerungskonstruktionen bei Vertretern dieses Zugangs stärker von theologischen und im weitesten Sinne kirchlichen Vorannahmen geprägt ist als von den Erkenntnissen der inter- und transdisziplinären Gedächtnis- und Erinnerungsforschung. Letztere rechnet im Gegensatz zu den von theologischen Vorannahmen geprägten Vertretern einerseits mit großer Konstruktivität und Störanfälligkeit von Erinnerungsprozessen und andererseits mangels gesamtkirchlicher Autoritäten insbesondere in den ersten Generationen mit weniger stark hierarchisierten und kontrollierten Erinnerungen. Richard Bauckham und Bart Ehrmann, der ebenfalls diesem Zugang zugerechnet werden kann, sind dabei zwei Seiten der gleichen Medaille: Während Bauckham die historische Verlässlichkeit der (Augenzeugen-)Tradition belegen will, geht es Ehrmann darum, diese Verlässlichkeit zu widerlegen. Beide treibt die Frage um, inwiefern die Traditionen historisch verlässlich sind.

Zuletzt ist die grundsätzliche Verhaftung des Ansatzes im Paradigma der Schriftlichkeit kritisiert worden. Die Forschung zur Oralität und mündlichen Überlieferungsprozessen, wie sie von Marcel Jousse, Walter Ong oder Jan Vansina durchgeführt und bereits 1983 von Werner Kelber mit The Oral and the Written Gospel in den neutestamentlichen Diskurs eingebracht wurde, wird weitgehend vernachlässigt. Eine zentrale Erkenntnis der Forschung zur Mündlichkeit, dass nämlich nicht die Möglichkeit besteht, die „Ursprungssituation“ eines Wortes zu erfassen, weil es eine solche „Ursprungssituation“ in mündlichen Kulturen nicht gibt und jede Sprechsituation ein neues Original ist, wird weitgehend vernachlässigt. Das Verhältnis von mündlicher Überlieferung und schriftlichen Jesuserzählungen wird nur unzureichend erfasst und so bleibt der Zugang im Grunde bei einer erweiterten Formgeschichte stehen. Noch immer besteht die Hoffnung, hinter den Text oder durch den Text hindurch auf seine Vorstufen zu schauen.

Ein grundlegendes Problem des Ansatzes ist, dass seine Vertreter trotz ihres Fokus auf diesen Bereich psychologisch-kognitive, soziologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse oft nur sehr selektiv rezipieren und daher im transdisziplinären Erinnerungsdiskurs nicht anschlussfähig sind. Insofern ist die kritische Auseinandersetzung mit ihrer Position, wie sie von Jens Schröter, Christine Jacobi, Chris Keith oder Anthony Le Donne geleistet wird, zwar für den Bereich neutestamentlicher Exegese im allgemeinen und historischer Jesusforschung im Besonderen relevant, leistet aber letztlich keinen Beitrag zur Diskussion, welchen Stellenwert kulturwissenschaftliche Ansätze in der Bibelwissenschaft generell haben (können), sondern bleibt im Bereich der (durchaus notwendigen) Auseinandersetzung mit einer speziellen Position in einem bibelwissenschaftlichen Teildiskurs.

3.2 Erinnerter Jesus / Jesus Remembered II und Memory Approach

Der zweite Zugang setzt sich vom ersten insofern ab, dass er die angenommene Kontinuität zwischen historischen Situationen des Wirkens Jesu und den Jesuserzählungen der Evangelien problematisiert. Beide Zugänge sind sich einig, dass sie die formgeschichtliche Vorstellung von der anonymen, vorliterarischen Überlieferung ablehnen. Sie differieren jedoch in der Frage, was sich historisch verantwortet sagen lässt. Gegen die Verlässlichkeit, die im ersten Zugang hochgehalten wird, steht hier die Überzeugung, dass die Überlieferung von Wirken und Lehre Jesus zwar durch konkrete historische Situationen und Ereignisse ausgelöst wurde. Damit ist allerdings weder ausgesagt, dass sich solche historischen Situationen und Ereignisse noch die genauen Traditionsprozesse der Jesuserinnerung aus dem vorhandenen Quellenmaterial rekonstruieren ließen. Der zweite Zugang kommt aus der historischen Forschung und bringt als geschichtshermeneutische Grundüberzeugung mit, „dass sich historische Tatsachen und Ereignisse nicht von ihren Interpretationen absondern lassen, sondern vom Zeitpunkt ihres Geschehens an untrennbar mit diesen – in der Regel sprachlichen – Deutungen verbunden sind und stets in dieser Weise, nämlich als gedeutete Ereignisse, aufgefasst und weitergegeben werden“ (Schröter 2017, 118).

Im deutschsprachigen exegetischen Diskurs ist Jens Schröter der Pionier des Memory Approaches und sein bekanntester Vertreter. Neben Christine Jacobi arbeiten auch David du Toit und – je nach Fragestellung – auch Simon Butticaz mit diesem Ansatz. Im englischen Sprachraum sind Chris Keith und Anthony Le Donne die prominentesten Vertreter. Auch Alan Kirk, Tom Thatcher und Rafael Rodriguez haben sich dem Zugang angeschlossen.

Das geschichtshermeneutische Paradigma der Jesuserinnerung gründet Schröter zufolge „auf der Einsicht, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit an die Spuren gebunden ist, die sich den frühen Quellen entnehmen lassen. Diese geben den Rahmen vor, innerhalb dessen sich ein historisch-kritisches Bild der Person Jesu verantworten muss; sie markieren zugleich die intellektuelle und ethische Verantwortung des christlichen Glaubens vor seinen Ursprüngen. Das Konzept der Jesuserinnerung geht davon aus, dass sich auf der Basis historisch-kritischer Quellenauswertung Umrisse des Wirkens und der Lehre Jesu zeichnen lassen. Diese Umrisse sind jedoch selbst eine spezifische Weise der Jesuserinnerung und kein Weg zur Vergangenheit ‚hinter‘ den Texten“ (Schröter 2017, 124).

Der Erinnerungsbegriff des Zugangs ist im Rückgriff auf Jan Assmann und seine Ausführungen zur fundierenden Geschichte geformt, wobei für deren Aneignung nicht die Faktizität des Geschehenen fokussiert wird, sondern die Funktion für Konstitution und Identität der jeweiligen Gemeinschaft im Zentrum steht. Die unterschiedlichen Überlieferungswege gelten in diesem Zugang als Formen oder Modi der Jesuserinnerung. Weil sich die frühen christlichen Gemeinden im Spiegel ihrer Jesuserinnerung und im Rückgriff auf seine Lehre ihrer eigenen Identität vergewissern, erzählen sie aus der jeweiligen Perspektive der Gegenwart die Vergangenheit. Es geht also nicht darum, wie die Evangelien entstanden sind, sondern darum, wie sie sich unter der Perspektive der Gegenwart die Vergangenheit aneignen.

Damit ist der Erinnerungsbegriff gegenüber dem ersten Zugang sehr stark geweitet und auch für die historisch-kritische Forschung selbst relevant: Auch die Jesusbilder, die auf der Grundlage historisch-kritischer Forschung erschlossen sind, gelten als Formen von Jesuserinnerungen: „Auch der ‚historische Jesus‘ ist eine Form der Jesuserinnerung – eine solche nämlich, die diejenigen Überlieferungen und Ereignisse zur Grundlage eines Jesusbildes macht, die auf der Basis historisch-kritischer Quellenanalyse plausibel erscheinen.“ (Schröter 2017, 120)

Der zweite Zugang ist damit eher an den Facetten b) Rückblick und d) Gedächtnis im Sinne der „Summe vorhandener Erinnerungen“ orientiert. Es geht ferner nicht um individuelles, sondern um kollektives Gedächtnis und nicht um Körpergedächtnis, sondern um externalisiertes Gedächtnis, das sich in Texten niederschlägt und die Charakteristika des Funktionsgedächtnisses trägt. Gefragt wird: Was haben die Gruppen, die erinnern, erinnert, und was sagt das über den historischen Jesus aus? Was die Forschungszugänge betrifft, schließt diese Richtung an historische und mitunter auch an kulturwissenschaftliche Forschung an. Als theoretische Fundierung aus der Geschichte gelten die klassischen Zugänge der Geschichtswissenschaft: Aus dem interpretierenden – und damit selbstverständlich auch wieder positionalen – Verstehen der vorhandenen Quellen lässt sich eine Annäherung an den historischen Jesus und sein Handeln und Wirken gewinnen. Aus der kulturwissenschaftlichen Forschung werden neben Maurice Halbwachs im deutschen Sprachraum Jan Assmann und im englischen Sprachraum Barry Schwartz aufgeführt. An diesem Punkt differenzieren sich entlang der Sprachgrenze zwei spezifische Unterdiskurse aus, die u.a. daran zu unterscheiden sind, ob sie mit Barry Schwartz eine „continuity perspective“ mit stärkerem Fokus auf die Vergangenheit oder mit Jan Assmann eine „presentist perspective“ mit stärkerem Fokus die Gegenwart verfolgen. Allzu weit sind die beiden Unterdiskurse aus der größeren Distanz jedoch nicht voneinander entfernt. Als Faustregel lässt sich sagen, dass der englische Unterdiskurs generell aufgeschlossener ist für „informed guesses“ über möglich historische Szenarien, während der deutsche Unterdiskurs klarer bei einer historisch-kritischen Rekonstruktion auf Basis der Quellen bleibt. Dabei ist jedoch darauf hinzuweisen, dass sich unterschiedliche Erinnerungsbilder nicht zu einer historischen Annäherung „verrechnen“ lassen, auch nicht, wenn man meint, mögliche „Verzerrungskoeffizienten“ von Erinnerungs- und Traditionsprozessen rekonstruieren zu können.

Kritik an diesem Ansatz wird aus unterschiedlicher Richtung geäußert. Zum einen kommt sie aus dem traditionell historisch-kritischen arbeitenden Spektrum und wird beispielsweise von Gerd Häfner, Knut Backhaus oder Martin Ebner vorgetragen, die bei diesem Zugang im Vergleich zu einer klassischen historisch-kritischen Analyse nur ein geringes Erkenntnis- und Innovationspotential sehen. Zum anderen sehen diejenigen, die sich stärker einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung neutestamentlicher Texte verschrieben haben, wie beispielweise Zeba Crook, den Ansatz kritisch. Sie bemängeln, dass kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorie in diesem Ansatz oft nur als Stichwortgeberin fungiert, aber nicht konsequent zu Ende gedacht wird. In der Tat ist der Anschluss an die theoretische Grundlegung bei Halbwachs und Assmann eine entscheidende Schwachstelle, da er nicht konsequent durchgeführt wird, sondern bei historischen Fragen stehen bleibt. Die kulturwissenschaftliche Reflexion, die den Ansatz von Maurice Halbwachs und – im Gefolge – Jan Assmann ausmacht, geht verloren, wenn die soziologische und kulturwissenschaftliche Forschung auf historische Fragen reduziert und ihr eigentliches hermeneutisches Potential nicht rezipiert wird.

Ähnlich wie den Vertretern des ersten Zugangs im Bereich der Forschung zur Verlässlichkeit von Erinnerung und dem Erinnerungsvermögen der Vorwurf gemacht wird, dass sie den interdisziplinären Forschungsdiskurs und seine Ergebnisse nur äußerst selektiv rezipieren, wird den Vertretern des zweiten Zugangs attestiert, dass sie ihrerseits zwar Konzepte aus der kulturwissenschaftlichen Forschung benennen und sich zu eigen machen, die damit verbundene Hermeneutik jedoch ebenfalls teilweise ausblenden. Beide Zugänge rezipierten die interdisziplinäre Gedächtnis- und Erinnerungsforschung selektiv und in der Hauptsache dort, wo es um Erinnerung als Prozess bzw. Erinnerungsprozesse und deren mögliche Ergebnisse geht. Die Frage unterschiedlicher Formen sozialer Erinnerung und ihren Medien, ebenso wie Medienwechseln komme ebenso wenig in den Blick wie die Frage nach Erinnerungskultur(en). Grundsätzlich bleibt das interpretatorische Potential erinnerungskultureller Ansätze in beiden Ansätzen ungehoben.

3.3 Neutestamentliche Texte als Externalisierungen kollektiver Gedächtnisse

Wie eingangs erwähnt, hatte der Begriff „Erinnerung“ durchaus das Potential, im Gefolge der antiken Zeugnisse eine leitende Kategorie für das Verständnis und die Analyse der Evangelien zu werden. Dass er im 20. Jahrhundert in die Exegese zurückkehrt hat auch damit zu tun, dass sich Wissenschaft antithetisch entwickelt. Gerade die Autoritätsfrage, die auf Augenzeugenschaft oder einer Traditionskette beruht, bei der die Autorität der Zeugen und die vermeintliche Objektivität des Zeugnisses immer mehr verschmolzen, geriet dabei in die Kritik. In seinen Überlegungen erteilt Martin Kähler in seinem Vortrag „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische, Christus“ bereits 1892 sowohl einer naiven Inspirationslehre als auch einer positivistischen Darstellung eine Absage: Nicht objektive Urkunden sind ihm die Evangelien, sondern perspektivisch gebundene Erinnerungen (Kähler 1892, 103). Hier liegt der Jesus Memory Approach ganz auf Kählers Linie.

Die Begriffe ἀπομνημονεύματα und ὑπομνήματα werden in der fachexegetischen Diskussion zumeist im Sinne von „Erinnerung“ als b) Rückblick, c) Erinnerungsvermögen oder Gedächtnis im Sinne von Erinnerungsvermögen und die Texte als Überführung jeweils individueller Erinnerungen in eine dauerhaftere Form – einen externen Speicher – verstehen. Beide vorgestellten Zugänge (3.1 / 3.2) tragen diesem Verständnis Rechnung. Wenn das Verständnis von Erinnerung jedoch auf a) Mahnung und d) Gedächtnis geweitet und ein Konzept von kollektiver Erinnerung miteinbezogen wird, das diese nicht nur als einem externen Speicher sieht, sondern auch als Funktionsgedächtnis, eröffnen sich weitere Verstehenshorizonte. In kulturwissenschaftlicher Lesart lässt sich Kählers Position so reformulieren, dass hier von Vorgängen innerhalb des sozialen Gedächtnisses gesprochen wird und die Bitten der Hörer des Petrus um Verschriftlichung, die bei Euseb (he II,15-16) den Grund für die Entstehung des Markustextest darstellen, dem Wunsch nach Sicherung und zeitlicher Entfristung seines begrenzten und vergänglichen Zeugnisses entspricht.

Der dritte Zugang ist vergleichsweise jung und orientiert sich hermeneutisch und methodisch an der soziologischen, kulturwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung. Die theoretische Fundierung bezieht er von Maurice Halbwachs, Aleida und Jan Assmann, aber auch von Harald Welzer, Astrid Erll oder Ansgar und Vera Nünning. Im exegetischen Bereich schließt er insbesondere an die Vorarbeit im Bereich der Oralitätsforschung und medienhermeneutischen Überlegungen von Werner Kelber an. Als Vertreter dieses Zugangs sind im deutschen Sprachraum Sandra Huebenthal, Torsten Jantsch und Ruben Zimmermann zu nennen, im englischen Sprachraum Thomas R. Hatina. Je nach Fragestellung arbeitet auch Simon Butticaz mit diesem Zugang, ferner Pavel Langhammer und Jiří Lukeš.

Basisannahme dieses Zugangs ist es, dass es sich bei den neutestamentlichen Texten um Zeugnisse sozialen Erinnerns handelt, die zunächst als solche hermeneutisch zu erschließen und historisch zu verorten sind und danach als Momentaufnahmen – im Falle des Neuen Testaments: frühchristlicher – Prozesse von Identitätskonstitution verstanden und ausgelegt werden können. Aus den Bedürfnissen der Gegenwart heraus entwerfen die jeweiligen Erinnerungsgemeinschaften auf der Basis der sozial ausgehandelten Interpretation ihrer Erfahrungen und Erinnerungen ihre Identität auf Zukunft hin. Untersuchungsgegenstand sind weder die Erinnerungsprozesse selbst, noch ihre möglichen Anhaltspunkte in der Vergangenheit im Sinne einer historisch-kritisch verantworteten Rekonstruktion, sondern im Anschluss an die Erkenntnis, dass Funktion vor Faktizität kommt, die Erinnerungszeugnisse selbst. Im Falle von Texten werden entsprechend ihr Aufbau und ihre Pragmatik untersucht, aber auch ihre Orientierung an sozialen Interpretationsrahmen und bereit liegenden kulturellen Mustern. Ansatzpunkt für eine solche Lektüre neutestamentlicher Texte als Externalisierungen kollektiver Gedächtnisse ist immer der vorliegende Text.

Während die Vertreter des zweiten Zugangs einen vernünftigen, plausiblen Zugang zur Vergangenheit auf der Basis einer kritischen Evaluation des historischen Materials eröffnen wollen, geht es einer gedächtnistheoretischen Lektüre neutestamentlicher Texte darum, einen vernünftigen und plausiblen Zugang zur Gegenwart derjenigen zu eröffnen, die sich in den fundierenden Texten äußern. Der Zugang fokussiert damit auf die Facetten a) und b) des Erinnerungsbegriffs, also Mahnung und Andenken, sowie die zweite Nuance des Gedächtnisses, das ehrende Andenken. Er orientiert sich hermeneutisch und methodisch stark an soziologischen, kulturwissenschaftlichen und literaturwissenschaftlichen Forschungszugängen. Es geht um kollektives Erinnern und seine Externalisierungen in identitätskonkreten Artefakten, und häufig auch um die Schnittstelle von Speicher- und Funktionsgedächtnis.

Ein kulturwissenschaftlich-gedächtnistheoretischer Zugriff ist als hermeneutischer Zugriff äußerst fruchtbar für die Erforschung frühchristlicher Identitätsentwürfe (und ihrer Entwicklung), wenn neutestamentliche Texte als Artefakte oder Externalisierungen kollektive Gedächtnisse gelesen werden. Für spätere Generationen von Christusgläubigen werden diese Texte mehr und mehr zum Teil ihres kulturellen Gedächtnisses und damit zum vor- und aufgegebenen Gegenüber eigener Identitätsbildungsprozesse.

Auch dieser Zugang ist nicht unwidersprochen geblieben. Die vier häufigsten Kritikpunkte sind, dass er a) unhistorisch und anachronistisch sei, insofern er biblischen Texten eine ihnen fremde Hermeneutik aufzwinge, dass bei ihm b) alles beliebig würde und ja doch nur Konstruktion sei, dass er c) gegenüber der Redaktionskritik keine Innovation darstelle und schließlich d) eine rein synchrone Endtextexegese sei, die sich nicht für das Wachstum der Text interessiere.

4. Ausblick

Die Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Erinnerung ist im Bereich der neutestamentlichen Wissenschaft zentraler als es auf den ersten Blick erscheint. Wenn man die unterschiedlichen Gesprächsbeiträge liest, die in der historischen Jesusforschung mit dem Erinnerungsparadigma arbeiten, fällt auf, dass der Begriff „Gedächtnis“ häufig nur dann verwendet wird, wenn auf die hermeneutischen Grundlagen bei Halbwachs und Assmann Bezug genommen wird. Im Englischen ist diese feine Unterscheidung nicht sichtbar, weil beides „memory“ heißt. Anhand des Begriffs „memory“ oder „memory approach“ lässt sich daher nicht erkennen, ob es in einem Gesprächsbeitrag um „Erinnerung“ im Sinne von „Jesuserinnerungen“, wie sie in beiden Spielarten des Jesus-Remembered-Zugangs (3.1 und 3.2) betrachtet werden, oder um „Gedächtnis“ im Sinne neutestamentlicher Texte als Externalisierungen kollektiver Gedächtnisse geht (3.3). Die Vermischung von Gedächtnis und Erinnerung im „Memory Approach“ führt insbesondere in der englischsprachigen Diskussion dazu, dass Konzepte und Begriffe durcheinandergehen. Im deutschsprachigen Diskursraum ist der hermeneutische Unterschied zwischen den Zugängen Gedächtnis und Erinnerung hingegen oft bis in die Publikationstitel hinein erkennbar.

Wie sich die einzelnen Zugänge und der Erinnerungsdiskurs in der neutestamentlichen Wissenschaft weiter entwickeln werden ist nicht abzusehen. Ein Diskussionspunkt wird die Frage danach sein, ob der Memory Approach von der Forschungscommunity als Normalforschung im Bereich der Jesusforschung angenommen wird oder die Zweifel überwiegen. Dabei wird entscheidend sein, ob sich der Trend, zwar die kulturwissenschaftlichen Begriffe beizubehalten, aber wieder stärker traditionell historisch-kritisch zu forschen, fortsetzt. Generell sind eine weitere Ausdifferenzierung der einzelnen Zugänge und eine Polarisierung zwischen den Zugängen zu erwarten. Ob ein echter kulturwissenschaftlicher Aufbruch in der Jesusforschung stattfinden wird, ist – unabhängig von der Frage nach seinem Nutzen – fraglich.

Interessant sind jenseits der Jesusforschung weitere Anschlussstellen für die unterschiedlichen Zugänge in der inter- und transdisziplinären Erinnerungsforschung generell, aber auch im Besonderen innerhalb der Theologie. Hier hat die kulturwissenschaftliche Lektüre biblischer Texte das meiste Potential über die Neutestamentliche Forschung hinaus. Der Mehrwert für biblische Exegese besteht darin, dass dieser Ansatz es ermöglicht, neutestamentliche Texte als fundierende Texte zu verstehen und auszulegen und so einen veränderten Blick auf frühchristliche Identitätsbildung zu erhalten. Kulturwissenschaftliche Lektüre biblischer Texte bietet gleichermaßen Anschlussmöglichkeiten für Systematische, Historische und Praktische Theologie. Dabei wird die Frage des Verhältnisses von Schrift und Tradition auch konfessionell noch einmal neu zu betrachten sein. In den ersten beiden Zugängen (3.1 / 3.2) wird das Erinnerungsparadigma in der Neutestamentlichen Exegese fast ausschließlich von Wissenschaftlern bespielt, die in den Kirchen der Reformation beheimatet sind. Das ist womöglich kein Zufall, sondern hängt mit der reformatorischen Schrifthermeneutik zusammen (Kelber 2019). Für ein katholisches Verständnis von Schrift und Tradition bietet der dritte Zugang (3.3) die meisten Anschlussstellen.

Literaturverzeichnis

Zitierte und weiterführende Literatur

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  • Assmann, Jan, Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, 22004
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  • Schröter, Jens: Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas, WMANT 76, Neunkirchen-Vluyn 1997
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  • Vansina, Jan: Oral Tradition as History, Madison 1985
  • Zimmermann, Ruben: Formen und Gattungen als Medien der Jesuserinnerung. Zur Rückgewinnung der Diachronie in der Formgeschichte des Neuen Testaments: JBTh 22 (2007), 131-167

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