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Biografisches Lernen und Biografie-Orientierung, außerschulisch

(erstellt: März 2023)

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1. Einführung

Erziehung-, Bildungs- und Entwicklungsprozesse werden durch die Lebenskontexte und -erfahrungen der Lehrenden wie der Lernenden mitbestimmt. Demzufolge legt Biografie-Orientierung in praktisch-theologischen Kontexten das Augenmerk auf das Subjekt mit seiner Lebens- und Glaubensgeschichte (→ Biografie/Lebensgeschichte/Lebenslauf; → Glaube). Es geht darum, wie sich ein Mensch konkret mit Religion auseinandersetzt, in welcher Art und Weise christliche Traditionsbestände die individuelle Religiosität beeinflussen und wie kulturelle und individuelle Formen religiösen Lebens interagieren. Im Kontext der „anthropologischen Wende“ (Eicher, 1970), die katholischerseits vor allem mit der Theologie Karl Rahners und evangelischerseits u.a. mit der Theologie Bultmanns und Tillichs verbunden wird, rückt der/die Einzelne mit seiner /ihrer Lebensgeschichte auch in der Praktischen Theologie stärker in den Vordergrund. Während der Artikel → Biografisches Lernen vor allem den Kontext des Religionsunterrichts und seiner Didaktik beschreibt, wird hier die besondere Bedeutung biografischer Lernprozesse außerhalb unterrichtlicher Formate herausgearbeitet.

2. Forschungsperspektiven

Der Zusammenhang von Biografie und Religion wird wissenschaftstheoretisch unter folgenden Dimensionen zum Thema (für einen Überblick siehe Kaupp, 2016, → Biografieforschung; Kaupp, 2022):

  1. 1.Grundlagentheoretische Begründungen eines (praktisch-)theologischen Interesses an Biografie untersuchen, wie Biografie, Religion und Bildungsprozesse zusammenhängen und welche Bedeutung die religiöse Dimension der biografischen Erzählung für die Präsentation von Identität hat. Wegweisend waren hier die Arbeiten von Grözinger/Luther (1987), Luther (1992) und Klein (1994), auf deren Theorien spätere Arbeiten immer wieder verweisen (für einen Überblick siehe Reese-Schnitker, 2015, 94f.).
  2. 2.Historisch oder hermeneutisch angelegte Untersuchungen zu Biografie und Religion beschäftigen sich auf der Basis der literarischen Zeugnisse historischer Persönlichkeiten mit der Verschränkung von lebensgeschichtlicher und religiöser Entwicklung (Kuld, 1997; Mandl-Schmitt, 2003; Bucher, 2004).
  3. 3.Empirische Erforschungen von Biografien, Lebenswelten und religiösen Deutungsmustern tragen der Tatsache Rechnung, dass religiöse Ausdrucksformen mit dem gelebten Alltag, sozialen Kontakten und eigenen Lebenskontexten verbunden sind (zu den Themen der empirischen Arbeiten in der Praktischen Theologie siehe → Biografieforschung, Kap. 5.2). Empirisch angelegte Forschungsarbeiten sind oft mit grundlagentheoretischen oder hermeneutischen Überlegungen verknüpft. Es ist jedoch festzustellen, dass Lernorte wie Jugendarbeit, Erwachsenenbildung oder Medien empirisch kaum erforscht werden. Ebenso fehlt die Analyse von religiösen Biografien über längere Zeiträume (Schröder, 2018, 12f.).
  4. 4.Überlegungen zum biografischen Lernen als didaktischer Zugang (→ Biografisches Lernen, Kap. 3-4) verstehen biografisches Lernen als „religionsdidaktische Aufgabe“ (Ziebertz, 2010, 381). Verknüpft mit biografischem Lernen werden auch Konzepte des „Lebenslangen Lernens“ (Alheit/Felden, 2009, 9-17) und die Thematisierung von Vorbildern oder Modellen (Kuhn, 2010; Lindner, 2007; 2011; Mendl, 2015; 2020).

3. Begriffliche Differenzierung biografischen Lernens

Die genannten Forschungsperspektiven verdeutlichen schon, dass unter biografischem Lernen Unterschiedliches verstanden wird: eine Methode in der Erwachsenenbildung, ein didaktischer Ansatz im Religionsunterricht oder ein Lernen, das angesichts permanenter Wandlungsprozesse auf das Schaffen von Sinn und Identität zielt. Ebenso verschwimmen teilweise die Unterschiede zur → Biografieforschung. Daher ist es sinnvoll den Begriff biografisches Lernen genauer zu differenzieren.

3.1. Autobiografisches Lernen: Lernen anhand der eigenen Lebensgeschichte

Als autobiografisches Lernen werden Lernprozesse verstanden, die explizit durch die eigene Lebensgeschichte mit ihren Erlebnissen, Herausforderungen und Krisen angestoßen werden. Dabei geht es sowohl um die Bewältigung dieser Aufgaben als auch um die Notwendigkeit einer Plausibilisierung des biografischen Verlaufs. Während in früheren Generationen der Lebenslauf als normierte Phasengliederung weitgehend vorgezeichnet war, muss der oder die Einzelne heute angesichts des Bedeutungsverlusts institutioneller Bindungen und der durch sie tradierten Aspekte (wie Berufslaufbahnen, Familienmodelle oder Rollenbilder) Entscheidungen selbst treffen. Darüber hinaus müssen diese in Auseinandersetzung mit sich selbst und in Interaktion mit der Mit- und Umwelt (und deren historischen, regionalen und gesellschaftlichen Gegebenheiten) immer wieder neu plausibilisiert werden. Die Herausforderung, ständig Entscheidungen zu treffen und diese in den Koordinaten der eigenen Lebenswelt zu verantworten, erfordert Prozesse biografischen Lernens. Biografische Lernprozes­se folgen der Eigenlogik und der lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung der Lernenden als dem Sinnhorizont, in den neues Lernen eingeordnet wird. Die individuelle Biografie ist der Hintergrund, von dem her gelernt wird, und zugleich der Horizont, in dem gelernt wird. Sie ist aber auch das Lernfeld und der Reflexionsgegenstand (Schulze, 2005). Autobiografisches Lernen setzt voraus, dass Erfahrungen erinnert und reflektiert werden können, um hieraus Konsequenzen für das weitere Leben abzuleiten. Dies erfordert, dass lebensgeschichtliche Veränderungsprozesse nicht nur episodisch reflektiert werden und setzt daher ein kognitives und moralisches Entwicklungsniveau voraus, das meist erst in der späten Kindheit oder in der Jugendzeit erreicht wird.

Nach Hans-Georg Ziebertz (2010, 385) hat eine biografische Selbstreflexion drei Funktionen:

  • die „kognitiv-aufklärerische Funktion“ hilft, Klarheit über Abhängigkeitsverhältnisse zu erhalten,
  • die „affektiv-integrierende Funktion“ kommt zum Tragen, indem „das Wissen um die Interdependenzen und die Einsicht in die konkreten Abhängigkeiten gefühlsmäßig“ verarbeitet wird,
  • die „pragmatisch-handlungsleitende Funktion“ dient zur Erschließung neuer Handlungspotenziale.

Diese Reflexion findet nicht nur mittels individuellen Nachdenkens statt, sondern häufig in Kommunikationsprozessen, z.B. über biografische Erzählungen, mit deren Hilfe sich das Subjekt Klarheit über sich selbst verschafft und die eigene Geschichte in Beziehung zur Mit- und Umwelt setzt. Die Eigenlogik des Lernenden und seiner Lebensgeschichte ist der Sinnhorizont, in den Lernprozesse eingeordnet werden, die für die Organisation und Ausgestaltung der individuellen Biografie unverzichtbar sind.

Religionen bieten ein Welt- und Selbstverständnis und ein kulturelles Muster zur Gestaltung der Lebensgeschichte; sie bieten Antworten zur Bewältigung von Lebensproblemen und zur eigenen Identitätsfindung (→ Identität). Außerdem machen sie Sinnangebote zur Strukturierung der Lebensgeschichte „durch die kulturelle Ausgestaltung und Deutung existentiell bedeutsamer Ereignisse und Übergänge im Lebenslauf (Taufe, Firmung/Konfirmation, Trauung, Beerdigung) von der Geburt bis zum Tod mit einer zugehörigen Vor- und Nachgeschichte (im Jenseits)“ (Engelhardt, 2004, 149f.).

Religion geht in die Biografie als individuell-unterschiedliche Entwicklungsgeschichte ein: als Glauben, als religiöser Suchprozess oder Zweifel, aber auch als Nichtglauben oder Abwendung vom Glauben. In allen Altersgruppen sind divergierende Religionsstile im Hinblick auf inhaltliche Glaubensvorstellungen (→ Glaube), religiöse Praxis oder Kirchenbezug zu finden. Diese Pluralität wird durch eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft verstärkt. Daher ist es nötig, sich immer wieder der Plausibilität von Religion in der eigenen Lebensgeschichte zu vergewissern.

Autobiografische religiöse Lernprozesse finden zum einen außerhalb expliziter Lernsettings anlässlich bestimmter biografischer Knotenpunkte und Herausforderungen statt, die eine biografische Reflexion nahelegen. Solche Prozesse sind einer didaktischen Inszenierung entzogen. Sie können aber in organisierten Lernformaten angestoßen werden, sofern diese freiwillig gewählt und geschützt sind, wie z.B. Angebote (religiöser) Erwachsenenbildung oder in Exerzitien, Supervision oder Therapie. Es ist unstrittig, dass auch in der Schule zahlreiche, vor allem implizite und ungeplante autobiografische Lernprozesse stattfinden. Diese sind jedoch selten explizit Gegenstand des Unterrichts und finden häufig außerhalb des Unterrichts statt.

3.2. Biografie-orientiertes Lernen: Lernen mit Bezug zur eigenen Lebensgeschichte

Bei organisierten Unterrichtsprozessen ist es angemessener, von biografie-orientiertem Lernen zu sprechen. Didaktische Settings im Religionsunterricht, in der Katechese, Jugendarbeit und Erwachsenenbildung, die eigene Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer thematisieren sind biografie-orientierte Formen der Auseinandersetzung mit Religion. Ziel ist eine Verbindung von theologischen Inhalten und lebensgeschichtlichen Erfahrungen, die in der Religionspädagogik mit den Prinzipien der → Korrelation und der → Elementarisierung beschrieben wird. In der Erwachsenenbildung sind die Prinzipien des subjekt-orientierten Lernens und der Adressatenorientierung zu nennen. Auf der Basis biografischer Episoden und Erlebnisse werden (Lern-)Inhalte in ihrer persönlichen Bedeutung verstanden. Dies wird in organisierten Lernprozessen nicht notwendig zu einer umfassenden biografischen Auseinandersetzung führen und wenn, dann lediglich bei Einzelnen. Verstärkt wird die Grenze biografie-orientierten Lernens durch die Tatsache, dass im Kinder- und frühen Jugendalter eine biografische Reflexion nur episodisch möglich ist (Rosenthal, 1995, 134-143; Kaupp, 2005, 341).

3.3. Lernen an Biografien: Lernen mit Hilfe fremder Lebensgeschichten

Die christliche Tradition weiß seit ihren Anfängen um die Bedeutung biografischer Erzählungen gleichermaßen für die oder den Einzelnen wie für die Glaubensgemeinschaft. Dies belegen Heiligenviten, die nicht allein das Leben besonderer Christen und Christinnen durch die Erzählung ihrer Geschichte erinnern wollen, sondern gleichermaßen zur Auseinandersetzung und Nachahmung anregen. Religionsdidaktische Überlegungen beschreiben, wie dieses Lernen vor sich geht (Lindner, 2007; Kuhn, 2010; Mendl, 2015) (→ Biografisches Lernen, Kap. 2).

3.3.1. Fremde Biografien als Orientierungshilfe

Die Interaktion zwischen eigener und fremder Geschichte macht Autobiografien für heutige Menschen interessant: Biografische Erzählungen enthalten Modelle oder Hilfestellung für eigene (Lebens- oder Glaubens-)Entscheidungen und öffnen Zielhorizonte (Lindner, 2011, 62f.).So ist es nicht verwunderlich, dass sich Jugendliche noch stärker als Erwachsene an Personen orientieren, deren Lebensentwurf ihnen attraktiv erscheint.

Lernen an fremden Biografien unterstreicht die Bedeutung von „signifikanten Anderen“ für (religiöse) Lehr-/Lernprozesse. Für die Einzelne/den Einzelnen wie für die (Glaubens-)Gemeinschaft ist unverzichtbar, dass religiöse Überzeugungen und Traditionen nicht allein durch Bücher, sondern auch durch Personen tradiert werden und an deren Lebensgeschichten abzulesen sind. Wie Familientraditionen durch Erzählungen weitergegeben werden, so braucht eine Glaubensgemeinschaft ebenfalls solche persönlichen Formen der Tradition.

In diesem Sinn lassen sich die oben genannten drei Funktionen biografischer Selbstreflexion auf die Auseinandersetzung mit einer fremden Biografie anwenden:

  • die kognitiv-aufklärerische Funktion dient der kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle der Person in ihrer zeitgeschichtlichen Verortung,
  • das Einnehmen einer fremden Perspektive kann die Reflexion und die Erweiterung der eigenen Perspektive fördern,
  • die Auseinandersetzung mit dem Handeln der fremden Person kann in einer Reflexion des eigenen Handelns und möglicherweise im Ausprobieren neuer Handlungsformen resultieren.

3.3.2. Fremde Biografien als Partituren

Die Darstellung von Heiligen bzw. von Glaubensvorbildern kann verschiedene Ziele haben: Aus historischer Perspektive wird nach den Fakten gefragt oder nach der Bedeutung einer Person in ihrer Zeit. Diese Funktion kommt im Religionsunterricht häufig zu kurz, wenn bekannte Personen zeitenthoben vermittelt werden. Unter ethischer Perspektive wird das Handeln einer Person in den Blick genommen und aus dogmatischer Perspektive nach den Kriterien und Ausdrucksformen ihres Glaubens gefragt. Insbesondere die letztgenannten Funktionen laufen Gefahr, Glaubensvorbilder zu einem Ideal zu stilisieren, das weder ihre damalige Lebensrealität spiegelt noch für heutige Menschen anschlussfähig ist. Eine Korrelation zwischen der eigenen und einer fremden Person scheint einfacher, wenn es sich nicht um große Heilige, sondern um „Helden des Alltags“ (Mendl, 2015; 2020) oder „Local heroes“ (https://www.uni-passau.de/local-heroes) handelt. Andererseits belegt jedoch die andauernde Verehrung von Personen, wie z.B. von Franz von Assisi oder Hildegard von Bingen, dass eine zeitliche und inhaltliche Fremdheit auch dazu motivieren kann, sich ohne Vorurteile mit einer unbekannten Welt zu beschäftigen und hieraus Konsequenzen für das eigene Leben zu ziehen.

Zu einer konstruktiven Auseinandersetzung trägt die Unterscheidung zwischen einer fremden Biografie als Vorbild und als Modell bei: Während das Vorbild zur Nachahmung anregen soll, ist ein Modell „eine Orientierungshilfe für das eigene Verhalten, das aber nicht einfach kopiert wird, sondern auch kritisierbar oder sogar ablehnbar ist“ (Mieth/Mieth, 1977, 627f.). Da jedoch die Unterscheidung oft verschwimmt, möchte ich den der Partitur als Alternative einbringen: Eine Partitur ist eine verschriftlichte Form von Musik und deren Aufführungspraxis, sie ist aber nicht die Musik selbst. Erst durch die Stimme oder das Instrument des Interpreten geschieht sozusagen Musik. Je nach kulturell und zeitgeschichtlich geprägten Aufführungsgepflogenheiten, dem gewählten Instrument und den musikalischen Fähigkeiten der Interpreten unterscheiden sich Aufführungen trotz Partitur. Fremde Biografien bieten wie eine Partitur religiöse und kulturelle Muster zur Gestaltung des eigenen Lebens an. Aber biografisch bedeutsam werden sie erst, wenn sie durch den heutigen Interpreten neu gelesen und entschlüsselt werden. Der/die Lehrende hat die wichtige Aufgabe, sozusagen die Partitur-Schreibweise zu erläutern, damit die Lernenden diese überhaupt lesen können. Zusammen kann dann nach Themen in der Partitur gesucht und überlegt werden, wie diese heute in Musik umgesetzt werden können oder auch wie verschiedene Partituren miteinander verbunden werden können. Auf biografisches Lernen bezogen bedeutet das, dass verschiedene und möglicherweise sehr unterschiedliche fremde Biografien Anregungen für die eigene Person geben.

Durch die Auseinandersetzung mit einer fremden Biografie wird jedoch nur dann ein autobiografischer Lernprozess angestoßen, wenn die eigene Geschichte anhand der fremden reflektiert wird und Konsequenzen für das eigene Leben gezogen werden oder wenn sich in einem späteren Rückblick herausstellt, dass es eine solche Rückkoppelung gab.

4. Kriterien biografischen Lernens

Biografische Lernprozesse sind meist langfristiger, komplexer, aber auch unplanbarer als Lernprozesse anhand vorgegebener Inhalte. Nach Theodor Schulze (1993, 202-218) sind folgende Aspekte charakteristisch für biografisches Lernen:

  • Selbstorganisiertes Lernen – Lernen aus Erfahrungen“: Die Inhalte organisieren sich in der oder dem Lernenden, sie/er hat sozusagen ein biografisches Lernprogramm, das häufig vorbewusst ist. Selbstorganisiertes ist nicht mit selbstbestimmtem Lernen gleichzusetzen, denn auch biografisches Lernen wird von der konkreten Umwelt mitbestimmt.
  • Diskontinuierliches Lernen – Lernen bei Gelegenheit“: Biografische Lernprozesse werden oft durch bestimmte Gelegenheiten angestoßen. Diese können differenziert werden in herausgehobene Anlässe (z.B. Feste), organisierte Gelegenheiten (z.B. Reisen), aber auch zufällige Gelegenheiten wie Krankheit oder Wettbewerb. Der Lernprozess folgt den jeweiligen biografischen Bedingungen und Aneignungsmustern, ohne didaktisch geplant zu sein.
  • „Ökologisches Lernen – Lernen in Lebenswelten“: Biografisches Lernen ist an die sozial-räumliche und personale Lebenswelt geknüpft und ist daher kontextuell mit der jeweiligen Kultur, Gedankenwelt und den historischen Gegebenheiten verwoben.
  • Irritiertes Lernen – Lernen in Widersprüchen und Brüchen“: Wenn Alltagsroutinen nicht mehr funktionieren, also in Krisen oder in ungewohnten Situationen, werden biografische Lernprozesse angestoßen, da neue Handlungsstrategien erlernt werden müssen. Während didaktisch geplantes Lernen ein Lernen am Erfolg ist, ist biografisches Lernen eher ein Lernen am Misserfolg: Erst Zweifel oder Scheitern führen zu Nach- und Umdenken oder verändertem Handeln.
  • Symbolisierendes Lernen – Lernen in Szenen und Sprüchen“: Lebensgeschichtliches Lernen erfolgt weniger anhand von Texten oder Zeichensystemen als vielmehr anhand von (inneren) Bildern, Szenen und Geschichten. Ebenso sind Worte und Redewendungen wichtig. Mit ihrer Hilfe können auch weit auseinander liegende Ereignisse in einen logischen Zusammenhang für die Biografin oder den Biografen gebracht werden.
  • Affektives Lernen – Lernen von Gefühlen“: Da symbolisierendes Lernen mit Gefühlen verknüpft ist, sind Kognition und Emotion im Modus des biografischen Lernens anders miteinander verknüpft als im curricularen Lernen. Emotionale Lernprozesse sind jedoch bis heute nur wenig erforscht; dies gilt in besonderem Ausmaß für religiöse Lernprozesse.
  • Reflektierendes Lernen – Lernen im Umschreiben“: Die erzählte Lebensgeschichte stellt eine Logik des Zusammenhangs vor. Da Selbstreflexion nicht am Anfang steht, sondern bestimmte Erfahrungen voraussetzt, zeigt sich Reflexion häufig in Form von Erinnerung und als Prozess über einen längeren Zeitraum.

Diese sieben Aspekte verdeutlichen die hohe Bedeutung biografischer Lernprozesse. Sie stellen Selbstbildungsprozesse dar, an deren Ende die Ausbildung von Veränderungskompetenz steht (Kirchhof, 2008, 45f.).

5. Formate biografischer religiöser Lernprozesse

Biografische religiöse Lernprozesse werden vor allem in non-formalen und informellen Lernsettings (→ informelles (religiöses) Lernen) angestoßen. Hier finden zugleich vielfältige informelle Lernprozesse im Glauben statt, wie die folgenden Beispiele zeigen:

  1. 1.Jugendarbeit der Kirchen

In der Jugendarbeit der Kirchen (→ Jugendarbeit, katholisch; → Jugendarbeit, evangelisch; → Jugendverbände, katholisch; → Freizeiten) können Jugendliche ihre Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und Eingebundenheit erfüllen. Peers fördern Vergemeinschaftung und biografische Lernprozesse; sie haben im Jugendalter eine Spiegelfunktion, denn sie geben Rückmeldung, ob der eigene Identitätsentwurf positiv oder negativ bewertet wird. Erfahrene Personen können zudem wichtige Ansprechpartnerinnen oder Ansprechpartner sein und eine Vorbildfunktion im Glauben und dessen Entwicklung haben (Kaupp, 2020).

  1. 1.Erwachsenenbildung der Kirchen

Religiöse → Erwachsenenbildung findet in sehr unterschiedlichen Formaten non-formalen Lernens statt: Vom Vortrag über ein religiöses Wochenende bis zu Reiseangeboten. Angesichts einer alternden Gesellschaft sind die unterschiedlichen religiösen Bildungsinteressen der Senioren ernst zu nehmen. Eine besonders intensive biografische Form der Auseinandersetzung mit Glaubensfragen sind Exerzitien und Glaubenskurse (→ Glaubenskurs)

Im Rahmen der Erwachsenenbildung finden z.B. durch Gespräche auch in Pausen und durch die Reflexion der eigenen Erfahrungen informelles Lernen im Blick auf den Glauben statt.

Je stärker die beschriebenen Kriterien lebenslangen Lernens berücksichtigt werden, desto eher werden Angebote gewählt, auch wenn sie Geld und Zeit kosten. Diese können autobiografische Lernprozesse anstoßen.

  1. 1.Generationenübergreifende Formen biografischen Lernens

Formate biografischen Lernens können über den Rahmen einzelner Handlungsfelder und Altersgruppen hinausgehen (siehe EKD, 2022). So zielen Modelle einer generationenübergreifenden → Katechese (→ Katechese, intergenerationelle) auf eine alltags- und sozial-räumliche Verortung der Katechese an (Hennecke/Dörsam, 2015). Entsprechend diesem Konzept finden in einer Gemeinde katechetische Angebote zu verschiedenen Themen statt, die sich an Menschen jeden Alters richten (Hennecke, 2015, 17). Generations of Faith versteht Katechese als lebenslanges Lernen und Wachsen im Glauben. In einer alternden Gesellschaft kann die Begegnung zwischen alten und jungen Menschen kreative Glaubensprozesse hervorrufen. Es ist anzunehmen, dass Menschen mit unterschiedlicher Nähe zu Glaube und Kirche gemeinsam auf dem Weg sind. Indem geprägte Strukturen durchbrochen werden, können neue Vergemeinschaftungen und biografische Lernprozesse angestoßen werden.

6. Fazit

Lernen und Biografie sind untrennbar verbunden. Diese Tatsache macht biografie-orientierte Lernformate unverzichtbar, macht aber auch deutlich, dass diese aufgrund ihrer Vielfältigkeit schwer zu bestimmen sind. Biografie-orientierte Lernprozesse finden explizit und implizit statt, sie sind in didaktischen Formaten zu finden, geschehen jedoch gleichermaßen im Alltag und an Knotenpunkten des Lebens. Biografisches Lernen verläuft individuell unterschiedlich und ist u. a. von Alter, Kultur und Erfahrungshorizonten geprägt.

Erschwert wird eine Beschreibung auch dadurch, dass biografische Lernprozesse oft erst im Rückblick und über lange Zeiträume erkannt werden und sich nur teilweise in didaktischen Settings einpassen lassen.

Religionspädagogisch unerforscht ist z.B., welche Lernformate verschiedene Menschen für biografische Lernprozesse nutzen oder ablehnen. Eine Erforschung lebensgeschichtlicher Erzählungen als Lerngeschichten (aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive siehe Mikula/Lechner, 2014) und die Erarbeitung einer Typologie religiöser biografischer Lernprozesse können hier Aufschluss geben.

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