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Postkolonialismus, kirchengeschichtsdidaktisch

(erstellt: März 2023)

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1. Lebensweltliche Verortungen

Postkoloniale Theorien erhalten zunehmend eine Bedeutung in der deutschen Theologie (Nehring/Wiesgickl, 2018; Konz/Ortmann/Wetz, 2022; Silber, 2021). In der Migrationsgesellschaft Deutschland treffen unterschiedliche (Lebens-)Geschichten aufeinander, was einen Wandel der kollektiven Erinnerungskultur bewirkt. Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrungen bringen ihre Geschichte und Erinnerung (→ Erinnerung/Erinnerungslernen) mit und fordern – teilweise auch allein durch ihre Präsenz – zu einer kritischen Reflexion der Geschichte heraus. Wie tief sich das koloniale Herrschaftsdenken in die lebensweltlichen Strukturen eingeschrieben hat und wie stark wir (un-)bewusst von → Rassismus geprägt sind, wird aktuell im Zuge der #BlackLivesMatter und #metwo-Bewegung aufgedeckt. Obwohl Deutschland schon seit langem eine Migrationsgesellschaft ist und sich die Geschichte Schwarzer Deutscher bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt (Aitgen, 2022, 4), wird (Nicht-)Zugehörigkeit immer noch vielfach auf ein Konstrukt von „Herkunftsdeutsch-Sein“ reduziert, das sich an einer eindeutigen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit (Mecheril, 2003) orientiert. So wird an ‚nicht deutsch‘ aussehende Deutsche beständig die Frage herangetragen, wo sie eigentlich herkommen.

Im öffentlichen Diskurs kommt es zu vielschichtigen Aushandlungsprozessen: Nach langjährigen Gesprächen mit der namibischen Regierung hat Deutschland 2021 die brutale Niederschlagung des Aufstandes der Herero und Nama von 1904 als Völkermord anerkannt. Verstärkt wird zudem aktuell die Restitution geraubter Kunst vorangetrieben. In vielen Städten gibt es zivilgesellschaftliche „Decolonize“-Initiativen, die koloniale Stadtgeschichte aufarbeiten (Konz/Ortmann, 2022, 9). Zu erwähnen sind auch Debatten über die Umbenennung von Straßen, die an Personen oder Orte der Kolonien erinnern und die Zeugnis geben von der kolonialen Vergangenheit Deutschlands, die bis heute fortgeschriebene „vielfältige[…] und verschachtelte[…] Abhängigkeitsverhältnisse“ etablierte (Castro Varela/Dhawan, 2020, 41-42).

Als Spiegelbild der Gesellschaft ist Schule nicht frei von Ausgrenzungsdynamiken und stetig reproduzierten Differenzlinien, wie „weiß – schwarz“ oder „angestammt – zugewandert“ (Dirim/Mecheril, 2018, 40). Schwarze Schülerinnen und Schüler besuchen in der Regel eine Schule, in der niemand von den Lehrenden so aussieht wie sie, der Lehrplan ist nicht an ihren Erfahrungen ausgerichtet, sie lernen z.B. keine Handlungsstrategien gegen Rassismus, wenig über die Geschichte von BIPoC (Black, Indigenous, People of Color ), bzw. wenn, „dann nur aus einer weißen Perspektive, in der Schwarze Menschen als Opfer von Rassismus (Sklaverei, Kolonialismus) vorkommen“ (Gyamerah, zit. n. Ogette, 2017, 58). Im schulischen Unterricht wird der Kolonialismus bislang immer noch eher marginal und von den jeweiligen Lehrkräften abhängig thematisiert.

Auch an Kirche wird postkoloniale Rassismuskritik herangetragen, z.B. durch Vecera, die mit ihrem Buch „Wie ist Jesus Weiß geworden?“ eine kirchliche Selbstreflexion über geschichtliche Verstrickungen und Rassismus anregt (Vecera, 2022).

Von hier aus weitergedacht stellt sich die Frage, wie → Kirchengeschichtsdidaktik die Anliegen postkolonialer Theorie aufgreifen kann. Im Folgenden werden zunächst die Anliegen postkolonialer Theorie umrissen, bevor hiervon ausgehend Herausforderungen postkolonialer Kirchengeschichtsdidaktik skizziert werden. Schließlich wird das Feld religionsdidaktisch-praktisch kartiert.

2. (Kirchen)geschichtliche Klärungen

2.1. Die Anliegen postkolonialer Theorie

Postkoloniale Perspektiven bilden strenggenommen keine einheitliche Theorie, sondern umfassen eine „Vielfalt methodologischer Herangehensweisen“ in einem „ausgedehnten interdisziplinären“ und internationalen Feld (Castro Varela/Dhawan, 25-26). Der Begriff „postkolonial“ sollte deshalb kontextsensibel verwendet werden (Castro Varela/Dhawan, 2020, 24;25). Prominente Theoretikerinnen und Theoretiker postkolonialer Theorie sind Edward Said (2010), Gayatri Chakravorty Spivak (2008) und Homi K. Bhabha (2000). Es gibt ergänzende bzw. konkurrierende Begriffe wie „antikolonial“, „tricontinental“ oder „dekolonial“, die sich vor allem in der Frage, wie eine Dekolonisierung vollzogen werden kann, von postkolonialen Ansätzen unterscheiden (Castro Varela/Dhawan, 2020, 22-25).

Gemeinsam ist postkolonialen Ansätzen, dass sie auf einem eher „kulturellen als realpolitischen Verständnis von Kolonialismus“ basieren (Grewe, 2016, 9) und das theoretische Instrumentarium für die Analyse kolonialer Wissens- und Herrschaftspraktiken sowie der Verhältnisse des globalen Südens und Nordens bereitstellen.

Das Präfix „post“ changiert dabei bewusst zwischen „danach“ und einem „darüber hinaus“, insofern es auf die weitreichenden und vielschichtigen Prozesse der (De-)Kolonisierung und der bis heute im Neokolonialismus fortgeschrieben Herrschaftsverhältnisse hinweist (Hall, 2013, 213-215). Obwohl Deutschland keine führende Kolonialmacht war, war das Land umfassend in den transnationalen (Sklaven-)Handel verstrickt, der bis heute Auswirkungen auf die globale Verteilung von Ressourcen und Güter hat. Der Kolonialismus hat eine „doppelte Einschreibung“, tief „in die Kulturen der Kolonisierten“ vollzogen, aber auch tief in die Kulturen „der imperialen Metropole“ (Hall, 2013, 203;204). Auch nach der offiziellen Unabhängigkeit der früheren Kolonien gibt es Neokolonialismus und Versuche der Rekolonisierung, um Abhängigkeiten fortzuschreiben und „Ressourcen der vormals kolonisierten Länder“ zu sichern (Castro Varela/Dhawan, 2020, 24). Postkolonialismus ist somit kein „Stoff für staubige Geschichtsbücher“, sondern zugleich aktuelle Gesellschaftsanalyse (Castro Varela/Dhawan, 2020, 24) „die durch Synergieeffekte zwischen Theorie und politischem Aktivismus belebt wird“ (Danielzik, 2013, 27).

Im Besonderem wenden sich postkoloniale Theorien der epistemischen Gewalt zu, d.h. der gewaltsamen Etablierung europäischen Denkens und Wissens in den kolonialisierten Ländern. Den indigenen Völkern wurde es verboten, die Welt „mit eigenen Augen“, mit der eigenen Sprache, Tradition und Kultur zu erfassen (Garbe, 2013, 5).Durch den Imperialismus wurden die Vermischung und Hybridisierung von Kulturen und Identitäten im globalen Maßstab vollzogen. Gleichzeitig wurde ideologisch manifestiert, dass der Mensch ausschließlich „weiß“ oder „schwarz“, „westlich“ oder „orientalisch“ sei. Mithilfe stereotyper „orientalistischer, rassistischer oder antiziganistischer Zerrbilder“ wurden die "Anderen" als „unzivilisierte“, „rückständige“ und „ungebildete“ „Opposition zum vernunftbegabten westlich-demokratischen Subjekt“ hergestellt (Ha, 2012, 50-54). Kolonisierte Räume und Menschen wurden als Eigentum betrachtet, ausgebeutet, mit einer obsessiven und oft auch skrupellosen „Neu-Gier“ erforscht und in Völkerschauen, wie in Hagenbecks Tierpark voyeuristisch zur Schau gestellt (Castro Varela/Dhawan, 2020, 47).

Postkolonialen Theorien geht es nicht um eine Verklärung der vorkolonialen Zeit, sie hinterfragen pauschale Täter-Opfer-Dichotomien und zeigen auf, dass es vielfältige Widerstandspraktiken „innerhalb des globalen Südens und auch in den Metropolen der imperialen Mächte“ gab,die auch auf „philosophische[…] Argumente des Westens“ referenzierten (Castro Varela/Dhawan, 2020, 24;51). Dies war jedoch ein ambivalentes Unterfangen, weil sich, wie Spivak (2008) bahnbrechend herausarbeitete, die Marginalisierten in der Sprache der Herrschenden artikulieren mussten, um Gehör zu finden.

Kritisch beleuchtet wird nicht zuletzt der Mythos der westlichen Errungenschaften der Moderne, die stattdessen als eine „north-south collaboration“ (Comaroff/Comaroff, 2016, 6) beschrieben werden muss, „die unter radikal ungleichen Bedingungen stattgefunden hat“ (Purtschert, 2017, o.S.).

2.2. Postkoloniale Kirchengeschichte

Die Fragestellungen der postkolonialen Theorie treffen ins Zentrum der Theologie und können nicht als Randthema abgehandelt werden (Gruber, 2018, 27). Im Sinne einer weltweiten Ökumene wird ein „Provincialising Europe“ (Chakrabarty, 2013, 134-161) angemahnt, d.h. eine Verabschiedung von der Deutungshoheit Europas und Nordamerikas in der Theologie und ein Ernstnehmen der „Stimmen von Christ*innen aus Asien, Afrika und Lateinamerika“ (Nehring/Wiesgickl, 2018, 14). Zugleich wird, wie in der interkulturellen Theologie, darauf hingewiesen, dass die „kulturellen Transferprozesse in der Geschichte des Weltchristentums“ von „komplexe[n] gegenseitigen Austauschmechanismen“ geprägt waren und „keine Einbahnstraßen (von Europa/ Zentrum nach Außereuropa/ Peripherie)“ (Burlaciou, 2018, 217).

Kirchengeschichte muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die Geschichte des Christentums „über weite Strecken […] ‚außereuropäisch‘“ war (Wallraff, 2015, 84). Sie kann weder als lineare Fortschrittsgeschichte noch als Universalgeschichte konzeptioniert werden, sondern muss sich den „Komplexitäten und Widersprüchen der historischen Prozesse“ zuwenden (Castro Varela/Dhawan, 2020, 24). Postkoloniale Kirchengeschichte intendiert deshalb eine Neukonzeptionierung als „transnationale und transkontinentale Interaktionsgeschichte“, was eine Veränderung der Geschichtsnarrative und kritische Sichtung und Erweiterung des gesamten Quellenrepertoires erfordert (Koschorke, 2015, 150).

In Bezug auf die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit steht postkoloniale Kirchengeschichte vor einem komplexen, „ambivalenten Feld“, insofern viele Missionierende „als wichtige Agenten des Kolonialismus“dienten, sich mehrere Missionen in Asien, Afrika und Lateinamerika „dem Imperialismus verpflichtet“ fühlten und Zwang und Gewalt duldeten (Castro Varela/Dhawan, 2020, 62;63). Auch das Engagement in Erziehung und Gesundheitsfürsorge wird von postkolonialen Ansätzen kritisch hinterfragt, insofern Bildung und Erziehung „zum primären Instrument der Konversion und Expansion“ avancierten, medizinische Maßnahmen die Arbeitskraft sichern sollten und die Kolonien Deutsch-Ostafrika europäischen Medizinerinnen und Medizinern als Experimentierfeld dienten (Bauche, 2006, o.S.).

Gleichzeitig wurde ‚Religion‘ „im antikolonialen Widerstand und in postkolonialen Identitätskonstitutionen immer wieder diskursiv reartikuliert“ (Nehring, 2012, 327). Auch wurde der christliche Glauben nicht passiv rezipiert, sondern mit traditionellen, indigenen „metaphysischen Vorstellungen“ verwoben, so dass es zu einer interkulturellen Vielfalt des Christlichen und „hybriden Formen religiöser Praktiken“ kam (Castro Varela/Dhawan, 2020, 63; Küster, 2011). Die biblischen Erzählungen von der Befreiung aus der Sklaverei und der Auferstehung Jesu boten Identifikationsmöglichkeiten und stärkten Widerstandspotential.

3. Didaktische Perspektiven

Postkoloniale Kirchengeschichtsdidaktik existiert de facto noch nicht, insofern bislang keine ausdifferenzierten didaktischen Konzepte entwickelt wurden und es, im Gegensatz zum Geschichtsunterricht, noch kaum Materialien für den Schulunterricht gibt. Insofern kann das Feld im Folgenden entlang (kirchen-)geschichtsdidaktischer Kompetenzen nur in Ansätzen kartiert werden.

Postkoloniale Theorie will nicht nüchtern-objektiv sein, sondern intervenieren, irritieren und gewohnte Sehweisen unterbrechen (Hinz/Meyer-Hamme, 2016, 131). Dies läuft in gewisser Hinsicht dem Ziel interkulturellen historischen Lernens zuwider, das eine gegenseitige Anerkennung verschiedener historischer Orientierungen intendiert (Hinz/Meyer-Hamme, 2016, 132) und dadurch stärker mit ethischem Lernen (→ Ethische Bildung und Erziehung) verbunden ist. Ebenso wenig beschränkt sich das postkoloniale (kirchen-)historische Lernen auf die Analyse von Dekolonisierungsprozessen. Es geht insgesamt um eine Sensibilisierung für die Geschichte Marginalisierter, um eine „Intervention gegen Entmächtigung und Entmündigung“ und eine Schärfung des Bewusstseins dafür, dass der Prozess der Dekolonisierung nicht abgeschlossen ist und sich die mentalen Strukturen kolonialer Ideologien bis heute fortschreiben (Hinz, 2016, 16). In Ergänzung zum transkulturellen Lernen, bei dem „die Gleichwertigkeit verschiedener Kulturen betont“ wird, schärft postkoloniale Kirchengeschichtsdidaktik das Bewusstsein für Machtdynamiken und Entinnerungsprozesse (Hinz, 2016, 16).

Gemäß subjektorientiertem Lernen setzt postkoloniale Kirchengeschichtsdidaktik bei den Lernenden an (Lindner, 2013, 16). Aus social media bringen Viele eine Sensibilität für die Bedeutung von „Gender“ und „Race“ mit, die aufgegriffen und für postkoloniale religiöse Lernprozesse fruchtbar gemacht werden kann. Studien zeigen, dass ein Interesse an (Kirchen-)Geschichte geweckt werden kann, wenn die „eigene → Lebenswelt erklärt“ wird (Riegel, 2013, 26) und der „Alltag in außeralltäglichen Zeiten“, „existentielle Entscheidungen“ und außereuropäische Geschichte thematisiert werden (Kölbl, 2009, 546).

Im Sinne einer „aufgeklärten Heterogenität“, die intendiert → Heterogenität im Sinne von Unterschiedlichkeit zu würdigen und Heterogenität im Sinne von sozialer Ungleichheit abzubauen (Grümme, 2017, 49-52;91), sollte sich ein postkolonial kritischer Religionsunterricht an den Lebenslagen der Schülerinnen und Schüler orientieren. Angesichts der Heterogenität der Schülerschaft werden die Lernprozesse zwischen Empowering und Selbstkritik changieren, da Schülerinnen und Schüler sowohl aus privilegierten als auch aus prekären Verhältnissen kommen und auch eine Geschichte als Schwarze Deutsche haben können. Es ist zu bedenken, dass Erfahrungen von Interdependenzen und Abhängigkeiten, „Verletzungen und Kränkungen“ aufgerufen werden können (Ziebertz, 2013, 385), durch die eine Abwehrhaltung gegenüber dem Lerngegenstand evoziert werden kann. Umso bedeutsamer ist es, die Betroffenen nicht zu viktimisieren, sondern auch ihre Agency (Handlungsmacht) und ihre vielschichtigen Strategien des Widerstandes aufzuzeigen.

Insbesondere in der Pubertät können Lernende eine Phase der Verunsicherung durchleben und Anerkennung und Orientierung suchen. Ihr Verlangen nach historischen Eindeutigkeiten („wissen zu wollen, wie es denn nun wirklich gewesen“ ist) kann mit der geforderten „radikalen Selbstreflexion“ kollidieren (Hinz, 2016, 13). Insofern sich „[h]istorisch verantwortliches Denken im geschichtswissenschaftlichen Sinn […] in der Sekundarstufe I“ ausbildet (Riegel, 2013, 28), sind entsprechende Lernprozesse eher in höheren Schulklassen anzusiedeln. Eine direkte Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie als Denkhaltung scheint am ehesten in der Sekundarstufe II Aussicht auf Erfolg zu haben (Hinz, 2016, 13-14).

Erschwerend kommt bei den Lernprozessen hinzu, dass die Institution Schule ein „Teil gesellschaftlicher Unterscheidungsformen, Routinen und Prozeduren der Zuweisung von Positionen“ ist, (Geier/Mecheril, 2021, 237) sodass ein wirkliches Lernen auf Augenhöhe kaum möglich sein wird.

Die Lernarrangements sollten die Historie mit möglichst verschiedenen und multiperspektivischen Quellen zugänglich machen, die einer gemeinsamen Analyse und Kontextualisierung, einem Sach- und Werturteil unterzogen werden, d.h. „in ihrer Zeitgebundenheit und der daraus resultierenden historischen Bedeutung“ erfasst (Linder, 2013, 16), vor allem aber in Hinsicht auf ihre „Bedeutung für Gegenwart und Zukunft“ eingeordnet und kritisch reflektiert werden (Lindner, 2013, 17).

Ein erster Schritt, koloniales Denken zu dekonstruieren liegt darin, zu lernen, „Vielfalt auszuhalten“ und → Perspektivenwechsel einzuüben (Nehring/Wiesgickl, 2018, 11). Hierbei müssen eingeübte Traditionen und Denkgewohnheiten hinterfragt und ggf. verabschiedet, die eigenen Wahrnehmungsmuster, Wertehaltungen, Privilegien und Denkvoraussetzungen überprüft werden (Nehring/Wiesgickl, 2018, 11). Eurozentrisches und rassistisches Denken soll aufgebrochen werden, die Konsequenzen des Neokolonialismus für die ausgebeuteten Länder und Menschen kritisch beurteilt und zeitgenössische Lebensentwürfe, die auf Konsumorientierung zielen, hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit für ein nachhaltiges globales Zusammenleben überprüft werden. Dies bedarf der sensiblen Einübung und didaktischer Zwischenschritte. Es gilt, die Dialogfähigkeit dahingehend zu stärken, dass die Lernenden aus Sicht Betroffener oder Nicht-Betroffener argumentativ am Diskurs teilnehmen können – wertschätzend sowie offen für konstruktive Streitgespräche. Lernende mit Migrationshintergrund oder BIPoC sollten nicht in eine Expertenrolle gedrängt werden.

Im Sinne der Sachkompetenz gilt es, Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart zu identifizieren und daran erkenntnisleitende Fragen zu entwickeln, historische Zusammenhänge zu ordnen, unter Bezugnahme auf grundlegende historische Fachbegriffe, so dass historische Frage-Kompetenz(en) und Orientierungskompetenz(en) gefördert werden: Die Kompetenz, das Geschichtsbewusstsein zu reorganisieren, das Welt- und Fremdverstehen mit der Einsicht in die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Bedingtheiten (Alterität) sowie das Selbstverstehen (Identität) zu reflektieren und zu erweitern (Schreiber/Körber/Borries/Krammer/Leutner-Ramme/Mebus/Schöner/Ziegler, 2006, 25-26). Zudem wird die Kompetenz angebahnt, ökonomisch-soziale Lebensbedingungen, kulturelle Kontakte und Konflikte in ihrem historischen Gewordensein zu reflektieren. Durch die Einsicht in das historische Gewordensein von Lebensbedingungen kann das Bewusstsein für die Bezüge und Abhängigkeiten von Subjekten und „Strukturen der Lebenswelt“ geschärft und biografisch-transitorisches Lernen ermöglicht werden (Ziebertz, 2013, 379). Schülerinnen und Schüler können erfahren, dass Kontexte prinzipiell transformierbar sind (Ziebertz, 2013, 380), wodurch die Handlungskompetenz gestärkt werden kann. Historische Methodenkompetenz wird gefördert, indem „De-Konstruktionskompetenz“ und „Re-Konstruktionskompetenz“ angebahnt werden (Schreiber/Körber/Borries/Krammer/Leutner-Ramme/Mebus/Schöner/Ziegler, 2006, 30). Postkoloniale Theorien sensibilisieren für Narrationen, die Machtausübungen und Unterwerfungen legitimieren. Sie regen an, eurozentrische Narrative zu hinterfragen und subalterne Stimmen wahrzunehmen. Zudem werden „Anlässe geschaffen, mit Hilfe von Imagination und unter Anknüpfung an Bekanntes selbst neue Narrationen zu generieren“ (Hinz, 2016, 15).

4. Desiderate und Material

Postkoloniale Kirchengeschichte ist bislang nur marginal in den Lehrplänen des RU verankert (z.B. in Lehrplan Katholische Religion Rheinland-Pfalz Sek II: „Jesus Christus und die Kirche; Inkulturation und Abschied vom Eurozentrismus“ und „Hoffnungen, Visionen, Entwürfe, Utopien“ sowie Evangelische Religion Hessen: Q4 Kirche und Christsein in der globalen Welt) und ein unter postkolonialer Perspektive ausgearbeitetes (Quellen-)Material für den Religionsunterricht ist ein Desiderat, das in den nächsten Jahren bearbeitet werden müsste. Zunächst kann auf geschichtsdidaktische Module (https://www.uni-siegen.de/codec-eu/module.html?lang=de) mit Audiomaterial und Filmen (https://demokratie.bildung-rp.de/koordinierungsstelle-gedenkarbeit-und-zeitzeugenbegegnungen/unterricht/themen/kolonialgeschichte.html) zurückgegriffen werden, um eine Sensibilität für einen postkolonialen Blick auf die Historie und Geschichtsnarrationen im Religionsunterricht anzubahnen. Ein Audioarchiv (https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/das_audioarchiv?nav_id=6523) mit Zeitzeugenberichten erschließt biografische Zugänge, einen kirchenhistorischen Zugang ermöglichen beispielsweise Fotografien aus Missionszeitschriften der Kolonialzeit (Hübner, 2022, 184-206) oder auch Kunst, wie das Wales Window von Ronald John Petts. Zudem kann die Methode des „kontrapunktischen Lesens“ fruchtbar gemacht werden, die sich an Edward Saids kontrapunktischer Gegenüberstellung westlich-imperialer Narrative und subalterner Erzählungen z.B. in Form von Gedichten, Liedern und Bildern orientiert (Dube, 1998, 118-135). Zukünftig müssten auch Dialoge zwischen einer jüdisch-christlichen Religionsdidaktik und postkolonialer Didaktik in Hinsicht auf Erinnerungslernen vertieft werden, wie es im Netzwerk narrt (https://narrt.de/ueber-das-projekt/) angebahnt ist.

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