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Semitische Sprachen

(erstellt: August 2016)

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1. Einführung

1.1. Die semitische Sprachfamilie

Semitische Sprachen sind Sprachen einer Sprachfamilie innerhalb der afroasiatischen Makrofamilie. Sie stammen von einer Ursprache ab, die als „Proto-“ oder „Ursemitisch“ bezeichnet wird, und weisen Ähnlichkeiten in Grammatik und Lexikon auf. Sprachtypologisch gesehen, gehören die semitischen Sprachen zu flektierenden Sprachen, also zu Sprachen, in denen Veränderung der grammatischen Merkmale bzw. der grammatischen Funktion der Wörter durch Hinzufügung von Affixen und durch Ablaut stattfindet. Die semitische Sprachfamilie ist die älteste belegte Sprachgruppe, deren Sprachen heute gesprochen werden.

Die Bezeichnung „Afroasiatisch“ wird heute bevorzugt vor der älteren Bezeichnung „Semito-hamitisch“ verwendet. Die Letztere wurde am Ende des 18. Jh.s geprägt (vgl. Baasten 2003) und sie orientierte sich an den Gruppierungen der Völker in der biblischen → Völkertafel (Gen 10,21-31; Gen 11,10-26). Allerdings ordnet die Völkertafel auch Elamiter und Lydier (Gen 10,22), deren Sprachen nicht semitisch sind, dem eponymen Stammvater Schem zu. Die Bezeichnung „afroasiatisch“ entstand als ein Resultat der vergleichenden linguistischen Arbeit, die die inneren Beziehungen zwischen den vielen Sprachen dieser Makrofamilie aufzeigte. Diese Bezeichnung wird heute nur im linguistischen Sinne verwendet, da bis jetzt kein gemeinsamer kultureller Hintergrund der Sprecher der semitischen Sprachen rekonstruiert werden konnte (Streck 2009-2011, 386f.).

Das ursprüngliche Verbreitungsareal der semitischen Sprachen war Vorder- bzw. Westasien. Mit den afrikanischen Sprachen innerhalb des Afroasiatischen sind die Mitglieder folgender im Nordafrika lokalisierten Zweige gemeint: Ägyptisch, Berberisch, Kuschitisch und Tschadisch. Die Verbreitung der semitischen Sprachen in Afrika ist durch Migrationen bedingt.

1.2. Merkmale semitischer Sprachen

Die semitischen Sprachen weisen folgende eigentümliche Merkmale auf. 1. In der Phonologie: Eine hohe Anzahl an Kehllauten (sogenannte „Laryngale“) und glottalisierten Lauten (sogenannte „emphatische Laute“). 2. In der Morphologie: Morphologische Kategorien am Nomen und Verb werden durch Hinzufügung von Affixen und durch vokalischen Ablaut (Apophonie) ausgedrückt, und der (meistens) dreikonsonantige Wurzelstamm, auch „Basis“ genannt, der lexikalische Information trägt, bleibt bei der Flexion und Deklination unverändert. 3. In der Syntax: Die Verb-Subjekt-Objekt-Stellung (sie kann durch Sprachentwicklung und Sub- und Adstratwirkung zugunsten der SVO-Stellung verändert werden); Häufigkeit von parataktischen und asyndetischen Konstruktionen.

1.3. Bedeutung der semitischen Sprachen

Die Bedeutung der semitischen Sprachen für die Bibelwissenschaft ist durch folgende Tatsachen gegeben:

1. Die Hebräische Bibel / das Alte Testament wurde auf Hebräisch und Aramäisch verfasst.

2. Die Lexik und die Syntax des Neuen Testaments sind stark beeinflusst durch hebräischen und aramäischen Substrat (vgl. Beyer 1962). Gleiches gilt für die → Septuaginta.

3. Es gibt antike Bibelübersetzungen in semitische Sprachen (aramäische Targume, die syrische Peschitta, äthiopische und arabische Bibelübersetzungen).

4. Die alttestamentliche Geschichte und Religionsgeschichte lief auf dem Hintergrund der Geschichte und Religionsgeschichte anderer Völker ab, die semitische Sprachen und Dialekte sprachen.

Die alten semitischen Sprachen und Texte in diesen Sprachen haben zudem eine große Bedeutung für die Kultur- und Religionsgeschichte der Weltzivilisation, da viele kulturelle, religiöse, politische und technische Errungenschaften des Alten Orients und der alten semitischsprachigen Völker über die Hebräische Bibel und über andere in Antike und Mittelalter übersetzte Literatur Eingang in das europäische Kulturgut fanden. Viele der in europäischen Sprachen gebräuchlichen Lehnwörter, Wendungen, Sprachbilder, Eigennamen und Weltdeutungsmuster kommen aus dem Kulturkreis der semitischsprachigen Völker (vgl. z.B. von Dobschütz 1914 und Sivan 1973). Als die wichtigsten Entlehnungen können das Alphabet, die Idee des Monotheismus, die Bibel und das Konzept der Buchreligion genannt werden.

1.4. Antike und moderne semitische Sprachen

Ein besonderes Merkmal der semitischen Sprachfamilie ist eine relativ hohe Anzahl der bezeugten ausgestorbenen Sprachen, was durch die Tatsache erklärt wird, dass die semitischsprachigen Völker sehr früh verschiedene Schriftsysteme entwickelt oder übernommen haben: die mesopotamische syllabische Keilschrift für das Akkadische, keilschriftliches Alphabet der nordkanaanäischen Mittelmeerküste für das Ugaritische, lineares Alphabet in nord- und südsemitischer Tradition für zentralsemitische bzw. für altsüdarabische und äthiopische Sprachen.

Während für die Bibelwissenschaft nur die alten bzw. toten semitischen Sprachen von Bedeutung zu sein scheinen, bilden moderne semitische Sprachen mit einigen Hundert Millionen Sprechern eine große Sprachfamilie. Zu den heute gesprochenen semitischen Sprachen gehören: arabische Dialekte inklusive Maltesisch, neuwest- und neuostaramäische Dialekte, Neuhebräisch (Iwrit), äthiosemitische und neusüdarabische Sprachen (s.u. 2.3.).

Die Anzahl der Sprecher moderner semitischer Sprachen wird unterschiedlich angegeben: „mehr als 200 Millionen“ (Lipiński 1997, 23), „mehr als 370 Millionen“ (Belova u.a. 2009, 20); „mehr als 500 Millionen“ (http://aboutworldlanguages.com/semitic-branch). Nach Huehenergard (2011, 2067) wird Arabisch gesprochen „in wide variety of dialects by nearly 200 million people“. All diese Angaben sind ungenau. Versucht man die Sprecher des Arabischen in den Ländern zu ermitteln, in denen Arabisch als die einzige Amtssprache gilt, kommt man auf ca. 330 Millionen Personen (nach den Bevölkerungszahlen, die in Wikipedia angegeben sind). Die Seite http://www.ethnologue.com/language/arb gibt die Anzahl der Arabischsprecher mit 206 Millionen an. Zählt man auch Personen, die semitische Sprachen als Zweit- oder Fremdsprache sprechen, kommt man auf über 570 Millionen Sprecher, denn allein die Zahl dieser Sprecher fürs Arabische wird mit 246 Millionen angegeben (Artikel „Arabische Sprache“ von Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Arabische_Sprache#cite_note-Sprecher-1).

Moderne aramäische und arabische Dialekte sowie Ivrit erfahren einen starken lexikalischen Einfluss der indoeuropäischen Sprachen, was viel Material sowohl für linguistische als auch kulturwissenschaftliche Untersuchungen darstellt.

2. Übersicht über die semitischen Sprachen

Die gängigen sprachwissenschaftlichen Einteilungen der semitischen Sprachen erfolgen nach dem linguistischen Verwandtschaftsgrad zwischen den Sprachen und nehmen die geographische Distribution der Sprachen als Grundmuster der Einteilung. Es werden drei Zweige unterschieden: Ostsemitisch, Westsemitisch und Südsemitisch. Allerdings kann das Baummodel nicht alle gemeinsamen bzw. kontrastiven Merkmale der einzelnen Sprachen adäquat abbilden. Daher wird heute neben dem Baummodel das Wellenmodel erwogen, das Isoglossen und Veränderungen von Sprachmerkmalen durch wellenähnliche Verbreitung von neuen grammatischen Formen erklärt (Huehnergard / Rubin 2011).

2.1. Ostsemitischer Zweig

Das Ostsemitische ist durch nur eine Sprache, nämlich das Akkadische, die älteste belegte semitische Sprache, vertreten (ab Mitte des 3. Jt.s v. Chr. bis erste Jahrhunderte der neuen Ära). Akkadisch wird unterteilt in assyrische und babylonische Dialekte, die entsprechend im Norden (→ Assyrien) und Süden (→ Babylonien) Mesopotamiens gesprochen wurden (Kouwenberg 2011). Die Sprache der Texte aus der Nordsyrischen Stadt → Ebla (Ende des 3. Jt.s v. Chr.) wird entweder als ein Dialekt des Akkadischen oder als eine eigenständige ostsemitische Sprache angesehen. Der Umfang des belegten akkadischen Sprachkorpus wird auf ca. 9.900.000 Wörter geschätzt (Streck 2010, 54). Es steht somit unter den Korpora antiker (bis ca. 300 n. Chr.) Sprachen an dritter Stelle nach dem des Griechischen und des Lateinischen und reicht an die Größe des Letzteren heran (a.a.O.; vgl. Peust 2000, 254).

2.2. West-/Zentralsemitischer Zweig

Zum westsemitischen Zweig gehören alle anderen Sprachen, die weiter in zentral- und südsemitische Gruppe eingeteilt werden. Der westsemitische Zweig wird auch „Zentralsemitisch“ genannt und dem Südsemitischen gegenübergestellt.

Die zentralsemitische Gruppe vereint neben dem Amurritischen und Ugaritischen die drei Untergruppen Arabisch, Aramäisch und Kanaanäisch.

Zu den kanaanäischen Sprachen werden gezählt die eng untereinander verwandten Sprachen Ammonitisch, Edomitisch, → Hebräisch, Moabitisch, Phönizisch und Punisch.

Das → Aramäisch ist vertreten durch mehrere Sprachstufen und Dialekte: Altaramäisch, Reichsaramäisch, in dem auch Teile der biblischen Bücher → Daniel und → Esra verfasst sind, jüdisches, christlich-palästinisches und samaritanisches Aramäisch, Nabatäisch, Palmyrenisch, Syrisch, Mandäisch sowie moderne neu-west- und -ost-aramäische Dialekte.

Arabisch wird unterteilt ins Altsüdarabische, Altnordarabische, Klassisches und Modernes Arabisch. Das Altsüdarabische vereint vier Dialekte Sabäisch, Minäisch, Qatabanisch und Ḥaḍramitisch, die im Süden der Arabischen Halbinsel von Anfang des 1. Jt.s v. Chr. bis zum Aufkommen des Islam gesprochen wurden (Stein 2011). Das Altnordarabische, das ca. zwischen dem 8. Jh. v. Chr. und dem 4. Jh. n. Chr. im Norden der Arabischen Halbinsel gesprochen wurde, wird in regionale Gruppen Taymanisch (→ Tema), Dumatisch, Dadanitisch (→ Dedan), Hismaisch und Thamudisch unterteilt (Hayajneh 2011). Das Klassische Arabisch ist die Sprache des Qur’ans und der islamischen Kultur des Mittelalters. Die gesprochenen arabischen Dialekte der Gegenwart werden in die der Arabischen Halbinsel (Watson 2011b), der Levante (Naïm 2011), Mesopotamiens (Talay 2011), Ägyptens und des Sudan (Dickins 2011) sowie Nordafrikas (Pereira 2011) unterteilt (vgl. Watson 2011a).

Während die älteren Studien die semitischen Sprachen Äthiopiens zum südsemitischen Zweig stellten, zeigen neuere Untersuchungen der lexikalischen Isoglossen, dass Äthiosemitisch näher zum Zentralsemitischen als zum Südsemitischen gehört (Kogan 2015:599, 601). Äthiosemitische Sprachen sind Amharisch, Argobba, Ge‘ez, Gurage, Harari, Tigre und Tigrinya (s. Literatur in Weninger 2011a, 1142-1265). Ge‘ez, die älteste äthiosemitische Sprache, wird nur noch als die Sprache der Äthiopischen Kirche sowie der äthiopischen Juden (Betä ’Esra’el oder Fälaša) verwendet (Weninger 2011b, 1125).

2.3. Südsemitischer Zweig

Zum südlichen Zweig der semitischen Sprachen werden gezählt die neusüdarabischen Sprachen Bathari, Dschibbali, Harsusi, Hobyot, Mehri und Soqotri. Soqotri ist die Sprache der jemenitischen Insel Soqotra. Bathari, Dschibbali und Harsusi werden im Oman gesprochen, Hobyot und Mehri im Jemen und Oman (Simeone-Senelle 2011, 1074f.). Die schriftliche Aufnahme der südsemitischen Sprachen fing erst in der Moderne an. Ein Schriftsystem für Soqotri wurde 2015 eingeführt (http://www.aljazeera.com/indepth/features/2015/03/...).

Von den westsemitischen Sprachen sind alle ausgestorben außer modernen arabischen und aramäischen Dialekten sowie dem modernen Hebräisch. Die Schriftdenkmäler der antiken semitischen Sprachen haben große Bedeutung für die semitische Sprachwissenschaft, deren Ergebnisse auch für Hebraistik, Bibelwissenschaft und die altorientalische Geschichte von höchster Bedeutung sind. Denn die vorderorientalischen Zivilisationen und Kulturen haben eine außerordentlich große Menge von Schriftdokumenten hinterlassen, die – wenn sie ausgegraben, gelesen, übersetzt und kommentiert werden – eine Fülle von Informationen über alle Aspekte des Lebens und der Geschichte der Region liefern. Dieser Reichtum an Texten und Informationen hat für die frühgeschichtliche und antike Zeit in keiner anderen Gegend der Welt seinesgleichen.

Literaturverzeichnis

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