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Weisheit (Personifikation) (AT)

(erstellt: Juli 2007)

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1. Verwendung und Herkunft der Personifikation

1.1. Weisheit als weibliche Gestalt

Der Begriff chākhām „weise“ bezeichnet im Alten Testament überwiegend Personen, die guten Rat geben können (Spr 16,21; vgl. 2Sam 14,2), in bestimmten Bereichen kundig sind (z.B. der Handwerker Spr 22,29; vgl. Ex 31,3) und sich klug durchs Leben schlagen (Spr 13,14-17; vgl. 2Sam 13,3). Seit der nachexilischen Zeit begegnet in den weisheitlichen Schriften → Sprüchebuch, → Jesus Sirach und → Weisheit Salomos die Weisheit personifiziert als Frauengestalt (hebräisch chǻkhmāh; griechisch σοφία). Die Personifikation ist eine Untergattung der Metapher, die der „Weisheit“ als lebenspraktischer Klugheit personhafte Züge verleiht. Insgesamt lässt sich eine Entwicklung der Gestalt beobachten: Frau Weisheit, die ihre Lehre als Lebensweisheit des Alltags verkündet, wird mit der Tora identifiziert, wird Gegenstand der jüdisch-hellenistischen Philosophie und geht im Neuen Testament in die Vorstellung von Christus als Lehrer der Weisheit ein.

1.1.1. Sprüchebuch

In den neun Eingangskapiteln des Sprüchebuches, die in nachexilischer Zeit entstanden sind und die älteren Spruchsammlungen interpretieren, stellt sich Frau Weisheit mit zwei Reden vor (Spr 1,20-33; Spr 8,1-36): Sie steht an den belebten Plätzen der Stadt (Spr 1,20f.; Spr 8,2) und lädt die Einfältigen und Unerfahrenen ein, ihr zu folgen. Frau Weisheit verkörpert aufrichtige Rede (Spr 8,6-8) und guten Rat (Spr 8,12; Spr 8,14) ebenso wie Regierungskunst (Spr 8,15-16) und gelingendes Leben (Spr 8,35). Als gute Ratgeberin übernimmt sie eine Rolle, die derjenigen der guten und weisen Frauen in alttestamentlichen Erzählungen vergleichbar ist (Gen 27,42f.; 2Sam 14). In Spr 1,20-33 begegnet sie als Prophetin, die für Recht und Gerechtigkeit eintritt und ihre Hörer/innen zum Gehorsam ermahnt, indem sie die Folgen des Ungehorsams ausmalt.

In Spr 8,22-31 spricht Frau Weisheit über ihren Ursprung als erstes Geschöpf Gottes, der sie gebildet, ja geboren hat (Spr 8,24) wie eine Mutter ihr Kind (→ Präexistenz). Die Weisheit stellt sich als Tochter Gottes vor, die ihn, während er die Welt erschafft, mit ihrem Spielen erfreut (Spr 8,30; zum ikonographischen Hintergrund Keel 1974). Als sein Geschöpf ist sie zwar Gott nicht ebenbürtig, aber „Weltordnungsexpertin“ (Baumann, 1996, 144). Sie vermittelt die Freude Gottes an die Menschen weiter (Spr 8,31) und leitet diese zu gelingendem Leben an (Spr 8,35).

Die Weisheit vermittelt nach Spr 1,7 zugleich die Gottesfurcht und bewahrt vor der ebenfalls weiblich personifizierten Torheit. Während Frau Torheit in Gestalt der „fremden Frau“ den „krummen“ Weg versinnbildlicht, der in Tod bzw. Unterwelt führt (Spr 7,26-27; Spr 9,18), steht Frau Weisheit für den geraden und rechten Lebensweg. Den Weisheitssuchenden wird daher die Liebe zur Weisheit empfohlen (Spr 4,6; Spr 8,17; Spr 8,21). Diese Liebe trägt gelegentlich erotische Untertöne (Spr 7,4; Spr 8,34).

1.1.2. Hiobbuch

Das → Hiobbuch, das wohl in persischer Zeit entstand und den traditionellen → Tun-Ergehen-Zusammenhang kritisch hinterfragt, thematisiert die Weisheit nur am Rande, stets aber in Verbindung mit der Schöpfung. Im Gegensatz zum Sprüchebuch betont das kunstvolle Gedicht in Hi 28, dass die Weisheit dem Menschen nicht einsichtig sei und nur Gott sie kenne. Die Gottesreden in Hi 38,1-42,6 unterstreichen, dass die Weisheit als Wissen um die Schöpfungsordnung für die Menschen unzugänglich und unhinterfragbar ist. Aufgrund dieser Auffassung bliebe eine Personifikation der Weisheit im Gesamtduktus des Buches funktionslos und wird daher nicht realisiert.

1.1.3. Sirachbuch und Parallelen

Der nachexilische Ps 19 besingt den Sonnenlauf und die Weisung Gottes (hebräisch tôrāh; griechisch νόμος „Gesetz“) als zwei Aspekte der guten Ordnung Gottes: Wie die Sonne mit ihrer täglichen Bahn am Himmel die kosmische Ordnung einsichtig macht, so weist die Tora Gottes auf die gesellschaftliche Ordnung hin. Bemerkenswert ist, dass die Tora hier in den Farben der Weisheit gemalt wird: Sie ist köstlicher als Gold (vgl. Ps 19,11 mit Spr 3,14; Spr 8,10-11), macht den Einfältigen weise (vgl. Ps 19,8 mit Spr 9,4) und verschafft denen, die ihr folgen, reichen Lohn (vgl. Ps 19,12 mit Spr 8,18). Die Vorstellung der Gottesfurcht verbindet Weisheit (Spr 1,7) und Tora (Ps 19,10). Esr 7,25 verwendet die Weisheit Gottes als Synonym zum Gesetzbuch.

Vollendet wird die Verbindung von Weisheit und Tora im Buch des Schriftgelehrten → Jesus ben Sira, der um 190 v. Chr. eine dem Sprüchebuch vergleichbare Lebenslehre verfasst, die (vollständig) nur in der griechischen Übersetzung seines Enkels und davon abhängigen antiken Übersetzungen vorliegt. Weisheit und Gottesfurcht sind die beherrschenden Themen dieser Schrift (Sir 1,1; Sir 1,4; Sir 1,12; Sir 25,14-18 [Lutherbibel: Sir 25,19-24]). Sie werden analog beschrieben und eingangs sogar miteinander identifiziert (Sir 1,14-20 [Lutherbibel: Sir 1,16-25]; Sir 1,27 [Lutherbibel: Sir 1,33]; Sir 19,20 [Lutherbibel: Sir 19,18)]. In Sir 24 präsentiert sich die Weisheit nicht nur als Weltordnungsexpertin, sondern als thronende Herrscherin über dem Kosmos. Als solche ist sie zugleich der aus dem Mund des Höchsten hervorgegangene Hauch (Sir 24,4-5 [Lutherbibel: Sir 24,6-7]), der die Erde wie Nebel umhüllt, dem Geist Gottes vergleichbar, der nach Gen 1 über der Urflut schwebte. Als in Israel wurzelnder Lebensbaum und wasserreicher Fluss gibt sie Erkenntnis und Bildung weiter (Sir 24,16-26 [Lutherbibel: Sir 24,22-36]). Ben Sira identifiziert die Weisheit ausdrücklich mit dem „Buch des Bundes des höchsten Gottes“, dem von Mose gelehrten Gesetz (Sir 24,32 [Lutherbibel: Sir 24,45]; so auch Bar 4,1). Die Weisheit übermittelt den Gotteswillen also nicht mehr durch mündliche Lehre wie in Spr 1-9, sondern wird mit dem geschriebenen Wort der Tora gleichgesetzt. Weil sich auch im Sirachbuch die weisheitliche Mahnung und Lehre auf das alltägliche Leben der Einzelnen bezieht, verkörpert die Weisheit die menschliche Seite der Heiligen Schrift.

1.1.4. Weisheit Salomos

Die ursprünglich anonyme, später als „→ Weisheit Salomos“ bezeichnete und wohl in Alexandria im 1. Jh. v. Chr. verfasste Schrift versucht die Weisheitsgestalt im hellenistischen Umfeld als Denkbewegung und damit als Philosophie (= „Liebe zur Weisheit“) zu präsentieren. Die Weisheit wird hier dem kosmosschaffenden Wort Gottes (λόγος) zur Seite gestellt (Weish 9,1-2). Aus der Weltordnungsexpertin ist, in Anlehnung an die Terminologie der Stoa, die Architektin geworden (τεχνîτις Weish 7,21; Weish 8,6). Sie durchwaltet das All als ein Hauch der Kraft Gottes und ist Gabe Gottes an die Menschen, in der sich der göttliche Geist in die Welt vermittelt (Weish 7,22-8,1). Gleichzeitig wird das Wirken der Weisheit in der israelitischen Heilsgeschichte aber auch personal dargestellt (Weish 10,1-11,1). Die sich in die hellenistische Welt vermittelnde Weisheit lehrt nicht mehr die Gottesfurcht, sondern schafft „Freunde Gottes und Propheten“, indem sie in heilige Seelen eintritt (Weish 7,27) und selbst zum Objekt persönlicher Erfahrung wird. Die intensive Beziehung des fiktiven königlichen Erzählers zur Weisheit wird als „Zusammenleben“ (Weish 7,28) und sogar in erotischen Metaphern als „Liebe zur Weisheit“ beschrieben werden: Er verliebt sich in sie und will sie als Braut heimführen (Weish 8,2-3; Weish 8,9), aber eigentlich ist sie Throngefährtin und Geliebte Gottes (Weish 8,3; Weish 9,4). Insgesamt erscheint die Weisheit dem Alltag eher entrückt, sie wird zum göttlichen Geist, der das All und damit auch die heiligen Schriften durchwaltet. Im Hebräischen ist der Begriff für → Geist (rûach) grammatisch (fast ausschließlich) weiblich, während er im Griechischen neutrisch ist.

1.1.5. Frühjudentum und Neues Testament

Vergleichbar der Weisheit Salomos entwickelt der jüdische Philosoph Philo von Alexandria (20/13 v. Chr. - 45 n. Chr.; → Philo von Alexandria) den Begriff des λόγος (des göttlichen Wortes) aus weisheitlicher Tradition. Philo überträgt die kosmischen Funktionen der alttestamentlich-jüdischen Weisheit auf den λόγος, nimmt aber eine Geschlechtertrennung vor. Die Weisheit Gottes bezeichnet er in Anlehnung an Plato als „Mutter“ aller Dinge des Kosmos (Quod deterius potiori insidiari soleat 1,115-116; Legum allegoriae 2,49; Text Philo); den λόγος aber fasst er als männlich, da er ein zeugendes Prinzip sei. Nur der λόγος ist Abbild des Schöpfers (De somniis I, 239-241; De confusione linguarum 146f) und zugleich die Weltseele, die als Naturgesetz auch mit der Tora vom Sinai identifiziert werden kann.

Das zwischen 63 v. Chr. und 70 n. Chr. entstandene vierte Makkabäerbuch (→ Makkabäerbücher) definiert die Weisheit ganz analog zur stoischen Philosophie als „Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge und des Ursprungs derselben“ (4Makk 1,16 vgl. Seneca, Epistulae morales 89). Gleichzeitig versteht 4Makk aber die Weisheit als Erziehung im jüdischen Gesetz, das wiederum Einsicht in göttliche Dinge und menschliche Handlungsweisen gibt.

In jüdisch-apokalyptischen Schriften wird die Weisheit mit der Gerechtigkeit identifiziert und zur Heilsgabe an die Gerechten (äthHen 5,8; äthHen 91,10; syrBar 54,13; 4Esra 8,52). Gott als Herr der Weisheit (äthHen 63,2-3) hat das All geschaffen und dem Menschen die Gebote gegeben; Gott gewährt dem Apokalyptiker Einblick in die Ordnung des Kosmos und den Gang der Geschichte, sodass dieser für die Eingeweihten zum Brunnen der Weisheit wird (äthHen 99,10; 4Esra 12,36-42; slawHen 48,7.9). Nach äthHen 48,7 offenbart die personifizierte Weisheit den Menschensohn als Heiligen und Gerechten, der wie sie selbst präexistent ist (→ Henochbuch).

Schriften aus Qumran (→ Qumran) bezeugen die Identifikation von Weisheit und Tora (4Q525, Book of Mysteries = 1Q27; 4Q299-301), gelegentlich in einer Gestalt, die auch die Völker anredet (4Q 185). In Weisheitspsalmen wird die personifizierte Weisheit als Lehrende beschrieben und mit der Gestalt der Šekhināh, der Einwohnung Gottes, identifiziert (11QPsa XVIII) sowie als Geliebte des Weisheitssuchenden (11QPsa XXI,1-XXII,1) beschrieben.

In den synoptischen Evangelien können Johannes der Täufer und Jesus Kinder der Weisheit genannt werden (Lk 7,31-35, vgl. Mt 11,16-19). Weitere weisheitliche Logien werden meist der Spruchquelle Q zugewiesen (Lk 10,21-22 par. Mt 11,25-27; Lk 11,29-32 par. Mt 12,38-42; Lk 11,49-51 par. Mt 23,34-36; Lk 13,34-35 par. Mt 23,37-39), die Jesus als Gesandten der Weisheit darstellt. In Mt 11-13 werden traditionelle Motive und Funktionen der Weisheit auf Jesus übertragen. Aus feministischer Perspektive ist Jesus ein Gesandter und Schüler der Weisheit, der menschliche Geschlechterstereotype überwindet (Schüssler Fiorenza, 1997).

Paulus thematisiert das Kreuz Christi als Weisheit Gottes, die im Gegensatz zur Weisheit der Welt steht (1Kor 1,18-31). Diese von den Menschen gerade nicht erkannte Weisheit erinnert an die verborgene Weisheit aus Hi 28. In hymnisch geprägten Texten werden Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft als Wesensmerkmale der personifizierten Weisheit auf Jesus Christus übertragen (Phil 2,6-11; Kol 1,15-20, Hebr 1,1-4; Joh 1,1-18).

An die Stelle des Begriffs σoφία tritt jedoch im Prolog des Johannesevangeliums der maskuline Begriff des λόγος, des göttlichen Wortes. Ein später Ausläufer der Tradition der nährenden Weisheit ist die Darstellung Jesu im Johannesevangelium als Weisheit, Wasser und Brot des Lebens (Joh 4,10-15; Joh 6,35; vgl. Joh 7,37 mit Spr 9,5). Auch der Paraklet, der den Gläubigen nach Jesu Weggang den Weg weist (Joh 16,13) trägt Züge der Weisheit (vgl. Weish 8,8; Weish 9,17).

Die rabbinische Tradition führt die in Esr 7,25 und Sir 24 vollzogene Identifikation von Weisheit und Tora fort und betont ausgehend von Spr 8,30 die Präexistenz beider (Belege in Strack / Billerbeck II, 353-355). Während das Studium der griechischen Weisheit unter dem Fluch steht (Babylonischer Talmud, Traktat Baba Qamma 82b-83a; Text Talmud), ist wahre Weisheit Toragelehrsamkeit (SifreDtn 37; vgl. Strack / Billerbeck II, 356-357). Der Weise wird terminus technicus für den rabbinischen Lehrer (Babylonischer Talmud, Traktat Gittin 67a), der bedeutender als ein Prophet ist (Babylonischer Talmud, Traktat Baba Batra 12a). Seit dem 6. Jh. n. Chr. stellt die Liturgie des Wochenfestes die Gabe der Tora an Mose poetisch als Hochzeit der Weisheit mit dem von ihr gewählten Bräutigam dar. Auch in der Gestalt der Šekhināh, der Einwohnung Gottes, drängt das weibliche Element in der Gottesvorstellung wieder in den Vordergrund.

1.2. Der altorientalische Hintergrund der weiblichen Weisheit

Als Mittlerin zwischen Gott und den Menschen verkörpert die Weisheitsgestalt Eigenschaften altorientalischer Göttinnen. Da „Frau Weisheit“ im Alten Testament keine göttlichen Züge trägt, ist hier von einer Transformation mythischer Vorstellungen zu sprechen.

1.2.1. Lebensbaum und Baumgöttin

Im Lob der Weisheit als Lebensbaum (Spr 3,13-18) ist die Tradition der nährenden und schützenden ägyptischen Baumgöttinnen aufgenommen (→ Göttin 4.1). Dieser Gedanke wird in der Selbstvorstellung der Weisheit als in Israel verwurzelter Lebensbaum in Sir 24,16-26 (Lutherbibel: Sir 24,22-36) weitergeführt. Der Lebensbaum in der Paradieserzählung (Gen 2,9; Gen 3,22-24) hat Teil an dieser weisheitlichen Vorstellung, wird jedoch dem menschlichen Zugriff gerade entzogen.

1.2.2. Ma’at als ägyptisches Vorbild der Weisheit

Nach Spr 8 erheitert die weibliche Weisheit Gott mit ihrem Spiel wie die ägyptische Ma’at als Tochter des Sonnengottes Re (Keel 1974). Die ägyptische Göttin verkörpert seit dem 1. Jt. v. Chr. die von den Gottheiten geschaffene Weltordnung (→ Ma’at).

Weisheit Personifikation 1

Die auf → Gerechtigkeit und Recht gegründete göttliche Weltordnung (→ Weltbild) setzt einen → Tun-Ergehen-Zusammenhang in Kraft, der jeder Tat ein ihr entsprechendes Ergehen folgen lässt. Gutes Tun führt zu Wohlergehen, das böse Tun fällt als Unglück auf den Täter zurück. Daher rührt die Vorstellung, dass die Ma’at täglich von allen Menschen, ganz besonders aber vom König als deren Repräsentanten hergestellt werden muss.

Weisheit Personifikation 2

Während die Ma’at aber die soziale und kosmische Ordnung repräsentiert, kennt Frau Weisheit diese Ordnung nur, ohne mit ihr identisch zu sein. Frau Weisheit ist keine Göttin, hat aber göttliche Autorität. Sie stellt sich in Spr 8 selbst vor wie Gott dem Mose am Horeb (Ex 3,14) und verspricht denen, die ihrer Weisung folgen, Reichtum (Spr 8,21) und sicheres Leben (Spr 8,35; vgl. Spr 1,33).

1.2.3. Weisheit als göttliche Gestalt in den Sprüchen des Achiqar

Das aramäisch überlieferte Weisheitsbuch des in der Antike bekannten Weisen → Achiqar, das auf der Insel → Elephantine in Ägypten auf Papyri gefunden wurde, enthält die Erzählung über Achiqar als Ratgeber im neuassyrischen Reich und seine Weisheitssprüche. Während die Papyri ins 5. Jh. v. Chr. datieren, stammen die Sprüche wohl aus dem südsyrischen Raum des 7. Jh.s v. Chr. In Achiqar IX,16b-X,1 wird die Weisheit als göttliches Wissen dargestellt und als Mitregentin mit El, dem Herrn der Götter, sowie als in den Himmel gesetzte Gestalt gepriesen (Kottsieper in TUAT III, 1990, 335-336). Freilich ist angesichts des fragmentarischen Charakters der Stelle umstritten, ob die Weisheit hier als Göttin zu verstehen ist.

1.2.4. Die vielgestaltige Isis als Vorbild der Weisheit

Weisheit Personifikation 1

Die Ich-Reden von Frau Weisheit in Spr 1 und Spr 8 sowie Sir 24 sind dem Selbstlob der Muttergöttin → Isis (→ Göttin 2.4) vergleichbar. Die Weisheit Salomos enthält einen Lobpreis der Weisheit (Weish 7,22-8,1), der von den im ganzen Mittelmeerraum bekannten Isis-Hymnen beeinflusst ist. Besonders die Vielgestaltigkeit der Weisheit in dieser Schrift ähnelt stark den zeitgleichen Beschreibungen der Isis.

1.2.5. Sophia und Philosophie in hellenistischer Zeit

Analog dem hebräischen Begriff bezeichnet σoφία (sophia) in der griechischen Frühzeit jede praktische Fertigkeit und Sachkunde. Während in der klassischen Periode Weisheit vor allem als theoretisch-intellektuelles Wissen erscheint, verbinden die griechischen Philosophen der hellenistischen und spätantiken Zeit wieder praktische und theoretische Elemente im Begriff der Weisheit.

Während die Sophisten die Lehrbarkeit der Weisheit, die auf die Bewältigung des praktischen Lebens zielt, vertreten, definieren Sokrates und Platon die Weisheit als das Sein sowie die Idee des Guten und Schönen, die allein Gott zugänglich ist (Platon, Symposion 204a; Text gr. und lat. Autoren). Die dem Menschen einzig zugängliche Weisheit wird so zur ersten der vier Kardinaltugenden, die auf eine praktische Vernunft und das Wohlergehen des Menschen ausgerichtet sind (Platon, Protagoras 330a; vgl. Weish 8,7; 4Makk 1,18).

Demgegenüber setzt Aristoteles Weisheit (σoφία) und Philosophie gleich und stellt die Weisheit als rein theoretische Tugend der praktischen Klugheit gegenüber. Die Weisheit ist das allein dem Philosophen zugängliche höchste Wissen um den Anfang der Dinge und dem Zusammenhang des Kosmos (Aristoteles, Metaphysik I 2 982a 13-17).

Bedingt durch die Umbrüche in hellenistischer Zeit entwickeln die Philosophen der Stoa ein Ideal des Weisen, das theoretische Einsicht in den Kosmos mit einer ethischen Grundhaltung verbindet. Die Weisheit als Wissen um die göttlich gefügte Welt begründet eine praktische Vernunft, die lehrbar ist und zur Glückseligkeit führt.

Die Schriften Sirachbuch und Weisheit Salomos sind in ihrer Darstellung der Weisheit vor allem von der stoischen Tradition beeinflusst. Sie übernehmen die stoische Auffassung von einem rational gestalteten Kosmos, aber auch die enge Verbindung von Weisheit und Philosophie. Gleichzeitig halten Sirach und Weisheit Salomos jedoch am jüdischen Gesetz als konkretem Ausdruck des ethisch gebotenen Lebens fest.

2. Funktion und Rezeption der weiblichen Personifikation

2.1. Die Funktion der Personifikation

Die Personifikation der Weisheit als weiblicher Gestalt basiert zum einen auf der dargestellten Transformation weiblicher Gottesbilder, zum anderen auf der Analogie ihrer Rollen mit Frauenrollen in Israel: Sie ist gute Ratgeberin, nährende Mutter, Erbauerin des Hauses, und begehrenswerte Braut (Schroer, 1992, 63-79). Vor dem Hintergrund einer patriarchalischen Sozialstruktur und der Bedeutung der Frau für die Organisation des Haushalts und der Großfamilie erscheint die Metapher stimmig – die personifizierte Weisheit ist das Ideal umsichtiger Lebensführung. Darüber hinaus verkörpert „Frau Weisheit“ als Schöpfungsmittlerin, Weltordnungsexpertin und thronende Herrscherin über den Kosmos die den Menschen zugewandte Seite Gottes (Baumann, 1996). Sie vervollständigt so das sonst überwiegend mit männlichen Metaphern umschriebene Gottesbild der Bibel.

Durch die Identifikation von Weisheit und Tora in Sir 24 werden die mündliche Lehre der Weisheit und der schriftlich fixierte Gotteswillen gleichrangig nebeneinander gestellt. Die Darstellung der Weisheit als göttlicher Hauch und Geist, der in die Seelen der Menschen eindringt (Sir 24,4 [Lutherbibel: Sir 24,6]; Weish 7,22), betont die Mittlerrolle der Weisheit auf dem Weg zur Gotteserkenntnis und Gottesfurcht (vgl. schon Spr 1,7). Die Verschränkung von Menschenwort und Gotteswort in der Schrift, die traditionell als Inspiration des Textes oder seiner Autoren vom göttlichen Geist verstanden wird, lässt sich auch mit der Mittlerfunktion der weiblichen Weisheit beschreiben, die Gottes Willen erkennbar und lebbar macht.

2.2. Die Rezeption der weiblichen Weisheit

2.2.1. In der christlichen Ikonographie

Auf Titel- und Initialbildern zu den Schriften Sirach und Weisheit Salomos wird die göttliche Weisheit meist als reichgekleidete Frau dargestellt, oft mit Krone und Nimbus. Der Typus der auf einem siebensäuligen Gebäude dargestellten Weisheit mit Weltkugel, Buch oder Spruchband und Lilienzepter geht auf die Beschreibung des christlichen römischen Dichters Aurelius Prudentius Clemens (348-ca. 413 n. Chr.) in seinem Werk Psychomachia (Der Kampf der Seele, PL 60,11-90), und auf Darstellungen in Handschriften des Prudentius zurück. Die sieben Säulen verweisen auf das nach Spr 9,1 siebensäulige Haus der Weisheit und werden oft mit den sieben Tugenden in der Philosophie verbunden. Der Typus begegnet meist mit weiblichen, aber auch männlichen Zügen, sodass gelegentlich die Weisheit und Christus als Weltenherrscher ununterscheidbar sind. So weihte Kaiser Konstantin (der Große) um 325 n. Chr. die Kirche Hagia Sophia in Konstantinopel Christus in seiner Eigenschaft als göttlicher Weisheit. Aufgrund der biblisch belegten Verbindung der weiblichen Weisheit zum Geist Gottes und Wort Gottes können auch Christus oder Maria als Weisheit mit siebensäuligem Tempel dargestellt werden.

2.2.2. In der feministischen Theologie

In feministisch-theologischen Entwürfen spielt die weibliche Weisheit eine bedeutende Rolle, da sie gemäß Spr 8 präexistent und Mittlerin zwischen Gott und den Menschen ist. Kann sie als Rest altorientalischen Göttinnenglaubens gedeutet werden, so interpretieren die meisten feministischen Studien sie positiv als weibliche Seite Gottes und Integration des Weiblichen in das nachexilische monotheistische Gottesbild (Schroer, 1992, 53; Fischer, 2006, 178) sowie als bedeutendes Element der Christologie (Schüssler Fiorenza, 1997).

Diese positive Rezeption der Weisheitsgestalt ist jedoch nur möglich, wenn die Gestalt losgelöst vom jeweiligen Kontext betrachtet wird. Im Sprüchebuch hat die Weisheit als Gegenspielerin die Torheit (→ Tor / Torheit), die in Gestalt der „fremden Frau“ die Weisheitssuchenden verführt und so gesellschaftlich diskreditiert. Im Sirachbuch erscheint das Lob der Weisheit im Kontext eines Frauenbildes, das Frauen in gute und schlechte einteilt und Töchter als Quelle der Sorge für den Familienvater darstellt. Die Hochschätzung der weiblichen Weisheit geht in den genannten Schriften gerade nicht mit einer generellen Hochschätzung von Frauen einher. Ebenso ist die Darstellung der weiblichen Weisheit als begehrenswerte Frau oder Braut des Weisheitssuchenden (Spr 8,34; Weish 8,2-3; Weish 8,9) aus feministischer Sicht dann problematisch, wenn sie als Bestätigung moderner Geschlechterstereotype verstanden wird.

Die Tatsache, dass Weisheit und Erkenntnis im Alten Testament oft synonym verwendet werden, wird von feministischen Theologinnen zu Recht aufgegriffen, um der seit der griechischen Antike tradierten Dichotomie von männlichem Geist und weiblichem Körper kritisch zu begegnen (Wodtke, 1991, 169-171). Die Weisheit als weiblicher Aspekt des Gottesbildes und als weibliche Lebensklugheit widerspricht also einer vermeintlichen Geschlechterhierarchie im Gottesbild und Menschenbild.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
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  • Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i.Br. 1968-1976
  • Encyclopaedia Judaica, Jerusalem 1971-1996
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff.
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, München / Zürich 1978-1979
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1992
  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003
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  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
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  • Eerdmans Dictionary of the Bible, Grand Rapids 2000
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003
  • Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 2006

2. Weitere Literatur

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  • Fischer, I., 2006, Gotteslehrerinnen. Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament, Stuttgart
  • Gorges-Braunwarth, S., 2002, „Frauenbilder – Weisheitsbilder – Gottesbilder“ in Spr 1-9. Die personifizierte Weisheit im Gottesbild der nachexilischen Zeit, Münster
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  • Maier, C., 2003, Voll weiblichen Geistes. Die Weisheit (Chokmah / Sophia) als Mittlerin der Schrift, in: Welt und Umwelt der Bibel 28, 31-33
  • Maier, C. / Herzer, J., 2001, Die spielenden Kinder der Weisheit (Lk 7,31-35 par. Mt 11,16-19). Beobachtungen zu einem Gleichnis Jesu und seiner Rezeption, in: C. Maier / R. Liwak / K.-P. Jörns (Hgg.), Exegese vor Ort (FS P. Welten), Leipzig, 277-300
  • Rad, G. von, 2. Aufl. 1982, Weisheit in Israel, Neukirchen-Vluyn
  • Schroer, S., 1996, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften, Mainz
  • Strack, H. L. / Billerbeck, P., 3. Aufl. 1961, Kommentar zum Neuen Testament. Band II: Das Evangelium nach Markus, Lukas und Johannes und die Apostelgeschichte erläutert aus Talmud und Midrasch, München
  • Schüssler Fiorenza, E., 1997, Jesus – Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, Gütersloh
  • Wodtke, V. (Hg.), 1991, Auf den Spuren der Weisheit. Sophia – Wegweiserin für ein weibliches Gottesbild, Freiburg

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