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Evangelium des Judas

(erstellt: März 2009)

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1. Bezeugung

Als im Frühjahr 2006 das wiederentdeckte Judasevangelium (EvJud) der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, erregte es große Aufmerksamkeit: Es handelte sich um einen bisher unbekannten Evangelientext, in dem ausgerechnet der Verräter Judas Iskariot der wichtigste Jünger ist.

Das EvJud ist eine von vermutlich vier Schriften in koptischer Sprache aus einem antiken Papyruskodex (Codex Tchacos, CT), dessen Existenz schon seit vielen Jahren bekannt, der aber der wissenschaftlichen Erforschung nicht zugänglich war. (Vgl. zur Geschichte der Veröffentlichung Kasser/Wurst/Meyer 2006, 47-76; kritische Sicht bei Robinson, 17-119.) Zwei der Schriften haben Parallelen im Fund von → Nag Hammadi: Der Brief des Petrus an Philippus (NHC VIII,2; CT 1) und die (erste) Apokalypse des Jakobus (NHC V,3; CT 2 unter dem Titel Jakobus). Der Text des EvJud (CT 3) war bis zur Veröffentlichung unbekannt, erwähnt wird ein „Evangelium des Judas“ – so auch der genaue Titel des EvJud – jedoch vom Kirchenvater → Irenäus (um 180, adversus haereses I 31,1; vgl. Kasser / Meyer / Wurst 2006, 121-135). Irenäus ordnet es einer der von ihm bekämpften häretischen Gruppen zu und lehnt es ab; es geht aus den Angaben nicht hervor, ob er es selber gelesen hat. Seine knappe Beschreibung passt nicht vollständig, aber in wesentlichen Punkten zur erhaltenen Schrift, so dass eine Identifizierung wahrscheinlich ist. Das EvJud muss dann vor 180 und in griechischer Sprache entstanden sein. Denkbar ist allerdings, dass die Schrift nach der Zeit des Irenäus noch überarbeitet und möglicherweise erweitert wurde. Die vorhandene Abschrift des EvJud im Codex Tchacos wurde vermutlich im vierten Jahrhundert angefertigt und ist leider nur schlecht erhalten. Viele Lücken im Text erschweren das Verständnis.

2. Aufbau und Inhalt

Mit Judas ist ausdrücklich → Judas Iskariot gemeint (nicht etwa der aus anderen apokryphen Schriften bekannte Judas Thomas), so wird er bezeichnet (CT p.33,2f; 35,9f) und seine Auslieferung Jesu wird am Ende der Schrift erzählt. Das EvJud ist aber kein → narratives Evangelium, sondern besteht im Wesentlichen aus Gesprächen zwischen Jesus und der Jüngergruppe und Jesus und Judas an mehreren Tagen kurz vor der Passion. Es gibt einige verwandte Schriften wie AJ, SJC, EvMar, die aber nach Ostern spielen.

Nach einem kurzen Prolog (CT p.33,1-6) und einer summarischen Beschreibung des Wirkens Jesu (CT p.33,6-21) wird ein erster Tag geschildert (CT p.33,22-36,10): Jesus trifft seine Jünger bei einer Mahlfeier, die er lächerlich findet. Er weist ab, dass der von den Jüngern verehrte Gott sein Vater ist. Dann entwickelt sich eine Art Wettstreit, wer Jesus gegenüber stark ist: Die Jünger ertragen es nicht, vor Jesus zu stehen, während Judas dies zumindest etwas besser aushält und ein angemessenes Bekenntnis zu Jesus formuliert. Daraufhin fordert Jesus ihn zur Trennung von der Gruppe auf und verspricht ihm Belehrungen. Am nächsten und an einem weiteren Tag trifft er jedoch wieder mit der Gruppe zusammen (CT p.36,11-37,20; 37,20-42,??). Die Jünger berichten ihm von einer nächtlichen Vision, in der zwölf Priester Opfer im Namen Jesu bringen und dabei alles erdenkliche Schlechte tun, von Unzucht bis zu Mord an Kindern, und die Gläubigen irreführen. Jesus identifiziert diese Priester mit den zwölf Jüngern – Judas gehört im EvJud nicht zu den Zwölf, sondern hat als der Dreizehnte eine Sonderrolle. Später spricht Jesus mit Judas (CT p. 42,??-57,20; der Übergang ist nicht klar zu bestimmen, weil die Seiten nur fragmentarisch erhalten sind). Er deutet auch ihm eine Vision, die nicht so negativ ist, ihm aber von einem Ort des Heils ausschließt. Ein wesentlicher Teil des Gesprächs mit Judas bildet ein → gnostischer (sethianischer) Schöpfungsmythos, in dem Jesus Judas über die Entstehung der Welt belehrt (CT p.47,1-53,7). Sie wurde nicht durch den obersten Gott, sondern durch ein niederes und mangelhaftes himmlisches Wesen geschaffen. Gegen Ende kündigt Jesus an, dass Judas den Menschen, der ihn trägt, opfern wird (CT p.56,19-21). Weil der Zusammenhang durch Textlücken nicht erhalten ist, lässt sich nicht klar entscheiden, ob dies als eine positive oder negative Tat verstanden wird. Schließlich trennt eine Lichtwolke die beiden, vermutlich verschwindet Jesus mit ihr, während Judas in der Schlussszene von den Hohepriestern bzw. Schriftgelehrten Geld nimmt und ihrem Wunsch entsprechend handelt (CT p.57,20-58,26).

Im EvJud sind die zwölf Jünger eindeutig äußerst negativ gesehen, die Rolle des Judas ist in der Forschung jedoch stark umstritten. Vor allem in den ersten Veröffentlichungen wurde Judas als der positive Held des Evangeliums verstanden, als Lieblingsjünger Jesu und als Identifikationsfigur für die Lesenden. Inzwischen ist aber deutlich, dass das EvJud Judas als Verräter nicht einfach rehabilitiert, Jesus kündigt diese Tat an, er fordert sie nicht und es spricht einiges für eine negative Wertung. Zudem ist auch Judas unvollkommen und wird vom Erlangen des umfassenden Heils ausgeschlossen. Es ist sogar möglich, Judas als dämonisches Wesen zu verstehen, denn er wird als → 13. Dämon bezeichnet (unterschiedliche Deutungen bei DeConick, 109-113, und Petersen, passim).

3. Einordnung

Das EvJud spiegelt die Sicht einer oppositionellen christlichen Gruppe aus dem zweiten Jahrhundert wider, die sich von der Mehrheitskirche abgespalten hat und vor allem die durch die Zwölf repräsentierten Amtsträger nicht anerkennt. Die Eingangsszene spricht dafür, dass es inhaltliche Differenzen in Bezug auf das Abendmahl gab – der Gesamtaufbau des EvJud schließt eine Einsetzung des Abendmahls am Abend vor der Verhaftung Jesu aus. Außerdem gibt es Gegensätze in der Gotteslehre: Das EvJud unterscheidet den Schöpfergott vom wahren oberen Gott, dem Jesus verpflichtet ist. Möglicherweise wirft das EvJud der Gegenseite auch leichtfertigen Aufruf zum Martyrium vor (so Pagels/King, 13f.63-67). Auf alle Fälle ist das EvJud im Kontext der Situation im zweiten Jahrhundert zu verstehen. In diesem Zusammenhang deutet es die überlieferten Traditionen über Judas und die letzten Tage Jesu neu. Zugang zu Erkenntnissen über die historische Person Judas (oder den historischen Jesus) bietet das EvJud nicht.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Bisher m.W. noch nicht vorhanden, da das EvJud erst seit 2006 der Forschung zugänglich ist.

2. Textausgaben und Übersetzungen

  • Kasser, R. / Wurst, G., 2007, The Gospel of Judas together with the Letter of Peter to Philip, James, and a Book of Allogenes from Codex Tchacos. Critical edition, Washington DC
  • Brankaer, J. / Bethge, H.-G., 2007, Codex Tchacos. Texte und Analysen (TU 161), Berlin/New York
  • Kasser, R. / Meyer, M. / Wurst, G., 2006, The Gospel of Judas from Codex Tchacos, Washington
  • Plisch, U.-K., 2006, Was nicht in der Bibel steht. Brennpunkt Bibel 3. Apokryphe Schriften des frühen Christentums, Stuttgart, 165-177

3. Weitere Literatur

  • DeConick, A., 2007, The Thirteenth Apostle: What the Gospel of Judas Really Says, London
  • Nagel, P., 2007, Das Evangelium des Judas, ZNW 98, 213-276
  • Pagels, E. / King, K.L., 2008, Das Evangelium des Verräters. Judas und der Kampf um das wahre Christentum, München
  • Petersen, S., 2009, Warum und inwiefern ist Judas ein „Daimon“? Überlegungen zum Evangelium des Judas (Codex Tchacos 44,21), ZAC 13, 108-126.
  • Robinson, J.M., 2007, Das Judasgeheimnis. Ein Blick hinter die Kulissen, Göttingen
  • Schenke Robinson, G., 2008, The Relationship of the Gospel of Judas to the New Testament and to Sethianism, Journal of Coptic Studies 10, 63-98
  • Scopello, M. (Hg.), 2008, The Gospel of Judas in Context. Proceedings of the First International conference on the Gospel of Judas Paris, Sorbonne, October 27th-28th, 2006 (NHMS 62), Leiden / Boston
  • Wurst, G. / Popkes, E.E. (Hgg.), erscheint 2009, Judasevangelium und Codex Tchacos: Studien zur religionsgeschichtlichen Verortung einer gnostischen Schriftensammlung (WUNT)

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