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(erstellt: März 2009)

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1. Nasiräer im Alten Testament

Der Begriff Nasiräer (hebr. נזיר) ist von der Wurzel nzr (נזר) abgeleitet, die die Grundbedeutung „dem üblichen Gebrauch entziehen / aussondern“ hat. Ein Nasiräer war auf Dauer oder für eine bestimmte Zeit Gott geweiht. Herkunft und Geschichte der Institution lassen sich im Einzelnen nicht mehr ermitteln, da sie im Alten Testament nur selten belegt ist (Ri 13; Ri 16,17; 1Sam 1,11; Am 2,11f; Num 6,1-21). Ein Nasiräer durfte sein Haupthaar nicht scheren und musste auf Wein oder Rauschtrank verzichten. Während den Priestern nur während ihres Dienstes am Heiligtum der Genuss von Alkohol untersagt war (Lev 10,9; Ez 44,21), war er dem Nasiräer zu jeder Zeit verboten, weil sein Dienst darin bestand, dass er als Gottgeweihter lebte. Gelegentlich wird angenommen, dass für ihn ursprünglich nur das Alkoholverbot galt (Römheld, 45f; Schwienhorst-Schönberger, 901f), aber sein langes Haupthaar war m.E. schon immer das äußere Merkmal seiner Weihe. Eine bestimmte Funktion war mit ihr nicht verbunden.

Das Nasiräat galt wahrscheinlich ursprünglich auf Dauer. Dafür spricht, dass in Am 2,11f Nasiräer neben Propheten erwähnt werden. Der Abschnitt Am 2,9-12 stammt von der deuteronomistischen Bearbeitung der → Amos-Überlieferung. Für sie erinnerten die Propheten durch ihre Verkündigung und die Nasiräer durch ihren Verzicht auf Wein an die Heilstaten JHWHs bei der Befreiung Israels aus Ägypten und der Führung in der Wüste (vgl. Am 2,10), aber die Israeliten wollten diese Erinnerung verhindern (Am 2,12). Hier wird vorausgesetzt, dass Nasiräer an ihrem langen Haupthaar erkannt wurden.

Nach Ri 13; Ri 16,17aβ war → Simson ein Nasiräer von Mutterleib an. Zumindest ein Grundbestand der Erzählung in Ri 13,2ff und Ri 16,17aβ stammen von demselben Verfasser (anders z.B. Römheld, 44f). In Ri 13 ist zwar v5aα mit dem Verbot, dass kein Schermesser auf das Haupt des Kindes kommen soll, ein Zusatz (vgl. v7 und Römheld, 43ff), aber die Anweisung an die Mutter, keinen Alkohol zu trinken und nichts Unreines zu essen, wurde schon im Grundbestand damit begründet, dass der Knabe „ein Nasiräer Gottes“ sein wird (Ri 13,5aβ.7). Dabei handelt es sich um eine spätere Deutung Simsons, die aus der Delila-Erzählung (Ri 16,4ff) entwickelt wurde. Nach ihr waren im Unterschied zu den älteren Simson-Überlieferungen in Ri 14f.* die langen Haare Simsons die Quelle seiner Kraft. Da die Nasiräer ihr Haupthaar wachsen ließen, wurde Simson durch die Einfügung von Ri 16,17aβ und die Erzählung in Ri 13,2ff zu einem Nasiräer. In dem → Gelübde der → Hanna 1Sam 1,11 ist ihr Versprechen (v11bβ), dass kein Schermesser auf das Haupt des erbetenen Knaben kommen wird, ein Zusatz, mit dem in Anlehnung an den Nasiräer Simson betont wurde, dass das Kind JHWH gehören wird.

In nachexilischer Zeit konnten sich Männer und Frauen durch ein Gelübde zu einem zeitweisen Nasiräat verpflichten. Das Nasiräer-Gesetz in Num 6,1-21 hat drei Teile: Grundbestimmungen (Num 6,2b-8), Verunreinigung durch einen plötzlichen Todesfall (Num 6,9-12), Beendigung des Nasiräats (Num 6,13-21). Die ursprünglich für einen Nasiräer geltenden Vorschriften werden in Num 6,2b-8 erheblich verschärft. Er muss auf alle Produkte des Weinstocks verzichten (v3f) und jeden Kontakt mit Toten, auch den Leichen seiner nächsten Angehörigen, meiden (v6f). Die Verunreinigung an verstorbenen Familienangehörigen war nur noch dem Hohepriester untersagt (Lev 21,11). Nach Num 6,9-12 musste der Nasiräer bei Verunreinigung durch einen plötzlichen Todesfall die Mindestopfer einer Frau nach einer Geburt (Lev 12,8) bzw. die für Verunreinigung durch Ausflüsse vorgeschriebenen Opfer (Lev 15,14f.29f) darbringen (das Schuldopfer in Num 6,12aβ ist ein Zusatz). Danach begann das Nasiräat von Neuem, ohne dass die bisherige Zeit angerechnet wurde. Das Nasiräaer-Gesetz endete ursprünglich mit Num 6,13a*. Später wurde durch Num 6,13b-21 das Ende des Nasiräats mit dem Kult verknüpft. Durch das befristete Nasiräat erhielten Laien die Möglichkeit, zeitweise heilig zu sein (Num 6,5b.8), wie es die Priester durch ihr Amt lebenslang waren (vgl. z.B. Lev 21,6). Das Nasiräer-Gelübde enthielt ursprünglich keine Bedingung, die Gott zu erfüllen hatte (anders Cartledge). Später wurde aber das Nasiräat auch für die Errettung aus Not gelobt. Außerdem wurde seine Dauer auf mindestens 30 Tage festgelegt.

Der Begriff „Nasiräer“ wird im Jakob- und → Mosesegen in den beiden Stammessprüchen über → Josef (Gen 49,22-26; Dtn 33,13-17) in übertragenem Sinn für einen Menschen mit einer besonderen Beziehung zu Gott gebraucht. Danach war Josef „der Geweihte (נזיר) seiner Brüder“ (Gen 49,26; Dtn 33,16). Damit wurde zunächst in Dtn 33,16 die Sonderstellung Josefs in der Josefsgeschichte (Gen 37; Gen 39-50) aufgegriffen. Gen 49,25f ist im Jakobsegen ein Nachtrag, in dem Dtn 33,13-16 abgewandelt wurde. In Klgl 4,7 ist „ihre Nasiräer“ (נזיריה) in „ihre jungen Männer“ (נעריה) zu ändern.

2. Nasiräer im Neuen Testament

Nach Apg 21,23f.26 übernahm Paulus für vier Männer die Kosten für das Ende ihres Nasiräats (vgl. Num 6,13ff), um seine Treue zum Gesetz zu zeigen. Das galt im Judentum damals als verdienstliches Werk. Umstritten ist, ob sich Apg 18,18 auf ein Nasiräer-Gelübde des Paulus bezieht. Dagegen spricht, dass ein Nasiräat nur am Jerusalemer Tempel beendet werden konnte. Andererseits ist das Gelübde, seine Haare wachsen zu lassen, für ein Nasiräer-Gelübde charakteristisch. In der Verheißung der Geburt Johannes des Täufers in Lk 1,8ff wird bei der Ankündigung, dass der Sohn nicht Wein und Rauschtrank trinken wird (Lk 1,15), das Alkoholverbot für die Mutter Simsons (Ri 13,4.7.14) abgewandelt. Der Verzicht auf Alkohol weist hier nicht auf ein Nasiräat, sondern auf die besondere Nähe von Johannes zu Gott hin (vgl. Wolter, 78f).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, 6. Aufl., München / Zürich 2004
  • Neues Bibel-Lexikon, Zürich u.a. 1991-2001
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. 1993-2001
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998-2007
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Cartledge, T.W., 1989, Were Nazirite Vows Unconditional?, CBQ 51, 409-422
  • Chepey, S., 2005, Nazirites in Late Second Temple Judaism (AGSU 60), Leiden / Boston
  • Kellermann, D., 1970, Die Priesterschrift von Numeri 1,1 bis 10,10 (BZAW 120), Berlin
  • Römheld, K.F.D., 1992, Von den Quellen der Kraft (Jdc 13), ZAW 104, 28-52
  • Schwienhorst-Schönberger, L., 1995, Art. Nasiräer, NBL II, 901-902
  • Wolter, M., 2008, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen
  • Zuckschwert, E., 1976, Zur literarischen Vorgeschichte des priesterlichen Nazir-Gesetzes (Num 6,1-8), ZAW 88, 191-205

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