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Wahrheit / Wahrhaftigkeit (AT)

(erstellt: Dezember 2021)

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1. Bedeutungsbereiche von „Wahrheit“

Mit dem Begriff „Wahrheit“ verbinden sich im Deutschen unterschiedliche Aspekte: (a) Die Übereinstimmung von Aussagen oder Meinungen mit einem (empirischen) Sachverhalt; (b) der Gegensatz zu einer bewussten (Lüge) oder unbewussten (Irrtum) Täuschung oder Fehlaussage; (c) das objektiv Richtige; (d) das Bewiesene oder Beweisbare.

Bezieht sich der Begriff „Wahrheit“ vor allem auf Sätze und / oder Sachverhalte, bezeichnet „Wahrhaftigkeit“ ein ethisch qualifiziertes Verhalten, nämlich die Übereinstimmung des Handelns mit allgemeinen Normen und Werten, d.h. die Überprüfbarkeit eines Handelns und dessen Absicht an Kriterien, die in einer Gesellschaft als gut und richtig gelten.

Im Alten Testament sind fast alle diese Aspekte von „Wahrheit“ und „Wahrhaftigkeit“ belegt. Grundsätzlich tendiert der hebräische „Wahrheits“begriff allerdings nicht in Richtung einer objektiven Richtigkeit, sondern darauf, ob ein Sachverhalt verlässlich und vertrauenswürdig ist. Im Hebräischen werden dafür die Nomina אֱמֶת ʼämæt und אֱמוּנָה ʼämûnāh verwendet. Beide sind Ableitungen des Verbs אָמַן ʼāman. Zugespitzt lässt sich sagen, dass im Hebräischen etwas dann wahr ist, wenn es sich bewährt bzw. bewährt hat. Das heißt, „Wahrheit“ beruht in den hebräischen Texten auf einer Glaubenserfahrung bzw. auf Vertrauen (s. dazu klassisch Kellenberger).

2. ʼämæt Wahrheit und Treue

2.1. Belegfrequenz

Sicher ist, dass אֱמֶת ʼämæt eine Ableitung von אמן ʼmn darstellt, die Wortform ist jedoch erklärungsbedürftig (vgl. Jepsen, 333f.). Das Wort ist 126 mal belegt, am häufigsten in den Psalmen (37 Belege: Ps 15,2; Ps 19,10; Ps 25,5.10; Ps 26,3; Ps 30,10; Ps 31,6; Ps 40,11.12; Ps 43,3; Ps 45,5; Ps 51,8; Ps 54,7; Ps 57,4.11; Ps 61,8; Ps 69,14; Ps 71,22; Ps 85,11.12; Ps 86,11.15; Ps 89,15; Ps 91,4; Ps 108,5; Ps 111,7.8; Ps 115,1; Ps 117,2; Ps 119,43.142.151.160; Ps 132,11; Ps 138,2; Ps 145,18; Ps 146,6). Dabei sind alle Gattungen vertreten. Allerdings fehlt der Begriff אֱמֶת ʼämæt auch in vielen Psalmenarten, so in den Zions- und JHWH-Königs-Psalmen und in den Geschichtspsalmen (→ Psalmen). Auch in den Königs- und den Weisheitspsalmen ist אֱמֶת ʼämæt nur vereinzelt belegt (Ps 89,15; Ps 119). Insgesamt begegnet אֱמֶת ʼämæt am häufigsten im Klagelied des Einzelnen (13 Belege: Ps 25,5.10; Ps 26,3; Ps 43,3; Ps 51,8; Ps 54,7; Ps 57,4.11; Ps 61,8; Ps 69,14; Ps 71,22; Ps 86,11.15). In diesen Texten wird nur in der Bitte bzw. im Vertrauensbekenntnis auf אֱמֶת ʼämæt Bezug genommen, d.h., die „Wahrheit“ (oder ihr Fehlen) erscheint nicht als Gegenstand der Klage. Vielmehr ist Gottes אֱמֶת ʼämæt das, was erbeten oder vertrauensvoll beschworen wird. So gibt es eine Konvergenz mit dem Lob Gottes und seiner אֱמֶת ʼämæt in Lob- und Dankpsalmen (Ps 19,10; Ps 40,11; Ps 108,5; Ps 111,7.8; Ps 138,2; Ps 145,13; Ps 146,6). Am häufigsten erscheint אֱמֶת ʼämæt in den ersten beiden und im letzten Psalmbuch (→ Psalter), in Buch III und IV ist es wenig vertreten. Dementsprechend findet sich der Begriff am häufigsten in Psalmen, die → David zugeschrieben werden. Insgesamt 15 mal wird אֱמֶת ʼämæt in direkter Nachbarschaft zu חֶסֶד ḥæsæd, „Liebe, Gnade“ verwendet, woraus sich die Frage nach der exakten Bedeutung von אֱמֶת ʼämæt zumal in den Psalmen ergibt.

Nach dem Psalter folgen die Bücher → Jesaja (12 Belege), → Jeremia (11 Belege) und Sprüche Salomos (→ Buch der Sprichwörter) (11 Belege) mit etwa gleicher Belegzahl. Im Jesajabuch ist אֱמֶת ʼämæt fast ausschließlich in der zweiten Hälfte präsent, dabei entfallen allein fünf Belege auf das Danklied des Hiskia (Jes 38,18.19) und seinen erzählenden Rahmen (Jes 38,3; Jes 39,8). Die letzteren Verse sind Zitate aus 2Kön 20, wohingegen im Danklied Sondergut vorliegt (vgl. jetzt Panov, 118-124). Im Grunde muss man Jes 38 zu den Psalmstellen hinzuzählen. Die Belege in Jes 40-66 (vgl. Jes 42,3; Jes 43,9; Jes 48,1; Jes 59,14.15; Jes 61,8) verteilen sich gleichmäßig auf → Deuterojesaja und → Tritojesaja, haben aber wenig eigenständiges Profil. Im Jeremiabuch ist אֱמֶת ʼämæt dagegen über das ganze Buch verteilt (vgl. Jer 2,21; Jer 4,2; Jer 9,4; Jer 10,10; Jer 14,13; Jer 23,28; Jer 26,15; Jer 28,9; Jer 32,41; Jer 33,6; Jer 42,5). In Jer 2-10 wird vor allem die fehlende אֱמֶת ʼämæt Israels beklagt, die in Jer 10,10 dann mit der אֱמֶת ʼämæt JHWHs kontrastiert wird. Diese wird in den Heilsworten am Schluss (Jer 32,41; Jer 33,6) noch einmal betont. Dazwischen findet sich אֱמֶת ʼämæt im Zusammenhang mit dem prophetischen Wort (Jer 14,13; Jer 23,28; Jer 26,15; Jer 28,9; vgl. auch Jer 42,5). In der weiteren → Prophetie ist אֱמֶת ʼämæt nur wenig belegt (vgl. Ez 18,8.9; Hos 4,1; Mi 7,20; Mal 2,6), allerdings fallen Häufungen im → Danielbuch (Dan 8,12.26; Dan 9,13; Dan 10,1.21; Dan 11,2) und im → Sacharjabuch (Sach 7,9; Sach 8,3.8.16.19) auf.

Im Sprüchebuch konzentriert sich אֱמֶת ʼämæt auf den zweiten Hauptteil (vgl. Spr 11,18; Spr 12,19; Spr 14,22.25; Spr 16,6; Spr 20,28) sowie dessen unmittelbaren Anhang (Spr 22,21; Spr 23,23). Nur zwei Belege finden sich im ersten Teil (Spr 3,3; Spr 8,7), außerdem ist noch in Spr 29,14 eine vereinzelte Erwähnung zu finden. In den Sprüchen wird אֱמֶת ʼämæt vor allem nach ihrer menschlichen Seite entfaltet, lediglich in Spr 8,7 ist sie eine Eigenschaft der personifizierten → Weisheit. In den weiteren weisheitlichen Büchern fehltאֱמֶת ʼämæt, nur der nachgetragene Vers Pred 12,10 schreibt der Person → Kohelets Suche nach אֱמֶת ʼämæt zu.

In der → Genesis findet sich אֱמֶת ʼämæt nur in dem späten Text Gen 24,27.48.49 sowie in der → Josefsgeschichte (Gen 42,16; Gen 47,29). Im → Exodusbuch erscheint אֱמֶת ʼämæt zweimal (Ex 18,21; Ex 34,6), auffallenderweise nicht in der Rechtsüberlieferung (→ Recht). In dieser begegnet אֱמֶת ʼämæt dagegen im → Deuteronomium (vgl. Dtn 13,15; Dtn 17,4; Dtn 22,20). Im restlichen Deuteronomium, in → Leviticus und → Numeri ist אֱמֶת ʼämæt überhaupt nicht vertreten. Die übrigen Belege sind über das → Josuabuch (vgl. Jos 2,13.14; Jos 24,14), das → Richterbuch (Ri 9,15.16.19), die → Samuelbücher (1Sam 12,24; 2Sam 2,6; 2Sam 7,28; 2Sam 15,20), die → Königebücher (vgl. 1Kön 2,4; 1Kön 3,6; 1Kön 10,6; 1Kön 17,24; 1Kön 22,16; 2Kön 20,3.19), das zweite Buch der → Chronik (vgl. 2Chr 9,5; 2Chr 15,3; 2Chr 18,15; 2Chr 31,20; 2Chr 32,1) sowie das → Esra-Nehemia-Buch (Neh 7,2; Neh 9,13.33) verteilt. Ein Beleg findet sich bei → Esther (Est 9,30).

אֱמֶתʼämæt ist ein Begriff, der keine Heimat in einem spezifischen Diskursbereich hat. Vielmehr wird er in verschiedenen Diskursen aufgenommen und reflektiert, wobei das Jeremiabuch die am stärksten profilierte Korrelation zwischen dem Begriff אֱמֶת ʼämæt und der Buchkomposition aufweist (vgl. Fischer). Klarere Ergebnisse sind auf dem Weg des jeweiligen Kontextes und der Semantik zu gewinnen.

2.2. Wahrheit und Überprüfbarkeit

Am ehesten kommt אֱמֶת ʼämæt der deutschen Semantik nahe, wo es um überprüfte, bewiesene Sachverhalte geht. Dies ist in den wenigen juristischen Texten der Fall, z.B. Dtn 13,15 (vgl. auch Dtn 17,4; Dtn 22,20):

Dann sollst du nachforschen und untersuchen und gründlich nachfragen. Und wenn es wahr ist (וְהִנֵּה אֱמֶת wǝhinneh ’ämæt), wenn es sich wirklich so verhält (נָכוֹן הַדָּבָר nākhôn haddāvār), wenn so Abscheuliches in deiner Mitte getan worden ist […].

„Wahrheit“ ist also ein Sachverhalt – in diesen Fällen eine Anschuldigung –, wenn sie sich durch Überprüfung bestätigen lässt. Auch 1Kön 10,16 ist in diesem Sinne zu verstehen: Die Königin von → Saba kann die Gerüchte über → Salomos Weisheit durch eigene Erfahrung bestätigen. Josef dagegen kündigt an, die Worte seiner Brüder erst noch überprüfen zu müssen, um ihre Wahrheit festzustellen (Gen 42,16).

In diesen Zusammenhang gehört auch Jeremias Auseinandersetzung mit → falscher Prophetie: Ob ein Prophetenwort wahr ist, erweist sich an seinem Eintreffen, vgl. Jer 28,9:

Der Prophet, der von Frieden weissagt – wenn das Wort des Propheten eintrifft, wird der Prophet erkannt werden, den wirklich (בֶּאֱמֶת bæ’ämæt) der HERR gesandt hat.

In Jer 23,28 werden verschiedene Offenbarungsformen zum Kriterium wahrer und falscher Prophetie verhandelt: Anspruch auf „Wahrheit“ hat ein Prophet, der das Wort Gottes verkündet. Beide Stellen stehen im Zusammenhang mit dem Prophetengesetz Dtn 18,18-22. Hier wird der Begriff אֱמֶת ʼämæt allerdings nicht verwendet, außerdem kommt als weiterer Maßstab für die Verlässlichkeit eines Propheten die Verkündigung im Namen JHWHs hinzu. Dies wird auch in 1Kön 17,24 und 1Kön 22,16 entfaltet. Dass sich die Wahrheit eines Prophetenwortes an seinem Eintreffen erweist, muss als – wenn auch spätere – Überprüfbarkeit gewertet werden (vgl. dazu Hermisson). Dass (manche) Prophetenworte tatsächlich eingetroffen sind, bildet eine der Voraussetzungen für die Entstehung der → prophetischen Literatur (vgl. Kratz 2003). So kann in der → Fortschreibung und in der Rezeption ein Wort als Wahrheit gelten, weil es sich in der Zwischenzeit bewährt hat. In Dan 8,26, Dan 10,1.21 und Dan 11,2 wird in dieser Linie das prophetische Wort von vornherein als אֱמֶת ʼämæt bezeichnet. Die Wahrheit der → Tora bzw. der Gebote JHWHs in Ps 119,142.151; Neh 9,13 ist ebenfalls in diesem Zusammenhang zu sehen: Sie sind wahr, weil bewährt. Hierhin gehört auch die liturgische Formel → „Amen“.

2.3. Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit

Wie sich gezeigt hat, oszilliert אֱמֶת ʼämæt zwischen dem, was sich erst noch bewähren muss, und dem, was sich bereits bewährt hat. Das Letztere darf als „Wahrheit“ übersetzt werden, während das Erstere eher in Richtung der Zuverlässigkeit tendiert. Vor allem menschliches Verhalten wird in diesem Raum als אֱמֶת ʼämæt bezeichnet. Je nach Kontext kann man mit „Vertrauenswürdigkeit“, „Zuverlässigkeit“, „Aufrichtigkeit“, „Ehrlichkeit“ und „Wahrhaftigkeit“ übersetzen. Dabei gibt es Überschneidungen mit anderen hebräischen Termini, wie z.B. jāšar, tām u.a. Aufschlussreich ist der Ratschlag des → Jitro an → Mose Ex 18,21:

Du aber suche dir aus dem ganzen Volk tüchtige, gottesfürchtige Männer aus, zuverlässige (אֱמֶת ʼämæt) Männer, die unlauteren Gewinn hassen. Und setze diese über sie als Vorgesetzte von je tausend, hundert, fünfzig und zehn.

Die Zuverlässigkeit zeigt sich in diesem Fall besonders an der Unbestechlichkeit der auszuwählenden Männer. Ähnliches liegt wohl auch den Mahnungen Sach 8,16; Jes 59,14f zugrunde. Offen bleibt in Ex 18,21, ob die in Frage kommenden Männer bereits als zuverlässig bekannt sind oder ob Mose sie auf Treu und Glauben auswählen soll, damit sie sich als zuverlässig bewähren. In der Aufnahme dieser Stelle in Dtn 1,13 ist die Unschärfe insofern aufgelöst, als der Begriff אֱמֶת ʼämæt nicht fällt, sondern durch „weise, verständig und einsichtig“ ersetzt wird, d.h., die Männer sind bereits bewährt. Eindeutig ist die Qualifikation des Hanani Neh 7,2: „Denn er hatte die Art eines zuverlässigen Menschen“ (כִּי־הוּא כְּאִישׁ אֱמֶת kî hû’ kǝ’îš ’ämæt, zur Übersetzung s. Jepsen, 335).

Eindeutig auf eine אֱמֶת ämæt hin ausgerichtet, die sich noch bewähren muss, sind Sätze wie z.B. Spr 14,25:

Ein ehrlicher Zeuge (עֵד אֱמֶת ‘ed ’ämæt) rettet Leben, wer aber Lügen vorbringt, ist ein Betrüger.

Spr 14,25 ist eine Variante zu Spr 14,5, wo statt אֱמֶת ʼämæt der verwandte Begriff אֱמוּנִים ʼämûnîm, „Zuverlässigkeit“ verwendet wird. Spr 14,25 verstärkt die implizite Mahnung zur Wahrhaftigkeit, indem mit dem Verweis auf Lebensrettung ein starkes Movens gesetzt wird (zur Komposition und Auslegung von Spr 14 vgl. Sæbø, 198-208). אֱמֶת ʼämæt wird Sach 7,9; Sach 8,16 von allen gefordert, die an der Rechtsfindung beteiligt sind. Dem König, der in אֱמֶת ʼämæt richtet, wird in Spr 29,14 die Dauerhaftigkeit seiner Herrschaft zugesagt. Hier wird sehr schön deutlich, dass nicht einfach etwas „wahr“ ist, sondern sich erst als „wahr“ bewähren muss.

Gleichwohl finden sich auch allgemeine Aussagen zur אֱמֶת ʼämæt, die keine noch ausstehende Bewährung thematisieren, sondern ein quasi absolutes Gut benennen. In Spr 23,23 soll sie „erworben“ werden; gleichzeitig sollen Weisheit, Disziplin und Einsicht nicht „verkauft“ werden. Erneut kommt אֱמֶת ʼämæt in den Kontext von Unbestechlichkeit. Grundsätzlich anthropologisch formuliert Spr 3,3:

Liebe und Wahrheit / Wahrhaftigkeit (אֱמֶת ʼämæt) sollen dich nicht verlassen. Binde sie dir um den Hals, schreibe sie auf die Tafel deines Herzens.

Der Text ist wohl nicht zufällig mit einer gewissen Reminiszenz an Dtn 6,6-8 formuliert, zumal im Kontext von Spr 3 auch von Tora und Gebot die Rede ist (ausführlich: Sæbø, 61-71). Ebenso signifikant ist, dass hier אֱמֶת ʼämæt im Herzen (→ Herz) sein soll (vgl. auch Spr 3,5), sich der Angeredete also mit seiner ganzen Person von „Liebe und Wahrhaftigkeit“ bestimmen lassen, sie nach außen und nach innen kommunizieren soll (vgl. zum Herzen Janowski). Auf menschlicher Seite und im Sinne von „Wahrhaftigkeit“ istאֱמֶת ʼämæt nicht von vornherein gegeben und auch kein Ziel, das man sich setzen kann, sondern ein täglicher und dauerhafter Prozess im Inneren des Menschen und in seinen Beziehungen nach außen (vgl. auch Jepsen, 337). Somit ist menschliche אֱמֶת ʼämæt die Voraussetzung einer funktionierenden Gesellschaft. Konsequenterweise stellt Jes 59,14f fest, dass Anarchie herrscht, wenn es keine אֱמֶת ʼämæt gibt. Eine ähnliche Feststellung trifft Jer 9,4. Umgekehrt steht Hos 4,1-2 geradezu als Motto über den Worten → Hoseas:

Hört das Wort JHWHs, ihr Israeliten! JHWH hat einen Rechtsstreit mit den Bewohnern des Landes, denn es gibt keine Wahrhaftigkeit (אֱמֶת ʼämæt) und keine Liebe und keine Gotteserkenntnis im Land! Verfluchen und Lügen und Töten und Stehlen und Ehebrechen haben sich ausgebreitet, und Blutschuld reiht sich an Blutschuld!

Wie in Spr 3,3 wird אֱמֶת ʼämæt mit חֶסֶד ḥæsæd, „Liebe“ zusammengestellt. Als dritte Kategorie kommt „Gotteserkenntnis“ hinzu (→ Erkennen / Erkenntnis), der Schlüsselbegriff des Hoseabuches (vgl. Kratz 1997). Das Fehlen aller drei führt zu einer völligen Zerrüttung der Moral in Israel und ist der Grund für JHWH, Israel den Prozess zu machen. Diese Reihenfolge ist bedeutsam. Die Vergehen gegen die Zehn Gebote (→ Dekalog) sind nicht als solche Grund für JHWHs Unmut, sondern das Indiz dafür, dass die Israeliten es daran fehlen lassen, sich konstant an JHWH zu erinnern. Denn אֱמֶתʼämæt und חֶסֶד ḥæsæd sind auch zentrale Eigenschaften Gottes.

2.4. Gottes ʼämæt

Gottes אֱמֶת ʼämæt wird vor allem in den Psalmen thematisiert. Es handelt sich dabei im Grunde um dieselbe Eigenschaft, die auch vom Menschen gefordert wird: Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit. Der Unterschied zur menschlichen אֱמֶת ʼämæt liegt in den Psalmen jedoch darin, dass JHWH sich nicht ständig um seine אֱמֶת ʼämæt bemühen muss. Vielmehr ist sie dauerhaft, Ps 146,5-6:

Wohl dem, dessen Hilfe der Gott Jakobs ist, der seine Hoffnung auf den HERRN setzt, seinen Gott, der Himmel und Erde gemacht hat und das Meer und alles, was in ihnen ist, der אֱמֶת (ʼämæt) bewahrt auf ewig.

Die Verbindung von JHWHs אֱמֶת ʼämæt mit seinem Schöpferhandeln verdeutlicht dabei besonders eindrücklich, dass sich seine אֱמֶת ʼämæt nicht erst bewähren muss, sondern immer schon bewährt hat (vgl. auch Ps 132,11) und sich weiterhin bewähren wird. JHWHs אֱמֶת ʼämæt ist unbestechlich und unwandelbar, so dass sie zum Schutz in Not (vgl. Ps 40,12; Ps 91,4) werden kann. Demzufolge ist sie auch Gegenstand des Lobes (Ps 71,22). Nur die Toten (→ Tod) sind von dieser Erfahrung ausgeschlossen (vgl. Ps 30,10; Jes 38,18).

Vor diesem Hintergrund wird אֱמֶת ʼämæt häufig mit → „Treue“ übersetzt, vor allem dort, wo sie mit חֶסֶד ḥæsæd parallelisiert wird. „Treue“ ist sogar als Grundbedeutung für אֱמֶת ʼämæt diskutiert worden (vgl. ausführlich Kellenberger). Allein philologisch ist die Frage nicht zu klären. Ähnlich wie bei menschlicher אֱמֶת ʼämæt fallweise zwischen „Wahrhaftigkeit“ oder „Zuverlässigkeit“ entschieden werden muss, kann JHWHs אֱמֶת ʼämæt teils personale Beständigkeit, teils überpersonale Unwandelbarkeit ausdrücken. In direkter Parallele zu חֶסֶד ḥæsæd ist „Treue“ auf jeden Fall nicht falsch, wenn man hinreichend berücksichtigt, dass sowohl JHWHs אֱמֶת ʼämæt als auch seine חֶסֶד ḥæsæd unverbrüchlich sind und die menschliche Erscheinungsform transzendieren (vgl. Feldmeier / Spieckermann, 130-133).

Tatsächlich gibt es einige Aussagen, in denen אֱמֶת ʼämæt besser durch „Wahrheit“ wiederzugeben ist als durch „Treue“. Dazu zählt Jer 10,10:

JHWH aber ist ein wahrhaftiger Gott (אֱלֹהִים אֱמֶת ’älohîm ’ämæt), er ist ein lebendiger Gott und ewiger König. Vor seinem Grimm erbebt die Erde, und die Völker können seinen Fluch nicht handhaben.

In und durch JHWHs אֱמֶת ʼämæt zeigt sich, dass er allein der wahre Gott ist bzw. dass neben ihm keiner Anspruch auf Göttlichkeit erheben kann. Hier ist „Treue“ allein kaum im Fokus des Textes, vielmehr geht אֱמֶת ʼämæt darüber hinaus. Die Wahrheit Gottes ist jedoch nicht a priori vorausgesetzt, sondern in der Erfahrung seiner Treue begründet.

2.5. Zusammenfassung

„So ist אֱמֶת [’ämæt] etwas, was Gottes Wesen bestimmt, was zu Gottes Gottheit gehört, was den Menschen auf diesen Gott vertrauen lässt. אֱמֶת [’ämæt] ist Gottes Zuverlässigkeit, die dem Menschen zugewandt ist, so daß er bei ihm Schutz suchen darf. Gewiß sollte אֱמֶת [’ämæt] auch das Wesen des Menschen bestimmen, sein Tun und Handeln, vor allem in seinem Verhalten zu Gott. […] ‚Wahrheit‘, ‚Treue‘, ‚Zuverlässigkeit‘, sie sind Gottes; dem Menschen aber bleiben sie aufgegeben, so oft er auch an ihnen versagt“ (Jepsen, 340f).

Sowohl in sehr frühen als auch in sehr späten Texten tendiert אֱמֶת ʼämæt mehr in Richtung der „objektiven“ Wahrheit als der Verlässlichkeit als einer Erfahrungskategorie. Dies betrifft zunächst die unter 2.2. genannten Rechtstexte, dann aber auch so späte Texte wie das Danielbuch. Die Erwägungen zum prophetischen Wort bei Jeremia bilden hier eine Brücke von der „profanen“ zur prophetischen Wahrheit. Daneben – und häufig unentwirrbar damit verflochten – ist אֱמֶת ʼämæt die Erfahrung der göttlichen oder menschlichen Verlässlichkeit. Die beiden Aspekte sollten nicht gegeneinander ausgespielt, sondern aufeinander bezogen werden.

Die → Septuaginta übersetzt אֱמֶת ʼämæt an den meisten Stellen (107 von 126) mit ἀλήθεια alētheia und dessen Derivaten. Das heißt, für die griechischen Texte steht bei dem Begriff tatsächlich eher die Richtigkeit und das Überprüfbare im Vordergrund als die personale Verlässlichkeit. Präziser ausgedrückt: ἀλήθεια alētheia transportiert den Aspekt der unbeirrten und unbeirrbaren Gewissheit, dass eine Sache so ist, wie sie sich darstellt. An elf Stellen hat die LXX Begriffe der Wurzel δικαιόω dikaioō (vgl. Gen 24,49; Ex 18,21; Jes 38,19; Jes 39,8; Jer 42,5; Ez 18,8f; Dan 8,12f; Sach 7,9), womit wohl jeweils das der Situation Angemessene, „Richtige“ gemeint ist, kaum eine abstrakte → „Gerechtigkeit“. Entsprechend haben Jos 24,14; 2Chr 31,20 LXX εὐθύτης euthytēs, „aufrichtig, rechtschaffen“. In Spr 3,3; Spr 14,22.25; Spr 16,6; Jer 28,9; Jer 32,41; Jer 33,6 lautet die Übersetzung πίστις pistis.

3. ʼämûnāh, ʼemûn, ʼämûnîm: Wahrhaftigkeit

Das feminine Substantiv אֱמוּנָה ʼämûnāh und der maskuline Plural אֱמוּנִים ʼämûnîm sind ebenfalls Nominalbildungen des Verbs אמן ʼmn. Wahrscheinlich handelt es sich zumindest beiאֱמוּנִים ʼämûnîm um eine Abstraktbildung (vgl. Jepsen; Kellenberger).

3.1. Belegfrequenz

אֱמוּנָה ʼämûnāh ist 49 mal belegt; אֵמוּן ʼemûn /אֱמוּנִים ʼämûnîm 8 mal. Bei אֱמוּנָה ʼämûnāh ist die Belegverteilung ähnlich wie bei אֱמֶת ʼämæt. Auch hier ist der Begriff hauptsächlich in den Psalmen zu finden (22 Belege). Im → Pentateuch ist der Begriff nur zweimal vertreten (Ex 17,12; Dtn 32,4); in den vorderen Propheten ebenfalls (2Kön 12,16; 2Kön 22,7). In der Chronik ist er dagegen häufiger belegt (vgl. 1Chr 9,22.26.31; 2Chr 19,9; 2Chr 31,15.18; 2Chr 34,12). אֱמוּנָה ʼämûnāh tritt häufiger im Jesajabuch auf (4 Belege) als im Jeremiabuch (3 Belege). Im Buch der Sprüche ist es dreimal vertreten.

In den Psalmen fällt die Häufung von אֱמוּנָה ʼämûnāh in Ps 89 (vgl. Ps 89,2.3.6.9.25.34.50) und Ps 119 (vgl. Ps 119,30.75.86.90.138) auf. Dies ist umso bemerkenswerter, als sich in den Texten eine ähnliche Unschärfe zwischen „Treue“ und „Wahrheit“ findet wie bei אֱמֶת ʼämæt. Eindeutig ist aber, dass אֱמוּנָה ʼämûnāh in Ps 89 die Funktion eines Leitwortes hat, zumal es programmatisch am Anfang steht (Ps 89,2). Überdies gehört Ps 89 zu den kompositorischen Ecktexten des Psalters; er schließt das dritte Psalmenbuch und – wahrscheinlich – die Sammlung des „messianischen“ Psalters (Ps 3-89) ab (vgl. zum Überblick Zenger / Hossfeld). Insofern ist אֱמוּנָה ʼämûnāh nicht nur für den Einzeltext Ps 89, sondern auch für den Kontext des Psalters relevant. Möglicherweise hat Ps 119 im fünften Psalmenbuch eine ähnlich wichtige kompositorische Funktion (vgl. Zenger). In dem Fall würde die um JHWHs zuverlässige Wahrheit und Treue (אֱמֶת ʼämæt) zentrierte Psalmentheologie in der zweiten Hälfte des Psalters durch אֱמוּנָה ʼämûnāh ergänzt. In jedem Fall ist von Bedeutung, dass im Psalter das → Königtum und die → Geschichte (vgl. Ps 89) und die auf JHWH zentrierte Weisheit (Ps 119) unter den Leitbegriff der אֱמוּנָה ʼämûnāh gestellt werden. Zumindest Ersteres ist nicht mit אֱמֶת ʼämæt verbunden.

Anders als bei אֱמֶת ʼämæt lässt sich für אֱמוּנָה ʼämûnāh ein bevorzugter Diskursbereich bestimmen, nämlich die Psalmen. Zudem taucht אֱמוּנָה ʼämûnāh hier in Texten auf, die mit ziemlicher Sicherheit nachexilisch zu datieren sind. Das muss nicht zwangsläufig bedeuten, dass auch der Begriff אֱמוּנָה ʼämûnāh sprachgeschichtlich jünger ist als אֱמֶת ʼämæt. Möglicherweise wird אֱמוּנָה ʼämûnāh verwendet, um andere Akzentuierungen vorzunehmen.

Die vier Belege für אֱמוּנָה ʼämûnāh im Jeremiabuch erscheinen nur im vorderen Teil (vgl. Jer 5,1.3; Jer 7,28; Jer 9,2) und kennzeichnen ausschließlich menschliches Verhalten bzw. dessen Fehlen. Hier scheint die Verwendung des Begriffs der von אֱמֶת ʼämæt bestimmten Dramaturgie des Jeremiabuches untergeordnet. Bei Jesaja ist אֱמוּנָה ʼämûnāh überwiegend im ersten Teil vertreten, dabei mit Jes 11,5 und Jes 25,1 an Stellen, die mit Sicherheit nachjesajanisch (Jes 11,5), vermutlich sogar sehr spät (Jes 25,1) anzusetzen sind. Die dritte Stelle ist Jes 33,1. Jes 59,4 fügt sich in dasselbe Bild, das sich schon bei אֱמֶת ʼämæt im Jesajabuch ergab. In den weiteren Prophetenbüchern fehlt אֱמוּנָה ʼämûnāh fast völlig bis auf Hos 2,22 sowie die berühmte Stelle Hab 2,4.

3.2. Bedeutungsnuancen

Es ist umstritten, ob אֱמוּנָה ʼämûnāh von אֱמֶת ʼämæt klar zu unterscheiden ist; die beiden Begriffe zeigen eine erhebliche Schnittmenge. Die Übersetzungspraxis der Septuaginta ist kein sicheres Argument (anders Jepsen): Die Übersetzung ist an 21 Stellen vom Stamm πίστ- pist- gebildet (Dtn 32,4; 1Sam 26,23; 2Kön 12,16; 2Kön 22,7; 1Chr 9,22.26.31; 2Chr 31,12.15.18; 2Chr 34,12; Ps 33,4; Spr 12,17.22; Spr 28,20; Jer 5,1.2; Jer 7,28; Jer 9,2; Hos 2,22; Hab 2,4), an 24 Stellen wird ἀλήθειά alētheia gebraucht (2Chr 19,9; Ps 36,6; Ps 40,11; Ps 88,12; Ps 89,2.3.6.9.25.34.50; Ps 92,3; Ps 96,13; Ps 98,3; Ps 100,5; Ps 119,30.75.86.90.138; Ps 143,1; Jes 11,5; Jes 25,1; Jes 59,4). Das heißt, die LXX unterscheidet nicht grundsätzlich zwischen אֱמוּנָה ʼämûnāh und אֱמֶת ʼämæt, sondern gibt die beiden hebräischen Begriffe je nach Übersetzungskonzept gleich wieder: im Psalter mit ἀλήθειά alētheia, in den Sprüchen und im Jeremiabuch mit dem Stamm πίστ- pist-. Lediglich δικαιόω dikaioō wird von der LXX nicht als Übersetzung verwendet.

Weiterführend sind die Beobachtungen von Kellenberger (32-37): אֱמֶת ʼämæt wird deutlich seltener mit Suffixen verwendet als אֱמוּנָה ʼämûnāh, d.h., Letzteres ist stärker subjektbezogen. Außerdem wird אֱמֶת ʼämæt häufiger mit חֶסֶד ḥæsæd verbunden als אֱמוּנָה ʼämûnāh. So liegt der Unterschied zwischen den beiden Begriffen womöglich nicht in der Semantik, sondern in den grammatischen Möglichkeiten (insofern sich אֱמוּנָה ʼämûnāh leichter auf Subjekte beziehen lässt) oder auch in der Stilistik (אֱמֶת ʼämæt und חֶסֶד ḥæsæd reimen sich).

Eine eigene Bedeutungsnuance von אֱמוּנָה ʼämûnāh gegenüberאֱמֶת ʼämæt lässt sich jedoch gelegentlich feststellen. Von אֱמוּנָה ʼämûnāh ist nur selten im Kontext des Rechts die Rede; Ausnahmen bilden Jes 59,4 und Spr 12,17. Dagegen weisen 2Kön 12,16 und 2Kön 22,7 auf eine Verlässlichkeit in Finanzdingen: Den Arbeitern am Tempel wird eingesammeltes Geldבֶּאֱמוּנָה bæ’ämûnāh ausgehändigt und nicht abgerechnet. Das heißt doch wohl, dass die Arbeiter gewissenhaft das Geld verwalten, das ihnen anvertraut ist. Dies belegen auch 1Chr 9,26 und 2Chr 31,12.15. Daneben zeigen 1Chr 9,22.26.31; 2Chr 19,9; 2Chr 31,18; 2Chr 34,12 weitere Aspekte von „Vertrauenspositionen“, die einen gewissenhaften und zuverlässigen Inhaber voraussetzen. Da es sich bei allen diesen Stellen um Arbeiten und Dienste handelt, die mit dem → Tempel und seiner Verwaltung zusammenhängen, geht es in ihnen nicht nur um wünschenswerte Eigenschaften guter Verwalter. Vielmehr sind beim Tempel Kategorien von → Heiligkeit und → Reinheit leitend, die durch → Betrug oder Unachtsamkeit verletzt würden. So tendiert die Bedeutung von אֱמוּנָה ʼämûnāh an diesen Stellen in Richtung „Pflichtbewusstsein“. Ein solches Pflichtbewusstsein, d.h. eine Verpflichtung zur Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit, kommt auch abseits von Dienstbestimmungen z.B. in Spr 12,7 zum Ausdruck. Häufiger alsאֱמֶת ʼämæt wird אֱמוּנָה ʼämûnāh als Vermeidung oder Abwesenheit von → Lüge (שֶׁקֶר šæqær) bezeichnet (vgl. Spr 12,22; Spr 14,5; Jer 5,1; Jer 9,2; Jes 59,4; Ps 119,29f.86). Es gilt daher:

„Im Gegensatz zuאֱמֶת [’ämæt] wird אֱמוּנָה [’ämûnāh] nie auf ein Wort allein bezogen, sondern auf das Verhalten der ganzen Person, die, durchאֱמֶת [’ämæt] bestimmt, in אֱמוּנָה [’ämûnāh] handelt“ (Jepsen, 342).

Demzufolge kann אֱמוּנָה ʼämûnāh Segen hervorrufen (Spr 28,20) und ist Kennzeichen des Gerechten (1Sam 26,23). In diesen Zusammenhang gehört auch Hab 2,4:

Siehe, aufgeblasen, nicht aufrichtig, ist seine Seele in ihm, aber der Gerechte wird in seiner אֱמוּנָה (ʼämûnāh) / durch seine אֱמוּנָה (ʼämûnāh) leben.

Dieser Vers ist rezeptionsgeschichtlich von großer Bedeutung; er ist eine der Zentralstellen christlicher Rechtfertigungslehre: Röm 1,17; Gal 3,11; Hebr 10,38. In Röm 1 und Gal 3 wird die Glaubensgerechtigkeit jener entgegengesetzt, die aus den Werken des Gesetzes stammt. Allerdings ist fraglich, ob → „Glauben“ (griech.: πίστις pistis) die angemessene Übersetzung ist. Im Kontext der hebräischen Semantik müsste hier vermutlich besser „Wahrhaftigkeit“ übersetzt werden, zumal der Gegenbegriff jāšar, „aufrichtig“, ist. Die Antithese in Hab 2,4 nach dem hebräischen Text besteht nicht in „Glaube“ und „Werken“, sondern in Aufrichtigkeit und Lüge bzw. im Gegensatz zwischen dem „Gerechten“ und seinem Gegenteil. In Hab 2,4 wird der andere nicht identifiziert und muss daher kontextuell bestimmt werden (vgl. dazu Krüger). Der Vers ist außerdem textkritisch schwierig, die LXX übersetzt:

Sollte einer sich zurückhalten, hat meine Seele keine Freude an ihm, der Gerechte aber wird durch die πίστις (pistis) an mich leben.

Es bleibt das Problem, ob die LXX einen anderen hebräischen Text zugrunde legt als MT oder ob hier eine Interpretation vorliegt: Das Leben des Gerechten hängt nicht von ihm selbst ab, sondern von Gott (zur Diskussion s. Jepsen; Fabry). In jedem Fall ist zumindest im hebräischen Text „Glaube“ kaum die angemessene Übersetzung, sondern auch hier muss mit „Wahrhaftigkeit“, „Verlässlichkeit“ übersetzt werden (vgl. jetzt EÜ).

In Bezug auf Gott und seine אֱמוּנָה ʼämûnāh scheint ebenfalls an Gottes Verhalten und Handeln gedacht zu sein, das in seinerאֱמֶת ʼämæt wurzelt (Jepsen). Dafür spricht vor allem Ps 89. Der Psalm reflektiert Gottes „Treue“ angesichts des historischen Versagens Israels in der Form eines Königspsalms (vgl. Hossfeld / Zenger 2000, 576-560). Gott wird in Ps 89,50 sogar an seine אֱמוּנָה ʼämûnāh erinnert. Dies kontrastiert mit den scharfen Anklagen an Gott, die ihn des Bundesbruchs, des Wortbruchs, der Lüge und der Feindschaft gegenüber Israel bezichtigen (Ps 89,39-46). Tatsächlich steht in Ps 89 Gottes Wahrhaftigkeit im Sinne des Einhaltens seiner Zusagen angesichts seines Gerichts auf dem Spiel. Die lobende Erinnerung an seine אֱמוּנָה ʼämûnāh dient als Appell, Gott möge seine Gottheit weiterhin bewahren. Die Frage ist, ob JHWH seinen Schwüren treu bleibt und sich darin als wahr und wahrhaftig erweisen kann. Wohl nicht zufällig steht Ps 89 direkt nach Ps 88, der dasselbe Problem im individuellen Horizont verhandelt und in Ps 88,12 an Gottes אֱמוּנָה ʼämûnāh im Land der Lebenden erinnert (zu Ps 88 vgl. Hossfeld / Zenger 2000, 563-576). In Ps 119 wird nicht nur bekannt (Ps 119,90), dass Gottes אֱמוּנָה ʼämûnāh ewig ist, sondern dass dies in der אֱמוּנָה ʼämûnāh seiner Tora manifest wird (vgl. Hossfeld / Zenger 2008). Wie schon beiאֱמֶת ʼämæt gilt auch für אֱמוּנָה ʼämûnāh: Gottes Wahrheit ist in seiner Beständigkeit begründet.

4. ʼāmen: Amen

Die adverbiale Partikel אָמֵן ʼāmen trägt in besonderer Weise die Bedeutung „Wahrheit“ im Sinne von „objektiv richtig“ bei sich. Sie ist weniger häufig, als der nach-alttestamentliche und liturgische Gebrauch des (unübersetzten!) Wortes es nahelegt. Als Bekräftigungspartikel kommt אָמֵן ʼāmen 24 Mal im hebräischen Text vor, davon allein 12 Mal in Dtn 27. Offensichtlich wird mit אָמֵן ʼāmen der Wunsch ausgedrückt, dass eine Sache eintreffen wird, indem ihre Wahrheit bzw. Wirkmächtigkeit bekräftigt wird. In Jer 28,6 verbindet sich dies mit dem Eintreffen des Prophetenwortes. In Dtn 27; Num 5,22; Neh 5,13 wird mit אָמֵן ʼāmen die Wirksamkeit von Flüchen bekräftigt: Die Sprecher*innen nehmen mit ihrem אָמֵן ʼāmen den angekündigten Fluch auf sich. Hier hat אָמֵן ʼāmen quasi futurische Bedeutung: „So sei es, so möge es sein.“

Der (liturgische) Gebrauch am Abschluss eines Gebets scheint seinen Haftpunkt in dem Vorgang Neh 8 zu haben: Esra beschließt seinen Lobpreis, und das Volk antwortet mit erhobenen Händen אָמֵן ʼāmen, אָמֵן ʼāmen und vollführt dann die → Proskynese. Hier lässt sich אָמֵן ʼāmen kaum anders als mit „So ist es!“ bzw. „Ja, es ist wahr!“ übersetzen, zumal die Doppelung auf eine zusätzliche Steigerung hinweist. In diesem Zusammenhang gilt, dass wahr ist, was beständig ist.

Im Psalter ist diese Partikel zum literarisch-theologischen Gestaltungsprinzip geworden, indem sämtliche buchgliedernden → Doxologien mit dem doppelten אָמֵן ʼāmen abgeschlossen werden (vgl. Ps 41,14; Ps 72,19; Ps 89,53; Ps 106,48). Diese Doxologien schließen einen Buchzusammenhang mit einem Lobpreis (wörtlich: einer Segnung; → Segen) JHWHs ab, so dass sämtliche theologischen Einzelaspekte des jeweiligen Psalmbuches ihren Fluchtpunkt in Gottes ewigem und unbeirrbarem Verhältnis zu Israel haben (vgl. Leuenberger, 166-194). Dabei ist von besonderer Relevanz, dass dieses אָמֵן ʼāmen vom „Volk“ gesprochen werden soll:

„Wenn man also den Psalter aufgrund der vertikalen Segensrelation theologisch als Antwort Israels auf seine Gotteserfahrungen versteht […], so ist zu beachten, dass sich auf der Buchebene des Psalters diese Antwort nicht direkt an Jhwh richtet, sondern in zwischenmenschlicher Kommunikation – freilich coram deo – formuliert wird, als eine ‚Rede über Gott‘ darstellt“ (Leuenberger 2011, 188; Hervorhebungen im Original).

Auffallenderweise findet sich eine dieser Doxologien gerade am Ende von Ps 89, dem Text, der Gottes אֱמוּנָה ʼämûnāh am meisten infrage stellt: Unabhängig von allen widrigen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte erweist sich Gott doch als in einer unbeirrbaren heilvollen Beziehung zu Israel. Dies verkündet der Psalter als ewige Wahrheit Gottes.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

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  • The New Interpreter’s Dictionary of the Bible, Nashville 2006-2009
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2. Weitere Literatur

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  • Hossfeld, F.-L. / Zenger, E., 2000, Psalmen 51-100 (HThKAT), Freiburg / Basel / Wien
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  • Krüger, T., 2021, Prophetie, Weisheit und religiöse Dichtung im Buch Habakuk, in: J. Krispenz (Hg.), Scribes as Sages and Prophets. Scribal Traditions in Biblical Wisdom Literature and in the Book of the Twelve, Berlin / Boston (BZAW 496), 99-116
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  • Panov, L.L., 2019, Hiskijas Geschick und Jesajas Beistand. Heilstheologische Verarbeitungen der Jesajaüberlieferung in den Hiskija-Jesaja-Erzählungen (AThANT 110), Zürich
  • Zenger, E., 1996, Komposition und Theologie des 5. Psalmenbuchs 107-145, BN 82, 97-116
  • Zenger, E. / Hossfeld, F.-L., 2016, Das Buch der Psalmen, in: E. Zenger u.a. (Hgg.), Einleitung in das Alte Testament, hg. von Christian Frevel (KStTh 1,1), 9. Aufl. Stuttgart, 431-455

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