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Andere Schreibweise: Murašû; Murashu

(erstellt: Dezember 2018)

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Die Familie Muraschu besaß im 5. Jh. v. Chr. ein großes Geschäfts- und Bankunternehmen mit Sitz in → Nippur in → Babylonien. In den 1893 gefundenen Geschäftsunterlagen finden sich unter den viele Personennamen auch solche, die den Gottesnamen Jhwh beinhalten, z.B. → Jonatan (→ Name / Namensbildung). Sie deuten darauf, dass hier Menschen judäischer Herkunft, vermutlich Nachfahren der Deportierten von 587 v. Chr. (→ Zerstörung Jerusalems; → Exil) lebten, die sich ganz an die Verhältnisse in ihrer neuen Heimat assimiliert hatten.

1. Einleitung

Bei einer Grabung in Nippur, dem heutigen Nuffar (Irak; Koordinaten: N 32° 07' 39'', E 45° 13' 37'') – ca. 180 km südsüdöstlich von Bagdad gelegen – wurden im Jahr 1893 unter Leitung der University of Pennsylvania mehr als 800 Tontafeln und Fragmente zutage gefördert, die gegenwärtig auf unterschiedliche Museumssammlungen verteilt sind (Berkeley, Istanbul, Jena, London, Philadelphia). Die Tontafeln enthalten überwiegend keilschriftlichen Text; einige Epigraphe sind in aramäischer Sprache verfasst. Nach Auskunft der keilschriftlichen Überlieferung waren die gefundenen Tontafeln Bestandteil eines Archivs, in dem sich auch auf Leder verfasste aramäische Texte befunden haben sollen. Jene Texte allerdings haben sich nicht direkt erhalten, sondern sind lediglich indirekt durch Tonsiegel belegt (vgl. Stolper, 1997). Insgesamt geben die Textzeugen Aufschluss über die wirtschaftlichen Aktivitäten einer Familie aus Nippur, der Familie Muraschu.

2. Das Unternehmen

Die Aktivitäten des Eponymos „Muraschu“ sind in den Textfunden nur indirekt bezeugt und legen eine Datierung seiner Wirkzeit zu Beginn des 5. Jh. v. Chr. in die Regierungszeit Dareios’ I. nahe. Direkte Textzeugen finden sich für den Zeitraum von etwa 454-404 v. Chr., d.h. von der Regierungszeit Artaxerxes’ I. bis in das erste Herrschaftsjahr von Artaxerxes II. Die Mehrzahl der Tontafeln bezeugt als Hauptakteure auf Seiten der Familie Muraschu Enlil-šum-iddin, den Sohn Muraschus, sowie Rīmūt-Ninurta, den Enkel Muraschus und Neffen Enlil-šum-iddins. Der Zeitraum, in dem Enlil-šum-iddin bzw. Rīmūt-Ninurta sukzessive die Geschäftsführung innehatten, erstreckt sich vom Ende der Regierungszeit des Artaxerxes I. bis in die früheren Regierungsjahre Dareios’ II., d.h. von ca. 440-416 v. Chr. (vgl. Stolper, 1997; Joannès, 1995). Für den anschließenden Zeitraum (ca. 413-404 v. Chr.) kann als Hauptakteur Arsames (Aršâma*) – ein achämenidischer Prinz (mār bīti) und wohl Satrap von Ägypten – angenommen werden, der durch seinen Vertreter (paqdu) Ellil-suppê-muḫur repräsentiert wird (vgl. Cardascia; Stolper, 1997). Das Verhältnis des Arsames zur Familie Muraschu ist nicht letztlich geklärt „Le seul point douteux est de savoir s’il est lui-même un descendant des Murašû ou simplement un acquéreur de l’entreprise“ (Cardascia, 11). Rätsel gibt ferner das abrupte Ende der Geschäftsdokumentation auf, das auf dem Zufall der Überlieferung beruhen mag, aber auch das Ende des Familienunternehmens implizieren könnte (vgl. Joannès, 1995).

3. Die Geschäftstätigkeit

Die überwiegende Mehrzahl der gefundenen Dokumente wurde in Nippur bzw. umliegenden Ortschaften verfasst. Einige Vertragstexte wurden von Mitarbeitern in Babylon und Susa aufgesetzt. Erwähnungen von ca. 180 Ortschaften sind belegt, die sich um sechs große Kanäle bzw. Flüsse gruppieren und insgesamt einen Aktionsradius der Familie Muraschu und ihrer Mitarbeiter von ca. 100 x 100 km nahelegen (vgl. Cardascia; Stolper, 1997).

Inhaltlich belegen die Dokumente vor allem ein Engagement der Muraschus in zwei Geschäftsbereichen: Landwirtschaft und Geldverleih. Das Engagement im Bereich der Landwirtschaft spiegelt sich insbesondere in Pachtverträgen, Unterverpachtungsverträgen sowie Quittungen über Pacht- und Steuereinnahmen. Ihnen kann entnommen werden, dass ein Großteil des von den Muraschus verwalteten Grund und Bodens im Besitz der persischen Regierung stand und von der Regierung in Teilen an Untergruppen entlehnt worden ist. So wurde u.a. Grundbesitz an Militärangehörige und ihre Familien entlehnt, dessen Bewirtschaftung den Lebensunterhalt und die militärische Ausstattung sichern sollte, dessen Vergabe zugleich aber mit der Abgabe von Steuern und militärischer Beihilfe im Kriegsfall verbunden war (vgl. Stolper, 1997; Joannès, 1995).

Aus den Dokumenten des Muraschu-Archivs geht hervor, dass Angehörige der Familie Muraschu Grundbesitz bzw. landwirtschaftliche Nutzungsrechte von der persischen Regierung oder von Lehnsbesitzern durch Pacht, Kauf, Mandat oder Schuldbriefe erworben haben. Den so erworbenen Besitz haben die Muraschus sodann ihrerseits verpachtet – und zwar im Verbund mit weiteren Aktiva wie Saatgut, landwirtschaftlichem Gerät oder Zugtieren zur Bewirtschaftung des Bodens (vgl. Stolper, 1997; Joannès, 1995). Über die Verpachtung von landwirtschaftlicher Nutzfläche und beweglichen Vermögenswerten hat das Familienunternehmen beträchtliche Einkünfte erzielt, die hauptsächlich in Form von Rohstoffen umgesetzt wurden. Da das Unternehmen seinen eigenen Verpflichtungen, nämlich Zahlung von Pachtbeträgen und Steuern, überwiegend durch Überlassung von Silber nachkam, ist anzunehmen, dass die landwirtschaftlichen Erträge gegen Geldwert veräußert wurden. Direkte Hinweise auf derartige Handelsumsätze finden sich in den Dokumenten allerdings nicht (vgl. Stolper, 1997).

Der zweite Geschäftsbereich, der Geldverleih, spiegelt sich dokumentarisch in Schuldscheinen (uʼilēti), die den am breitesten belegten Dokumententyp im Muraschu-Archiv darstellen. Das Unternehmen hat offenbar kurzfristige Darlehen an Lehnsbesitzer vergeben, die über ein Pfand in Form landwirtschaftlicher Nutzungsfläche abgesichert wurden. Im Falle der Nichtrückzahlung von Darlehen erhielt das Unternehmen die Nutzungs-, nicht aber die Eigentumsrechte über die landwirtschaftliche Nutzungsfläche, während die Kreditnehmer fortan als Pächter in der Schuld der Muraschus standen.

4. Die Personennamen

Von den ungefähr 2.200 Personennamen, die in den Muraschu-Dokumenten begegnen, sind ca. zwei Drittel babylonischer und etwa ein Viertel aramäischer Herkunft. Die restlichen Belege sind etymologisch auf iranischen, anatolischen, ägyptischen und west-semitischen Ursprung zurückzuführen. Der relativ hohe Prozentsatz nicht-babylonischer Namen zeugt von einer multiethnischen Gesellschaft, die sich nicht zuletzt der Eingliederung Mittelbabyloniens in das achämenidische Großreich verdanken dürfte (vgl. Stolper, 1992a; Pearce / Wunsch).

Es ist insbesondere den Belegen der Personennamen zu verdanken, dass die Dokumente des Muraschu-Archivs das Interesse der alttestamentlichen Wissenschaft geweckt haben. Denn unter den bezeugten Personennamen finden sich auch ca. 80 Namen west-semitischen Ursprungs, die über ein theophores Element mit dem Gott Jhwh assoziiert werden (z.B. Abdayāhu, Aḫīyāma, Banā’il, Barakkayāma, Bēlyadaḫ, Igdalyāma, Jonathan). Über das theophore Element werden die Träger jener Namen oftmals als jüdisch identifiziert und als Nachfahren jener Judäer verstanden, die von → Nebukadnezar in den Jahren 597 bzw. 587/6 v. Chr. nach Babylon deportiert wurden (vgl. Coogan, 1976; Stolper, 1992a; Pearce / Wunsch).

Nicht unterschlagen werden sollte in diesem Zusammenhang allerdings, dass sich über das theophore Element hinaus keine direkten Hinweise auf die genaue ethnische Herkunft der Namensträger finden. Das Gentilizium „Judäer“ ist in den Muraschu-Dokumenten – anders etwa als „ägyptisch, Ägypter“ – nicht belegt. Inhaltlich bezeugen die Dokumente, in denen die (womöglich) judäischen bzw. jüdischen Namensträger erscheinen, deutliche Züge einer Akkulturation oder gar Assimilation. Die Namensträger grenzen sich in ihrem Auftreten nicht gegen die anderen Vertragspartner der Muraschus ab. Sie begegnen in den Dokumenten als Lehnsherren, Beamte oder Zeugen und scheinen mitunter in hohe Positionen der Lokalverwaltung aufgerückt zu sein. So begegnen unter den judäischen Namensträgern ein Steuereinnehmer oder ein Obmann des ḫaṭru (Weippert, 2010). Auch jenseits der geschäftlichen Transaktionen spiegelt der onomastische Befund das Bild akkulturierter Judäer, die sich nicht davor scheuten, ihren Kindern babylonische Namen zu geben. „In short, as portrayed in the medium of Babylonian legal recording, they seem no less Babylonian than any other parties to the texts“ (Stolper, 1992a, 926).

Aus alttestamentlicher Sicht ist der dokumentarische Befund aus dem Muraschu-Archiv nicht zuletzt insofern interessant, als er zeigt, dass das Leben judäischstämmiger Bevölkerungsteile in Babylonien auch nach der biblisch bezeugten Rückkehr der Exilierten nach Juda nicht abgerissen ist. „Das bedeutet wohl, dass die ‚zionistische‘ Bewegung nur von einem Teil, wohl von einer Minderheit der Exilierten getragen wurde, wahrscheinlich angeführt von einer exiljudäischen Oberschicht in Babylon, die Zugang zu der Provinzialverwaltung der Transeuphratene und dem Königspalast hatte“ (Weippert, 2010, 460).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Reallexikon der Assyriologie und vorderasiatischen Archäologie, Berlin 1928ff
  • Biblisch-historisches Handwörterbuch, Göttingen 1962-1979
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992

2. Weitere Literatur

  • Cardascia, Guillaume, 1951, Les archive des Murašû. Un familie d’hommes d’affaires babyloniens à l’époque perse (455-403 av. J.-C.), Paris
  • Coogan, Michael D., 1973, Patterns in Jewish Personal Names in the Babylonian Diaspora, JSJ 4, 183-191
  • Coogan, Michael D., 1974, Life in the Diaspora: Jews at Nippur in the Fifth Century B.C., BA 37, 6-12
  • Coogan, Michael D., 1976, West Semitic Personal Names in the Murašu Documents (HSM 7), Missoula
  • Hilprecht, Hermann V. / Clay, Albert T., 1898, Business Documents of Murashû Sons of Nippur, Dated in the Reign of Artaxerxes I. (464-424 B.C.) (The Babylonian Expedition of the University of Pennsylvania, Series A: Cuneiform Texts, Bd. IX), Philadelphia
  • Joannès, Francis, 1987, Fragments de Nippur d’époque néo-babylonienne, Anatolica 14, 107-130
  • Joannès, Francis, 1995, Private Commerce and Banking in Achaemenid Babylon, in: Jack M. Sasson (Hg.), Civilizations of the Ancient Near East, Bd. 3, New York, 1475-1485
  • Pearce, Laurie E. / Wunsch, Cornelia, 2014, Documents of Judean Exiles and West Semites in Babylonia in the Collection of David Sofer (CUSAS 28), Bethesda
  • Stolper, Matthew W., 1976, The Genealogy of the Murašu Family, JCS 28, 189-200
  • Stolper, Matthew W., 1985, Entrepreneurs and Empire: The Murašu Archive, the Murašu Firm, and Persian Rule in Babylonia (UNHAII 54), Leiden
  • Stolper, Matthew W., 1992, The Murašû Texts Written at Susa, RA 86, 69-77
  • Stolper, Matthew W., 1992a, Art. Murašû, in: The Anchor Bible Dictionary, Bd. 4, New York, 927-928
  • Stolper, Matthew W., 1997, Art. Murašû, in: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie, Bd. 8, Berlin / New York, 427-429
  • Thomas, D. Winton, 1958, Documents from Old Testament Times, London
  • van Driel, Govert, 1989, The Murašûs in Context, JESHO 32, 203-229
  • Weippert, Manfred, 2010, Historisches Textbuch zum Alten Testament (GAT 10), Göttingen

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