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Verstoßung

(erstellt: Mai 2013)

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„Verstoßungsakte“ werden im Hebräischen über ein breites Wortfeld angegeben. Dieses Wortfeld bezeichnet die absichtliche und über einen Schuldaufweise begründete Ausstoßung aus sozialen Zusammenhängen, die als Folge immer eine soziale Ausstoßung aus einer Gemeinschaft mit sich zieht. Dies beinhaltet auch immer eine räumliche Trennung des Verstoßenen zum verstoßenden Subjekt. Immer schwingt darin auch der Aspekt mit, dass für den Ausgestoßenen nun dessen Existenzgrundlage durch den Ausschluss aus der Gemeinschaft zutiefst bedroht ist.

Von Verstoßung kann in zwischenmenschlichen Zusammenhängen gesprochen werden. Die Verstoßung Hagars mit ihrem Sohn Ismael aus der Gemeinschaft der patriarchalen Familie Abrams / Abrahams ist die wohl bekannteste Verstoßung aus einem Familiensystem. Zudem ist an die Rechtsfolgebestimmungen des Ehebruchs zu denken: Der Ehemann hat das Recht, seine des Ehebruchs überführte Frau aus der Ehegemeinschaft zu verstoßen.

Die weitaus häufigsten Belege für „Verstoßung“ werden über ein göttliches Subjekt konstruiert. Gerade in den → Psalmen wird in unterschiedlichen Variationen die existentielle Grundfrage durch den Beter artikuliert, ob Gott ihn verstoßen habe. In der theologischen Deutung der Ursachen des Exils bildet die Rede von der Verstoßung Israels durch seinen Gott eine entscheidende Rolle: JHWH, der Hirte Israels, verstößt seine „Herde Israel“. Er verstößt – so die Ehemetaphorik der Prophetie – seine Braut Israel aus dem „Ehebund“ und kündigt damit seine Versorgerrolle für Israel auf.

Auch in der → Urgeschichte spielt die Verstoßung eine nicht weniger zentrale Rolle: die conditio humana wird unter dem Gesichtspunkt der Verstoßung / Vertreibung des Menschen aus dem „Garten Eden“ (Gen 2-3) und „vom Erdboden“, der ihm als Existenzgrundlage dienen sollte (Gen 4,1-16), entwickelt. Gemeinsam ist diesen Verstoßungsakten durch Gott, dass diese stets mit einem vorausgegangenen Fehlverhalten der Menschen gegenüber Gott begründet werden. Menschliche Existenz im Allgemeinen und Israels Sonderrolle im Speziellen stehen damit im Spannungsfeld von Gottesnähe und Gebotstreue sowie menschlichem Fehlverhalten und absoluter Gottesferne, d.h. der Verstoßung. Diese Verstoßung ist allerdings nicht endgültig, sondern kann von Gott selbst wieder zurückgenommen werden.

Eine Sonderrolle nehmen die Verstoßungserzählungen ein, die die gesamte Genesiserzählung durchziehen: Gott verstößt regelmäßig den natürlichen Erstgeborenen der genealogischen Hauptlinie „Israel“, damit sich der jüngere Bruder als von Gott eingesetzter Stammhalter legitimieren kann. Israel wird über dieses Wechselspiel von Verstoßung und Legitimierung als herausgehoben untern den Völkern definiert, das sich in seiner gesamten Existenz von JHWH legitimiert aber auch abhängig weiß.

1. Definition und Terminologie

Grundsätzlich bezeichnet der Begriff „Verstoßung“ die lokale und soziale Ausstoßung aus einem Gemeinschaftsverhältnis. Subjekt der Verstoßungsakte können die Menschen selbst sein. Ein weit größerer Teil der alttestamentlichen Belege beschäftigt sich allerdings mit der Verstoßung Einzelner oder ganzer Volksgruppen durch Gott. Allerdings hat das deutsche Lexem „Verstoßung“ / „verstoßen” im Hebräischen kein einheitliches Äquivalent. Die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen und -aspekte werden über ein weites Wortfeld beschrieben. Nur die jeweiligen Kontexte machen deutlich, in welcher Hinsicht von einer „Verstoßung“ die Rede ist. Das Bedeutungsspektrum der hebräischen Umschreibungen von Verstoßungsakten erstreckt sich von der rein lokalen Dimension (also der „Vertreibung“ von Scholle, Landgut, Land und Stadt) bis hin zur sozialen bzw. familiären Ausstoßung (aus einer Gemeinschaft) als radikalem Beziehungsabbruch. In der Regel treten beide Aspekte gemeinsam auf. Es lassen sich aber in der Betonung des einen oder anderen Aspektes wesentliche Bedeutungsnuancen herausarbeiten:

1.1. Vertreibung. Ist die „Verstoßung“ eher im Sinne einer räumlichen „Vertreibung“ gedacht, wird diese Bedeutungsdimension vor allem über das hebräische Lexem גרשׁ grš „vertreiben“ (Ringgren 1977, 72-74) ausgedrückt.

Auch die Wurzel נדח ndḥ, die in den meisten alttestamentlichen Belegstellen die grundlegende Bedeutung „stoßen / wegstoßen / versprengen” hat (Kronholm 1986, 254-260), beinhaltet diese Dimension, wenn sie in metaphorischem Sinne gebraucht wird: Das Verbum נדח ndḥ entstammt wohl ursprünglich der Viehzüchtersprache (Kronholm 1986, 254) und bezeichnete dort das Versprengen einer Herde oder einzelner Tiere. Diese Bedeutung lässt sich noch da erahnen, wo das Verbum in metaphorischer Weise gebraucht wird: Menschen werden verstoßen und damit versprengt wie eine Tierherde durch wilde Tiere.

Die hebräischen Wurzeln נדד ndd (z.B. Jes 16,1-4; Jer 49,5) und פוץ pwṣ Hif. (z.B. Dtn 30,3-4; Jer 23,2-3) funktionieren im Alten Testament als Synonyme zu נדח ndḥ und werden in ähnlichem Sinne zur Beschreibung des Verstoßens gebraucht.

Den räumlichen Aspekt der Verstoßung betont ebenfalls das Verbum שׁלח šlḥ (Hossfeld / van der Velden 1987, 46-70). Jedoch ist wegen des beachtlichen semantischen Spektrums dieser Wurzel – allein schon für den Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion schwankt die Bedeutung des Verbums zwischen einem freundlichen „Ziehenlassen / Verabschieden“ (Gen 32,27; 1Sam 9,26), „Sklaven freilassen“ (Ex 21,26-7), dem indifferenten „die Frau aus der Ehe entlassen“ (Dtn 21,14; Dtn 22,19; Dtn 24,4; Jes 50,1) bis hin zu einem unfreundlichen „Wegschicken“ (Gen 31,42) oder einem feindlichen „Verjagen“ (2Sam 10,4; vgl. Ex 6,1) – in besonderem Maße der Kontext entscheidend, in welcher Hinsicht hiermit tatsächlich eine Verstoßung beschrieben wird.

1.2. Verstoßung. Mit dem lokalen Aspekt des „Fortjagens“ geht in der Regel der Abbruch sämtlicher sozialer, familiärer und allgemein menschlicher Verbindungen einher. Eine Verstoßung aus sozialen Zusammenhängen (→ Ehe, → Bund bzw. Gottesbund, Gemeinschaft) hat zugleich auch immer eine lokale Entfernung von dem die Verstoßung bewirkenden Subjekt zur Folge. Häufig wird dieser Aspekt über die hebräische Wurzel זנח znḥ (Grundbedeutung: „verstoßen / ausschließen“) beschrieben (im Qal wie im Hif. belegt, zum eventuellen Nif.-Beleg in Klgl 3,17 s. Ringgren 1977, 619-621). Gelegentlich wird das Verbum mit menschlichem Subjekt konstruiert (vgl. etwa Hos 8,3). Bei der Mehrheit der Belege (vor allem → Klagelieder Jeremias und → Psalmen) wird זנח allerdings mit Gott als Subjekt gebraucht. Ferner kann auch die Wurzel מאס m’s (Grundbedeutung: „verwerfen“) eine Verstoßung implizieren, wenn sie in theologischem Sinne – als Verwerfungsakt – gebraucht wird (Wagner 1984, 618-633).

2. Menschen verstoßen Menschen

2.1. Verstoßung als genereller Verbindungsabbruch

Auf der zwischenmenschlichen Ebene beschreiben Verstoßungsakte ein Fortjagen und Wegtreiben, bei dem zunächst nicht mehr impliziert wird, als dass eine bestehende Verbindung abgebrochen ist: So treibt etwa → AbrahamHagar mit ihrem Sohn → Ismael weg (Gen 21,10; גרשׁ grš), Sebul vertreibt Gaal und seine Brüder aus → Sichem (Ri 9,41; גרשׁ grš), der Priester → Ahimelech treibt → David von sich (Ps 34,1; 1Sam 21,13-4; גרשׁ grš) und → Salomo treibt → Abjatar aus seinem Amt (1Kön 2,27; גרשׁ grš). Diese Dimension wird ebenso in der zuversichtlichen Aussage eines Gläubigen deutlich, der auf die Rettung durch Gott hofft: „(Gott) macht sich Gedanken darüber, dass er nicht einen (von Menschen) Verstoßenen (נדח ndḥ) von sich stößt (נדח ndḥ).“ (2Sam 14,14). Der Akt der Annahme Verstoßener wird hier als grundsätzlich unterschieden vom menschlichen Handeln gesehen.

2.2. Verstoßung der Ehefrau

Im Rahmen der Verstoßung im ehelichen Bereich wird ein fester Rechtsakt beschrieben: Sollte sich der Verdacht erhärten, dass eine Frau Ehebruch begangen hat, kann sie von ihrem Ehemann verstoßen werden (Hos 2,5-6; vgl. Spr 6,34-35; → Ehe 2.). Das Alte Testament kennt nur die Scheidung von Seiten des Mannes, der seine Frau verstößt.

In diesem gesetzlichen Kontext ist die Terminologie im Hebräischen jedoch nicht einheitlich. So wird an fünf Stellen (Lev 21,7.14; Lev 22,13; Num 30,10; Ez 44,22) für diesen Kontext das Verbum גרשׁ grš gebraucht. Hierbei handelt es sich wohl um ein aktives „Vertreiben“ der Ehefrau. Die geschiedene Frau wird deshalb auch als „Verstoßene“ (גְרוּשָׁה gərûšāh) bezeichnet.

An anderen Stellen, beispielsweise in den eherechtliche Bestimmungen Dtn 24,1-4, wird das Verbum שׁלח šlḥ Pi. gebraucht, welches ein eher unspezifisches „Entlassen“ umschreibt (vgl. noch Dtn 21,14; Dtn 22,19; Jes 50,1). Wurde der Scheidungswille des Mannes festgestellt, konnte er sich von seiner Ehefrau scheiden lassen. Er stellte ihr dazu einen Scheidebrief aus, damit sie andernorts ein neues Eheverhältnis eingehen konnte, und „vertrieb“ bzw. „entließ“ sie aus seinem Haus (Otto 1999, 1071-1073; Berlejung 2006; Groß 1987).

2.3. Verstoßung von Hagar und Ismael (Gen 16 / Gen 21)

Die wohl bekanntesten Erzählungen, in denen eine Verstoßung im Zentrum steht, sind die beiden Geschichten um Hagar und ihren Sohn Ismael, die von Abraham bzw. Sara verstoßen werden und das Land verlassen müssen (Gen 16,1-16 und Gen 21,8-21). Zugleich wird an dieser Geschichte exemplarisch deutlich, wie die soziale und lokale Dimension des Verstoßungsaktes ineinandergreifen. Dabei wird auch deutlich, dass zwischenmenschliche Verstoßungshandlungen im Horizont des Verheißungshandeln Gottes stehen können:

2.3.1. Gen 16. In Gen 16,1-5.6-16 werden Ursachen und Folgen der Verstoßung eingängig entfaltet: Da Sara trotz Landes- und Nachkommenverheißung an Abram (Gen 15) kinderlos bleibt (Gen 16,1), ergreift sie selbst die Initiative und überredet Abraham, mit ihrer ägyptischen Magd Hagar einen Nachkommen zu zeugen (Gen 16,1-5). Jedoch wird Sara eifersüchtig, als Hagar tatsächlich schwanger wird (Gen 16,5). Sie bringt daher die mit Ismael schwangere Hagar zur Flucht in die Wüste (Gen 16,6-16).

Die Verstoßung wir in Gen 16 im Unterschied zur zweiten Erzählung Gen 21,8-21 noch nicht explizit gemacht. Hagar flieht selbsttätig vor der Unterdrückung Saras. Erst von der zweiten Erzählung in Gen 21 her wird sich zeigen, dass auch schon in Gen 16 auf die Verstoßung literarisch hingearbeitet wurde. Gen 16 rückt die spätere (explizite) Vertreibung von Hagar und Ismael in die Nähe ehelicher Verstoßungen. Dies geschieht auf subtile und ironische Weise und hebt die Dringlichkeit und Notwendigkeit der späteren Verstoßung hervor: Wenn Hagar Abraham in Gen 16,3b „zur Frau“ und nicht etwa Nebenfrau (vgl. Gen 25,6) gegeben wird, konstituiert dieser Akt sonst rechtlich ein Eheverhältnis (Berg 1982; Fischer 1994, 261-263). Dem entspricht auch die für den Erzählverlauf auffällige Bezeichnung Hagars mit Namen, Herkunft und sozialer Stellung (Gen 16,3a). Hagar ist ja bereits vorgestellt (Gen 16,1), die Angaben sind also bekannt. Sie sind allerdings dann sinnvoll, „wenn V. 3 den Abschluss einer rechtegültigen Ehe anzeigen will“ (Fischer 1994, 262). Dies baut beim Leser Spannung auf: Ismael scheint sich – da Hagar potenziell vollgültige Ehefrau Abrahams sein könnte – als der Erstgeborene der Familie entwickeln zu können. Erst der weitere Erzählverlauf wird zeigen, dass nicht er, sondern → Isaak der lang ersehnte Sohn Abrahams sein wird. Freilich bleibt es beachtenswert, dass hier im Rückblick Verstoßungs- und Ehethematik dicht zusammengerückt werden.

Gen 16 und Gen 21,8-21 bilden keine überlieferungsgeschichtlichen Dubletten (anders Westermann, 1981, 414), sondern einen literarischen Rahmen um die Erzählung von der Ankündigung und Geburt Isaaks (Gen 17,1-21,7; Coats, 1983, 13; Deurloo, 1994, 107-109). Die rahmenden Texte verweisen über die gedoppelten Erzählmotive und Erzählelemente aufeinander, setzen aber teils unterschiedliche Akzente: Im Mittelpunkt von Gen 21 steht der Konflikt um das Erbe, nicht wie in Gen 16 die Rivalität der beiden Frauen. Es wird nicht der Status Hagars problematisiert (eine ägyptische Sklavin; vgl. vor allem Gen 16,2.3.4), sondern der ihres Sohnes.

2.3.2. Gen 21. In Gen 21,8-21 wird schließlich die aktive Verstoßung von Hagar und Ismael beschrieben. Diesmal liegt der Fokus ganz auf Ismael, der als Gegenüber zum Verheißungsträger Isaak stilisiert wird, dessen lang ersehnte Geburt gerade zuvor berichtet wurde (Gen 21,1-7; Hensel 2011, 113-121). Als legitimer Erbe Abrahams stellt Ismael immer noch eine potentielle Störung der Nachkommenverheißung dar. Um Isaak als unangefochtenen Verheißungsträger narrativ zu etablieren, rückt die Verstoßung von Mutter und Sohn ganz ins Zentrum und wird hier – im Gegensatz zu Gen 16 – explizit als solche benannt: Sara fordert Abraham auf, Hagar samt Kind aus Land und Familie „zu verstoßen / zu vertreiben“ (Gen 21,10; גרשׁ grš Pi.). Das Gelingen des Verstoßungsaktes wird durch die Betonung, dass Ismael ein eigenes Volk bilden wird, nämlich die Ismaeliter (vgl. Gen 25,13; vgl. auch Ps 83,7; 1Chr 2,17; 1Chr 27,30; Gen 37,25; Gen 39,1; Ri 8,24), unterstrichen. Isaak hat damit die Position Ismaels als Erstgeborener übernommen. Ismael kann diese Verheißungslinie nicht mehr stören. Isaak bleibt im verheißenen Land, Ismael dagegen wohnt nicht im verheißenen Land → Kanaan, sondern im → Negev, südlich davon.

3. Menschen verstoßen Gott

Gelegentlich wird von Verstoßung auch gesprochen, wenn Menschen Gott verstoßen. In der Regel wird dies nur selten von Einzelpersonen ausgesagt. Häufig ist es das „ganze Volk“, Israel wie Juda, die ihren Gott verstoßen haben (z.B. Dtn 31,20; 1Sam 8,7; 1Sam 10,19; 2Kön 17,15; Jer 8,9; Hos 8,3). Mit der Metapher der Verstoßung werden hier diverse kultische und politische Aktionen umschrieben, die als eine Missachtung des Gottes Israels angesehen werden. So können beispielsweise der Abfall von Gott zu fremden Göttern, die Missachtung der Weisungen Gottes oder das Eingehen bestimmter problematischer politischer Bündnisse als Akt der Verstoßung qualifiziert werden.

4. Gott verstößt Menschen

4.1. Gottes Abwendung vom Menschen

Ein Großteil der Belege für das Bedeutungsfeld „Verstoßung“ entfallen nicht auf den zwischenmenschlichen Bereich, sondern gehen von einer aktiven Verstoßung und Ausstoßung durch Gott aus: Gott verstößt Einzelne oder das ganze Volk.

4.1.1. Gott verstößt Einzelne. An einigen Stellen wird in den Klagepsalmen auf die Verstoßung durch Gott hingewiesen, um die Lage des Betenden zu beschreiben: Gott habe ihn verstoßen und scheint sich nicht mehr um ihn zu kümmern bzw. ihm zu helfen. Mithin kann dieses subjektive Empfinden des Betenden in einer vorwurfsvollen Frage formuliert sein: „Warum hast du mich verstoßen?“ (זנח znḥ Qal; etwa Ps 43,2). Der Vorwurf des Betenden beruht darauf, dass er fern vom Gottesdienst ist (Ps 43,4-5) und glaubt, Gott habe ihn verworfen und schließe ihn aus der Gemeinschaft aus (s. auch Ps 88,15).

4.1.2. Gott verstößt sein Volk. Die Klage kann auch von einer Gruppe formuliert werden, so typisch in den vier Volksklagepsalmen Ps 44; Ps 60; Ps 74; Ps 108 (זנח znḥ Qal). Ps 74 deutet beispielsweise die Zerstörung des Tempels in der Weise, dass Gott seinem Volk zürne und es folglich verworfen habe – sichtbar daran, dass er sich nicht um seinen Tempel kümmert. Parallel hierzu wird in Ps 44, Ps 60 und Ps 108 die militärische Niederlage als Zeichen der Verstoßung durch Gott gewertet: er sei nicht mit seinem Volk in den Kampf gezogen und habe das Heer daher seinen Feinden preisgegeben (Ps 44,10; Ps 60,3.12; Ps 108,12). Die Verstoßung bezeichnet in diesen Kontexten höchstwahrscheinlich die völlige und grundsätzliche Abwendung Gottes von seinem Volk.

4.1.3. Gott versprengt sein Volk. Eine besondere Färbung bekommt die Verstoßung durch Gott in jenen Kontexten, die sich des Verbums נדח ndḥ Nif. / Hif. bedient. Der Verstoßungsakt, der mit diesem Verbum umschrieben wird, stellt eine besonders drastische und bilderreiche theologische Deutung des Exils dar: Das Gottesvolk wurde von feindlichen Löwen verstoßen bzw. versprengt (vgl. etwa Jer 50,17; Jer 51,34 נדח ndḥ Hif.). Die eigentliche Tragödie besteht nun darin, dass hinter aller Verstoßung Gottes souveränes Geschichtshandeln gesehen wird, der im Rahmen dieser Belegstellen gerade als „Hirte Israels“ bezeichnet wird, also als derjenige, der die Verstoßenen sammeln sollte. In einer Reihe von Texten aus der Exilsperiode (→ Jeremia, → Ezechiel, → Deuteronomium) kann die wegstoßende und verstoßende Aktion direkt von Gott ausgesagt werden, ohne einen bildlichen Umweg über die „Löwen“ und „wilden Tiere“ zu nehmen, die sonst die „Herde“ versprengen könnten (in der 1. Pers. etwa Ez 4,13; Jer 8,3; Jer 23,3.8; in der 3.Pers. etwa: Dtn 30,1; Jer 16,15; jeweils נדח ndḥ Nif. / Hif.).

4.1.4. Korrelation von göttlicher Verstoßung und menschlichem Handeln. Bei der Verstoßung durch Gott wird allerdings nicht an einen willkürlichen Akt gedacht, den Gott auf Grundlage seiner absoluten Souveränität beliebig vollziehen kann. Der Verstoßung durch Gott geht immer ein deutlich ausgesprochenes Fehlverhalten der Ausgestoßenen voraus. Damit wird die Verstoßung durch Gott als eine angemessene Strafe z.B. für den Abfall zu fremden Göttern oder Missachtung der Weisungen Gottes dargestellt (→ Tun-Ergehen-Zusammenhang).

4.2. Menschliche Existenz zwischen Annahme und Verstoßung (Gen 1-11)

In der Urgeschichte (Gen 1-11) wird gleich zweimal der Aspekt der Verstoßung durch Gott aufgegriffen und damit ein grundlegendes Deuteangebot entfaltet: Die geschöpfliche Wirklichkeit, die conditio humana erscheint im Licht des Ungehorsams vor Gott und der Folge der Verstoßung – nicht als singulärer, in eine mythische Vergangenheit verlegter Akt, sondern als ein Moment, das das menschliche Leben – so der biblische Erzähler – grundsätzlich bestimmt. Nicht umsonst werden diese Erzählungen am „Eingangsportal“ der Schrift erzählt und steuern damit die Leseerwartungen für die auf Gen 1-11 folgenden Texte und Bücher in grundlegender Weise. Die gesamte menschliche Existenz scheint zwischen Gottesgehorsam und Gebotsbruch, zwischen Gottesnähe und Verstoßung „weg vom Angesicht JHWHs“ zu oszillieren.

4.2.1. Verstoßung aus dem Garten Eden (Gen 2,4-3,24)

Als Folge des Gebotsbruchs wird der Mensch am Ende der Erzählung folgerichtig (Gen 3,17-19) durch Gott aus dem Garten „entlassen / weggeschickt / verstoßen“ (Gen 3,23; שׁלח šlḥ Pi.). Die Bedeutung dieses Aktes will Gen 3,22 erhellen: Für den Menschen soll der ungehinderte Zugang zum Lebensbaum versperrt werden, „damit er seine Hand nicht etwa ausstrecke und auch noch von dem Baum des Lebens nehme und esse und ewig lebe!“ (→ Baum des Lebens). Die Verstoßung wird hierbei als Präventionsmaßnahme gedeutet. Über ein Wortspiel im Hebräischen werden dabei Ursache und Folge stärker zusammengebunden: Der Sorge JHWHs vor dem Zugriff auf den Lebensbaum (das „Ausstrecken der Hände“, שׁלח šlḥ Qal) korrespondiert seine Präventionsmaßnahme im folgenden Vers: „er verstieß den Menschen“ (שׁלח šlḥ Pi.). Statt den Garten Eden zu bewahren – was sein ursprünglicher Auftrag war (Gen 2,15) – muss sich der Mensch nun in der (im Akt der Erkenntnis erworbenen) Kulturfähigkeit in einer Welt außerhalb des wundersamen Gartens bewähren, indem er nämlich „den Erdboden bearbeitet.“ (Gen 3,23; vgl. Gen 2,5). Obwohl die Verse Gen 3,22 und Gen 3,23 den Abschluss dieser Verstoßungserzählung bilden könnten, folgt noch eine weitere Bemerkung, die der Sache nach denselben Akt zu beschreiben scheint: „Und er vertrieb (גרשׁ grš Pi.) den Menschen und ließ östlich vom Garten Eden die Kerubim sich lagern.“ (Gen 3, 24). In der Forschung wird dieser Text häufig als Dublette angesehen (zur Problemanzeige s. Arneth 2007, 140-147).

Versteht man allerdings die „erste“ Verstoßung in Gen 3,23 im oben beschriebenen Sinn als Korrelat zu Gen 3,22, so ist die „Vertreibung“ in Gen 3,24 als weitere Deutung dieser Vertreibungsszene zu lesen (Seebass 1996, 132; Deurloo 1999, 56-7; Steck 1982, 18): Die Verse Gen 3,22 und Gen 3,23 beschreiben den Vollzug der angekündigten Sanktion Gen 2,17. Gen 3,24 hingegen beschreibt eine regelrechte Forttreibung durch JHWH: Der Mensch befindet sich hier schon nicht mehr im Garten, sondern außerhalb. Im Osten des Gartens Eden, also am östlichen Ein- und Ausgang, lässt Gott nun → Keruben wohnen, die den Zugang zum Lebensbaum für immer versperren (Gen 3,24b). Das in diesem Vers zur Umschreibung der Verstoßung gebrauchte Verbum גרשׁ grš Pi. wird in seiner Grundbedeutung gebraucht: die Einwohner müssen ein Gebiet verlassen für neue, nachfolgende Bewohner (vgl. etwa Ps 78,55).

4.2.2. Die Verstoßung Kains (Gen 4,1-16)

Die Erzählung über Kain und Abel in Gen 4,1-16 eröffnet mit den Protagonisten aus Gen 2-3, Adam und seiner Frau (Gen 4,1), und schließt mit der Bemerkung, dass die zuvor beschriebenen Ereignisse in unmittelbarer Nähe zum Garten Eden stattfinden, nämlich „östlich von Eden“ (Gen 4,16b). Der bevorstehende Brudermord ist so in das Licht getaucht, das vom Garten Eden her auf die gesamte Szenerie fällt (Gertz 2004, 215-236; van Wolde, 1994, 48; Janowski 2003, 153-154; Witte 1998, 166-171). Die Folge von Kains Brudermord, sowie seiner Weigerung Verantwortung hierfür zu übernehmen, ist, dass er – in Fortführung und Zuspitzung der Vertreibung aus Eden – vom Erdboden vertrieben wird (Gen 4,11, ohne die Terminologie im Hebräischen; Gen 4,14: גרשׁ grš Pi.). Durch diese Verstoßung wird Kain seine Existenz- und Lebensgrundlage entzogen (vgl. Gen 4,12), denn als Zeichen seines Menschseins sollte er jenen Erdboden ja bearbeiten (Gen 4,2: Kain als „Ackerbauer“). Er muss nun „rastlos“ (נוע nw‘ Qal) und „umherirrend“ (נוד nwd Qal) als Vertriebener auf der Erde leben (Gen 4,14). Literarisch wird diese neue Existenz Kains über ein Wortspiel ironisch aufgenommen: Kain muss sich festigen, wohnhaft werden im „Lande Nod“ (נוֹד nôd) also im „Land der Umherirrung“ (נוד nwd Qal; Gen 4,16). Der lokalen Verstoßung entspricht auch die Verstoßung aus dem Verhältnis zu Gott: Wird die Beziehung zwischen JHWH und Kain schon bei dessen Geburt durch JHWH aufgerichtet („Ich habe einen Sohn bekommen mit Hilfe JHWHs“, Gen 4,1), so wird diese Beziehung über diverse Schritte bis zum Ende durch JHWH selbst wieder abgebrochen bzw. (vgl. Gen 4,15: das Schutzmal des Kain) auf ein Minimum reduziert. Kain muss in Zukunft sein Angesicht vor JHWH verbergen (Gen 4,14).

4.3. Die Deutung der Katastrophen von 722 und 597/587 v. Chr. als Verstoßung

Die Angemessenheit seiner Verstoßung gilt für Israel besonders im Bereich der Katastrophen von 722 und 597/587 v. Chr. (→ Zerstörung Jerusalems). Häufig findet sich die Metapher der „Verstoßung“ in jenen Texten, die den Untergang von Nord- und Südreich theologisch reflektieren (vgl. etwa 2Kön 17,20; 2Kön 23,27; Jer 6,30; Jer 7,15; Jer 29,14; Hos 9,17; Ps 78,59; Klgl 3,45; Klgl 5,22): Gott hat sein Volk verstoßen, da dieses zuvor ihn verstoßen habe. Das gesamte semantische wie bildliche und metaphorische Spektrum der Verstoßungsakte kann hierbei ausgeschöpft werden. Gerade die geschichtstheologische Bilanz, die die deuteronomistische Geschichtsdarstellung (→ Deuteronomistisches Geschichtswerk; → Deuteronomismus; → Geschichtsschreibung) vom Untergang Israels gezogen hat, veranschaulicht besonders demonstrativ die Wechselbeziehung der menschlichen wie der göttlichen Seite der „Verstoßung“ (Wagner 1984, 622-623; Hieke 2009, 411-412).

Prägnant ist der metaphorische Gebrauch der Verstoßungsvorstellungen im Kontext der sog. „Ehemetaphorik“ (Baumann 2000.2003) innerhalb der prophetischen Literatur. Hier kann die Beziehung Gottes zu seinem Volk Israel als Beziehung zwischen Mann und Frau beschrieben werden, die eine Ehe bzw. ein ehe-ähnliches Verhältnis miteinander eingehen (→ Ehe: „5. Ehe als Bild des Verhältnisses von JHWH und Israel“; ausführlich Kelle 2005; Baumann 2000). Nach Ez 23,1-4 sind beispielsweise die beiden Häuser Israels als die zwei Frauen JHWHs dargestellt (Greenberg 2005, 99-111). Weitere prominente Texte hierfür sind Hos 1-3; Ez 16; Ez 23; Jes 62,4-5 und Jer 2-3.

Die „Ehemetaphorik“ dient häufig dazu, einen Schuldaufweis für Israel und Juda Angesichts des Unterganges von Nord- und Südreich zu führen: Das Verhältnis zwischen Gott und Volk wird ins Bild einer gescheiterten Ehe gefasst: Der prophetische Vorwurf spricht von Israels „Hurerei“, wohl im Sinne der Verehrung anderer Gottheiten neben Gott oder Bündnisschließung mit den Großmächten Ägypten und Assyrien (Jer 2,18-19; Ez 16,26-28; siehe ausführlicher: → Hure / Hurerei). So klagen die Propheten in Jer 3,6-13; Jer 13,21-27; Ez 16 das als Frau personifizierte Israel bzw. die Stadt Jerusalem der „Hurerei“ an. Die legitime Rechtsfolge des Ehebruchs war die Möglichkeit, dass der Ehemann seine Frau verstoßen konnte (Kap. 2.2.). Appliziert auf das Verhältnis von JHWH und Israel konnte so erklärt werden, warum Gott augenscheinlich sein Volk verstoßen hat: In Hos 1-3 ist JHWH als Ehemann sowie Versorger Israels vorgestellt. Die Liebe der Frau, d.h. Israels, gelte ihren Liebhabern, von denen sie lieber versorgt werden wolle als von JHWH. Wegen dieses Ehebruchs kündigt JHWH ihr die Beziehung auf (Hos 2,4; Weißflog 2011, 406-409).

5. Heilsvisionen vom Ende der Verstoßung

In Kontexten, in denen das Unheilshandeln Gottes als Verstoßung ausgedeutet wird, können kontrastierende Hoffnungsbilder entfaltet werden, die die Metapher der Verstoßung aufgreifen und in eine heilsame Zukunft wenden. So artikuliert sich in Klgl 3,31 die Hoffnung, dass die Verstoßung durch Gott nicht für immer bestehen bleibt, da Gott selbst diese rückgängig machen kann. In heilsprophetischem Duktus verkündigt Jer 33,24-26, dass Gott die Nachkommen Jakobs und Davids nicht mehr verstoßen wird. Wo sich die Verstoßung im Kontext von Hirtensprache und Hirtenmetaphern artikuliert und an das Bild einer versprengten Herde gedacht ist (häufig mit dem Verbum נדח ndḥ Nif. / Hif.), kann eine Heilsvision kontrastierend auf die Hirtentreue Gottes gegenüber Israel verweisen; so z.B. in Jeremias Brief an die Deportierten von 598 v. Chr. (Jer 29): „Ich werde euch sammeln aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe.“ (Jer 29,14: נדח ndḥ Hif.; vgl. noch Jer 23,3.8; Jer 32,37; Jer 46,28; Dtn 30,1-4, jeweils mit dem Verbum נדח ndḥ Nif. / Hif. umschrieben).

Das zentrale Thema von Jes 52,13-55,17 ist die Restauration Jerusalems und Zions (→ Deuterojesaja). Hier wird unter Aufnahme der Ehemetaphorik in einer bildreichen Heilsvision die Rücknahme der Verstoßung Israels durch JHWH angekündigt (Beuken 1983, 244-276, Berges 2010, 129-132): Stadt und Tempelberg werden als Braut JHWHs und Mutter vieler Kinder inszeniert. Die Bilder wirken umso stärker, da in denselben Texten Jerusalem und Zion als „verstoßen“ (Jes 54,6: מאס m’s Nif.; Jes 50,1: שׁלח šlḥ Pi.) und „kinderlos“ tituliert werden können. Mit der Zusage der Rückholung der verstoßenen Baut und der Etablierung eines erneuten Eheverhältnisse eröffnet sich der reichen Nachkommenschaft – die Rede von ihr entspricht dem Bild von der Ehe – eine neue Zukunft für das Gottesvolk (vgl. Jes 53,10-11). Über die Ankündigung der Zurückholung der verstoßenen Braut wird zugleich auch JHWH wieder als Versorger Israel etabliert (Jes 54,5), denn es ist seine Aufgaben, das verstoßene und zerstreute Volk wieder zu sammeln (Jes 54,7). Nur auf Grundlage dieser Sammlung der Verstoßenen kann Zions Restauration gelingen. Die von Gott verstoßene Stadt soll nicht verstoßen bleiben.

Die Rede von der Verstoßung Israels durch Gott ist nicht nur eine strafende Kategorie des Handelns Gottes. Die Metapher der „Verstoßung durch Gott“ ermöglicht es, in der Katastrophe nicht die Ohnmacht des eigenen Gottes zu sehen. Vielmehr kann durch die Betonung der aktiven Verstoßung des Volks durch Gott selbst herausgestellt werden, dass Gott wirkmächtig in der Geschichte handelt. Die Vorstellung von Gottes Strafgerechtigkeit gegen sein eigenes Volk ist dann zugleich die rettende Kategorie, um die geschichtliche Katastrophe der Exilszeit zu begreifen, ohne an der Wirkmächtigkeit Gottes zu verzweifeln. Denn immerhin konnte so der Untergang des Kultes, sowie der Kultur in Israel als Verstoßung des eigenen Gottes verstanden werden und nicht als Sieg der babylonischen Götter über diesen. Das als Verstoßung beschriebene Gerichtshandeln Gottes wird damit an seine Verpflichtung zur Gerechtigkeit zurückgebunden.

6. Verstoßungserzählungen im Kontext der Definition „Israels“ (Genesis)

Verstoßungserzählungen und Verstoßungsmotive treten in der Genesis in thematisch verdichteter und charakteristischer Weise auf. Man kann das genealogische System der Genesis (insbesondere die Toledot-Formeln) als Grundstruktur verstehen, die sich als tragendes Gerüst der narrativen Entwicklung erweist (→ Genealogie). Im Erzählfortschritt ergibt sich von den Genealogien her eine trichterförmige Fokussierung von der Schöpfung und der Menschheit hin zu dem einen Volk unter den vielen Völkern, welches sich wiederum in zwölf Stämme ausdifferenziert. Innerhalb dieses genealogischen Verweissystems nimmt der natürliche Erstgeborene die entscheidende Sonderrolle ein. Nur über ihn wird der väterliche wie göttliche Segen, und damit letztlich die Verheißungslinie, weitergetragen. Begleitet von vielen Nebenthemen wird so innerhalb des genealogischen Systems Schritt für Schritt die Sonderrolle Israels gegenüber den Völkern näher bestimmt (Crüsemann 1998; Hieke 2003; Hensel 2011).

Innerhalb dieser narrativ-theologischen Entfaltung der Sonderrolle Israels unter den Völkern kommt den Verstoßungsakten eine konzeptionell grundlegende Bedeutung zu: Die Sonderrolle der genealogischen Hauptlinie „Israel“ wird gerade nicht über die Sonderrolle des natürlichen Erstgeborenen definiert. Der natürliche Erstgeborene der „Israel“-Linie ist selten der Träger des Erstgeburtssegens. Vielmehr wird der Erstgeborene regelmäßig (genau zwölfmal) in einem komplexen Prozess aus eigenem Fehlverhalten, zwischenmenschlichem Versagen und göttlich souveränem Geschichtshandeln verstoßen. Die Verheißungslinie läuft gerade nicht über die Linie der natürlichen Erstgeborenen → Kain, → Ham, Joktan, Elam, Haran, → Ismael, → Esau und Ruben, sondern vielmehr über diejenigen Nachgeborenen, die den verstoßenen Geschwistern folgen: über Set, Sem, Peleg, Aram (→ Völkertafel, Gen 10), → Abraham, → Isaak, → Jakob und → Juda bzw. → Joseph. Die Gründe dieser Verstoßungen sind regelmäßig literarisch ausgearbeitet: Kain (Gen 4); Ham (Gen 9,18-27), Haran (Gen 11,27-32) bzw. Lot (Gen 12-13), Esau (Gen 25-27) sowie Ruben, Simeon und → Levi (Gen 34-35; Gen 37) scheiden eigenverantwortlich durch ihr Fehlverhalten als potentielle Erstlinge aus. Dem Fehlverhalten der Verstoßenen korrespondiert das qualifizierende, eigenverantwortliche Handeln der jüngeren Brüder. Der von Gott erwählte Erstling muss sich folglich erst als solcher gegenüber seinem verstoßenen Bruder erweisen. In der Gesamtschau des Erzählduktus wird freilich auch deutlich, dass Verstoßung und Erwählung letztlich durchgängig auf einen göttlichen Akt zurückzuführen sind. Gottes souveränes Handeln legitimiert den jüngeren Bruder als Erwählten und qualifiziert den natürlichen Erstgeborenen als Verstoßenen, der daher aus der genealogischen Hauptlinie „Israel“ ausgestoßen wird. Über dieses Wechselspiel von Verstoßung und Erwählung wird ein grundlegendes Kriterium entfaltet, das geeignet ist, die theologische (nicht politische oder gar realgeschichtliche) Größe „Israel“ von den übrigen Völkern zu unterscheiden und so eine Identitätsbestimmung Israels zu gewährleisten. Verstoßungs- und Erwählungsakte konstituieren, profilieren, und legitimieren die Sonderrolle Israels unter den Völkern (Hensel 2011, 270-272).

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