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Offenbarung des Johannes, bibeldidaktisch

(erstellt: Februar 2023)

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Das Ende der Welt ist schon oft vorhergesagt worden. Inzwischen stimmen auch Networker und Influencer aller Richtungen ein: Die fetten Jahre sind vorbei! Die Schöpfung kollabiert! Offenbar legt die gegenwärtige Drangsal – ausgelöst durch militärische Aufrüstungen, durch die Bedrohung der Umwelt, durch Klimaveränderung oder gar durch die Corona-Pandemie – eine Endzeitprophetie nahe. Solche Szenarien verunsichern. Sie machen Angst, weil sie unkontrollierbar erscheinen.

Wie bekommen Menschen diese Ohnmachtsgefühle wieder unter Kontrolle? Ohnmacht entsteht nicht nur in lebensbedrohlichen Situationen. Ohnmacht entsteht immer dann, wenn die Betroffenen sich irgendwie ausgeliefert, macht- und hilflos fühlen. „Taking back control“ – dieser Slogan bringt es auf den Punkt. Auch die Johannesoffenbarung stellt sich dieser Herausforderung! Zugleich ist sie für die Religionspädagogik aktuell besonders interessant. Vor allem deshalb, weil dort elementare Strukturen und elementare Erfahrungen der Menschen damals und heute eng miteinander verwoben sind. Die Buchrolle, die von Johannes dem Seher überliefert ist, kann man nur verstehen, wenn es gelingt, die eigenen Erfahrungen, Erinnerungen und Bilder beim Lesen und Deuten wachzurufen und als Teil des Textes wahrzunehmen.

1. Elementare Strukturen

1.1. Zu Begriff und Phänomen der Apokalyptik

Die apokalyptische Vorstellungswelt hat ihre Wurzeln darin, dass (religiöse) Menschen die herrschenden Verhältnisse in der Welt als ausgesprochen ungerecht empfinden und das eigene Leben als hart und bitter. Dieses Gefühl kann so übermächtig sein, dass Menschen nicht mehr daran glauben, dass sie selbst die Kontrolle über ihr gegenwärtiges Leben zurückgewinnen könnten, obwohl – oder gerade weil - sie ihre eigene Existenz als fromm und gut verstehen. Wenn dem tiefgreifenden Ohnmachtsgefühl, das Leben nicht mehr im Griff zu haben, die Deutung einer bösen empirischen Welt und einer guten jenseitigen Welt zur Seite tritt, bleibt nur mehr eine pessimistische Deutung der eigenen geschichtlichen Wahrnehmung. Der apokalyptische Lebensentwurf in der Johannesoffenbarung konzentriert sich deshalb auf die jenseitige Heilsverwirklichung. Er fordert von diesem Ende her gesehen zur Entscheidung zwischen dem Thron Gottes und dem des Kaisers auf. Die Apokalyptik des Johannes richtet ihren Blick daher auf die Hoffnung einer zukünftigen Welt, in der Gott plant, entscheidet und handelt.

Für die Apokalyptik hat die Weltgeschichte einen Anfang (Alpha) und ein Ende (Omega). Dazwischen reihen sich verschiedene Zeiträume (Äonen). Johannes spricht nun in symbolischer Chiffrierung vom nahenden Weltende: Noch einmal wird die Welt vor ihrem Untergang vom Drachen (als Chiffre für das Böse) bedrängt und Krisen von epischem Ausmaß kündigen ihre Vernichtung an.

Als christliche Apokalypse ist die → Offenbarung des Johannes vor allem eine Heilszusage: der Herr der Geschichte hält trotz allen Unheils das Heft des Handelns in der Hand: Hoffnung und Freiheit werden die Endzeit prägen.

1.2. Das Reden vom Weltuntergang und dem himmlischen Jerusalem

Johannes gibt im Buch der Offenbarung eine zuversichtliche Antwort auf herausfordernde Lebensereignisse. Seine Schrift ist zugleich eine Quelle der Hoffnung, der Ermutigung und des Trostes. Dementsprechend endet es nicht mit einem Untergangsszenarium, sondern mit dem starken Hoffnungsbild eines neuen Jerusalems. Vom Himmel kommt die perfekte Stadt auf die Erde herab (Offb 21,1-8), in der es keine Not und keine Krankheiten mehr gibt (Offb 21,4). Die paradiesische → Schöpfung Gottes wird von Neuem aufgerichtet; eine Schöpfung, in der Gott selbst bei den Menschen wohnt. So macht der Seher Johannes den kleinasiatischen Gemeinden Mut und bestärkt sie in ihrem Sinnentwurf. Denn das letzte Aufbäumen der gegengöttlichen Mächte wird erfolglos sein. Der Grund hierfür ist Tod und Auferstehung Christi (Offb 1,5), des Lammes Gottes (Offb 5,8;17,14;21,23).

Daher inszeniert und strukturiert Johannes seine Schrift durch sieben einzelne Briefe des erhöhten Christus an die Gemeinden in der Provinz Asia (einer antiken Landschaft und römischen Provinz).

1.3. Johannes, der Regisseur

Wahrscheinlich war der Verfasser der Offenbarung ein Wanderprediger, welcher die sieben Gemeinden, an die er schreibt, zuvor besucht hatte: Ephesus, Smyrna, Pergamon, Thyatira, Sardes, Philadelphia und Laodizea (Offb 1,9-20). Offenbar erfuhr er auf der Insel Patmos (Offb 1,9) eine Enthüllung Christi (Offb 22,8) und sah sich zur Weitergabe seiner Visionen verpflichtet. Hier geriet er ins Visier der römischen Staatsmacht. Darüber hinaus bleibt Johannes unbekannt und sein Schicksal im Verborgenen.

Der Entstehungszeitpunkt der Offenbarung um 100 n.Chr. weist darauf hin, dass Johannes die prophetisch-jüdische Heilshoffnung, freilich in seinem Glauben als Christ, teilt. „Judenchristlich ist die Apk im Sinne einer Position, die noch ein Miteinander von Judentum und Jesus-Nachfolge sucht, also unbeschadet der aufgebrochenen Spannungen noch vor das ‚Auseinandergehen der Wege‘ (‚Parting of the Ways‘) gehört, d.h. noch vor die endgültige Trennung von Christentum und Judentum“ (Karrer, 2017, 64). Auch die offensichtliche Nutzung der prophetischen Texte des AT zeigt die enge Beziehung zwischen seiner ntl. Schrift und den atl. Schriftrollen. Diese Feststellung bewahrt vor einer Trennung zwischen Johannes und dem Judentum. Demzufolge betrifft der antijüdische Vorwurf der Aussage von Johannes über die „Synagoge des Satans“ (Offb 2,9 und 3,9) wahrscheinlich einzelne Personen oder allenfalls Gruppierungen, richtet sich aber nicht gegen das Judentum als Glaubensgemeinschaft im Allgemeinen. Im Gegenteil: Johannes ist neben den hebräischen Schriften vor allem durch die Heilshoffnung und das prophetische Wirken im Judentum tief verwurzelt. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Übersetzung des griechischen Wortes synagoge in ntl. Zeit noch nicht so eingeschränkt im Blick auf das Judentum verwendet wird. Die deutsche Übersetzung mit dem Lehnwort → Synagoge führt zu einem Missverständnis, denn es ist im Bewusstsein heute ein Synonym für einen Versammlungsort und ein Bethaus im Judentum. Eine passendere Übersetzung von Synagoge (abgeleitet vom griechischen Verb synago – versammeln) bezeichnet allgemein (Menschen-)Versammlungen.

Unter diesen Vorzeichen entfaltet Johannes seine Offenbarung als Spiegelung atl. Hoffnung. Spuren der atl. Texte fügen sich nahtlos in seine Buchrolle ein und bleiben als solche erkennbar. Johannes benutzt mehr als 580 Zitate bzw. Anspielungen auf Schriften des AT. Beispielsweise beschreibt Johannes in der Eröffnungsvision die Gestalt des Menschensohngleichen (Offb 1,12-16) mit Motiven der Thronvision aus dem Buch Daniel (Dan 7,9.13;10,5f.). Oder er greift auf Ez 2,9 zurück, um die prophetische Buchrolle in Offb 10,2 vorzustellen. Demgemäß kann man die Johannesoffenbarung als „eine Collage von Bildzitaten aus den prophetischen Büchern“ (Backhaus, 2004, 429) bezeichnen. Der Seher schreibt im Dialog mit dem AT. Er verbindet seine Schrift mit der hebräischen Bibel und ihren Codes. Dies nennt man → Intertextualität. Hier wird die Grenze zwischen lesendem und schreibendem Subjekt verwischt.

Der mysteriös wirkende Aufbau weckt die Fantasie und fordert heraus, sich den Text mit eigenen Bildern vorzustellen und lebendig werden zu lassen.

Johannes tritt wie ein Regisseur auf. Entsprechend werden die Leserinnen und Leser zu Beginn in die Rollen und deren Bildwelt eingeführt. Dann lernen sie die Welt der Apokalypse kennen und gewinnen einen ersten Einblick in die Symbole und Motive des Buches. Nicht von ungefähr greift der Autor die Bilder dieser Eröffnungsvision in den Sendschreiben wieder auf. Die spannende Dramaturgie erschließt sich aber erst mit den Schlussszenen.

Das Buch lässt sich folgendermaßen gliedern:

Einführung ins Buch mit Charakterisierung Jesu

Vorwort und Einleitung (1,1-20):

Beschreibung des Zustandes in den Gemeinden

7 Rund- (Send)schreiben (2,1-3,22)

Antizipation des Zukünftigen (Visionsteil)

7 Siegel (6,1-8,1);

7 Posaunen (8,2-11,19)

7 Schalen des Zorns (15,1-16,21)

Apokalyptische Hoffnung 3 Ausgänge

Der Untergang Babylons (17,1-19,10)

Der letzte Kampf (19,11-20,15)

Der neue Himmel und die neue Erde (21,1-22,5)

Buchschluss Fazit

1.4. Bruch mit dem gängigen Weltverständnis

Johannes möchte seine Leserinnen und Leser die Erlösung mit allen Sinnen spüren lassen. Deshalb schreibt er keine systematische Abhandlung zum Thema „Erlösung“, sondern erzählt in Bildern und in Symbolen. So wie er das Buch des Engels isst (Offb 10,10), so sollen sich die Leser die Schrift einverleiben. Das Aufessen des „kleinen Buches“ bedeutet, dass dessen heilschaffende Wirkung leibhaftig erfahrbar werden muss. Das Essen der Buchrolle führt in der Vision im zehnten Kapitel sogar zu einer bitteren und süßen Wirkung (Offb 10,10). Die Verkündigung „wird für die christliche Gemeinde ‚süß‘ sein (vgl. Ps 19,11; 119,103), denn sie wird sie im Gericht heilsam bewahren (vgl. 11,1f.), aber sie wird für den Propheten ‚bitter‘ sein, denn er wird selbst bittere Verfolgung riskieren müssen (vgl. 11,3-13)“ (Ritt, 1986, 59). Es geht also um den Nachvollzug der Visionswelt mit allen Sinnen. Das ist die Art, wie Johannes Theologie betreibt: sinnenhaft und weniger verkopft oder argumentierend. Zugleich schaut er gemeinsam mit den Leser und Leserinnen gebannt auf den sich zuspitzenden Konflikt, den kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse. Mit seiner Buchrolle ruft er zum (passiven) Widerstand gegen Verfolgung, Ablehnung und Ignoranz auf, aber auch gegen falsche Propheten und Verschwörungstheorien.

1.5. Ein sinnlicher Zugang in der mysteriös wirkenden Bilderwelt

Der Seher Johannes geht dem Dasein Gottes und dem Erlösungswerk Jesu in dieser Welt nach und sucht Antworten auf seine persönliche Erfahrung der Bedrohung und Verfolgung. Der Text verneint die Annahme, dass der Mensch Gotteserkenntnis aus sich selbst heraus erreichen kann. Doch am Ende der Zeit werden die Geheimnisse, die schon mit dem Schicksal von Jesus Christus → Christus/Christologie) eingetreten sind, offen zutage treten. Diese individuelle Bindung des Apokalyptikers an den Gott seiner Erfahrung belegen seine Träume, Visionen, Epiphanien und Weisungen etc.

1.5.1. Die Grenzen unserer Erfahrungen – und unserer Hoffnung

Ausgangspunkt der apokalyptischen Deutung der Weltgeschichte ist ihre Wahrnehmung als eine lineare und determinierte Geschehensfolge. Dadurch stellt der Prophet der bösen diesseitigen Welt eine verborgene gute jenseitige Gegenwelt gegenüber. So stellt sich mit der Erfahrung von Unterdrückung, Leid und Elend besonders die Frage nach der Anwesenheit und Gerechtigkeit Gottes: Fragen, die sich auch heute immer wieder stellen.

Eine Welt ohne Gott belässt die Opfer als Opfer; wenn keiner am Ende für Ausgleich und für Gerechtigkeit sorgt, haben die Schurken gesiegt. Womöglich ist die angstvolle Erfahrung, Opfer zu sein, die Initialzündung (und Glaubensüberzeugung) aller Apokalyptik: am Ende steht nicht das Nichts, sondern ein heil- und gerechtigkeitsschaffender Gott. Auch bei Johannes spielt die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes eine wichtige Rolle, denn Gott sorgt am Ende für Gerechtigkeit. Für die Glaubenden wird klar, dass es Gott ist, der handelt und Heil schafft. Der unmittelbaren Not und Bedrängnis wird Gottes zukünftiges Eingreifen entgegengestellt.

1.5.2. Zukunft gestalten: Zwischen existentiellen Sorgen und Selbstinszenierung

Die Johannesapokalypse ist, wie schon mehrfach betont, kein historisch-biographischer Bericht, aber sicher nicht nur eine Sammlung von Legenden oder Mythen. Der Seher berichtet davon, wie es ist, in der Nachfolge Jesu zu leben sowie Verfolgung und Ausgrenzung zu erfahren.

Rein historisch betrachtet, überzeichnet der Seher die Situation und Lage der Christen in der Provinz Asia. Von einer flächendeckenden Verfolgung der christlichen Minorität ist unter Kaiser Domitian am Ende des ersten Jahrhunderts n.Chr. nicht auszugehen. Möglicherweise gab es Übergriffe und es wird sicher soziale wie wirtschaftliche Nachteile für die Christen gegeben haben. Doch die Vielzahl der erwähnten Märtyrer und die zähnefletschende Darstellung eines wütenden Römerreichs stimmen mit der historischen Situation nicht überein.

Dem Propheten Johannes geht es nicht um einen historischen Rückblick, sondern um seine Erinnerung (→ Erinnerung/Erinnerungslernen), die er auf seine Adressaten hin erzählt. In der so gefilterten Erinnerung kommt das Interesse an der Geschichte und die stets notwendige Deutung dieser Geschichte zusammen; Vergangenheit und Gegenwart lassen sich nicht trennen.

Johannes verbindet seine subjektive Wahrnehmung und seine Deutung mit dem, was er in der Provinz Asia erlebt hat. Er erinnert an das, was passiert ist (Vergangenheit), wie es verstanden wird (Gegenwart) und was es für die Adressaten und ihren Glauben bedeutet (Zukunft). Vergangenheit wird (nur) bedeutsam im Blick auf die Gegenwart und Zukunft.

1.6. Die Erinnerungen der besonderen Art

Mit der Johannesapokalypse lässt sich dieser Dreiklang lernen: erinnern – deuten – erfahren. Johannes deutet seine Erlebnisse als eine handfeste Krise. Diese Erfahrung – über alle objektiven historischen Fakten hinaus – bestimmt seine Erinnerung. Seine eigenen individuellen und wahrscheinlich sehr negativen Erlebnisse als Christ fließen in seine Erzählungen ein und prägen sie. Der Glaube, dass das Reich Gottes am Ende Drangsal und Not beenden wird, bestimmt demzufolge die Dramaturgie der Erinnerung. Das Hoffnungspotential der Verkündigung hat also eine eschatologische Dimension und verweist – typisch für die Apokalyptik – auf das Weltenende.

1.7. Clear Vision – Gottes neue Schöpfung

Manchmal sieht sich der Mensch unerbittlichen Gegenkräften gegenüber, wie sie im Grauen der letzten Tage erwartet werden. Das sind die aggressiven Tage der Gottesbestreiter. Bei Johannes treten die vier apokalyptischen Reiter als Boten der nahenden Apokalypse, des Jüngsten Gerichts auf: Machtmissbrauch, Krieg, Hungersnot und Tod (Offb 6,9-11).

Der Seher Johannes kennt diese Angst machenden Vorgänge, aber auch die entgegenstehende Hoffnung und beschreibt sie in zwei Visionen (Offb 21): Die Erschaffung der neuen Welt und das Erscheinen des himmlischen Jerusalems.

1.7.1. Die Erschaffung der neuen Welt

Die Geschichte der Welt ist abgeschlossen, das Buch der Zeit zugeklappt. Es ist nichts mehr hinzuzufügen! Mit Johannes schauen die Lesenden in das hinein, was nach dem Ende kommt: ein neuer Himmel und eine neue Erde. Es ist eine unvorstellbare Welt: Die neue Welt ist ganz und gar die Heimat der Menschen. Alle Gefahren und Bedrohungen, Klimakrisen und Epidemien, alle Unergründlichkeiten und Unheimlichkeiten sind fortgefallen. Die Naturgewalten, denen Menschen bis heute weitgehend hilflos gegenüberstehen, sind vollständig aufgehoben und aufgelöst.

1.7.2. Das Erscheinen des himmlischen Jerusalems

Mit der zweiten Vision, dem Erscheinen des himmlischen Jerusalems bestätigt Johannes das erste Bild. Er beschreibt in seiner Schau die denkbar innigste Verbundenheit zwischen Gott und Menschen: Gott selbst wird bei den Menschen wohnen und sie werden seine Völker sein. Das himmlische Jerusalem ist seine Braut. Der Visionär weitet das traditionelle jüdische Bild aus. Er überträgt es auf die künftige Beziehung zwischen Gott und allen(!) Völkern der Erde.

1.7.3. Die reinigende Lösung – ein dramatisches Ende

Am Ende seines Buches bringt Johannes diese strahlenden Bilder. Alle Folgen der Gottesferne und Gottlosigkeit sind aufgehoben. Es gibt kein Leiden und keine Trauer mehr; keine Klagen über verpasste Chancen und ungenutzte Möglichkeiten. Die ganze Erde ist ein einziges Land, die ganze Menschheit eine einzige Gemeinschaft. Alle bisherigen Maßstäbe und Denkkategorien reichen nicht aus, um das Kommende zu erfassen. Diese Bilder malt Johannes. Es sind Bilder, die mehr sagen als viele Worte: Bilder zum Nach-denken. Die Stimme Gottes verspricht: Seht her, ich mache alles neu!

2. Elementare Erfahrungen

Krieg, Krankheiten, Chaos und Krisen sind Voraussetzung für das Entstehen von endzeitlichen Theorien. Menschen, die Angst haben, fühlen sich emotional bedroht und geraten in Panik. Wie Brandbeschleuniger wirken dann gesundheitliche und wirtschaftliche Nöte. In solchen existentiellen Bedrängnissen werden Fragen nach den Ursachen und Konsequenzen, nach dem Sinn und nach der Zukunft gestellt. Manche Menschen kommen mit der Ungewissheit nicht zurecht. Für sie sind einfache Erzählungen verlockend, die einen Schuldigen oder böse Mächte kenntlich machen. Das sind einfältige Antworten, wie sie etwa die Verschwörungstheoretikerinnen und Endzeitpropheten in den sozialen Medien anbieten. Manche klingen sogar für Christen plausibel, denn in Verschwörungstheorien gibt es keinen Zufall. Der Teufel, der Antichrist oder die göttlichen Strafen sind für sie einleuchtende Erklärungen.

Wie ein roter Faden ziehen sich Unrecht, Unterdrückung und Ohnmacht durch die ganze Menschheitsgeschichte. Mobbing, (Cyber-)Bullying, Angst, Leid und Tod sind existentiell bedrohliche Erfahrungen von Menschen. Gibt es überhaupt ein Überleben ohne die Hoffnung auf eine gute und gerechte Zukunft?

So vielfältig wie der Begriff Apokalyptik verwandt wird, so vielfältig und unklar sind auch die Bedeutungen, die mit ihm verbunden werden. Kinder und Jugendliche kennen die unterschiedlichen Vorstellungen: In moderner Musik, Filmen, Jugendromanen oder Computerspielen finden sich drohende Weltuntergangsszenarien, die dann von einem Helden bzw. einer Heldin (z.B.: Katniss Everdeen in „Tribute von Panem“, Harry Potter und seine Konfrontation mit Voldemort, James Bond usw.) gestoppt und verhindert werden.

In der Lebenswelten von Schülern und Schülerinnen spielen zentrale Gedanken der Apokalyptik eine große Rolle. Insbesondere in der Pubertät, in der diese nach Halt und Orientierung suchen, ist das dahinterstehende Phänomen, nämlich die Suche nach Sinn und Gerechtigkeit, von besonderer Relevanz.

3. Elementare Wahrheiten

Am Ende der Tage erfüllt sich die Hoffnung der Apokalyptiker, dass Gott für einen Ausgleich sorgt. Denn den Opfern der Gegenwart wird die verdiente Gerechtigkeit widerfahren. Möglicherweise ist diese Grundüberzeugung die angstvolle Initialzündung der johanneischen Offenbarung: Am Ende steht nicht ein Nichts, sondern ein Heil und Gerechtigkeit schaffender Gott. Vielleicht ist der Gerechte-Welt-Glaube der Booster-Stoff für die Überzeugung, dass jeder am Ende bekommt, was er verdient und verdient, was er bekommt. Es tröstet die Menschen im Hier und Jetzt, dass den beobachteten Opfern dieser Welt am Ende Gerechtigkeit widerfährt. Im apokalyptischen Text bricht die Hoffnung auf ein sinnhaftes Leben durch. Diejenigen, die Leid und Not erfahren, die getötet werden und welche die Erfahrung der Zerstörung des Lebens machen müssen, sind in Gottes Gerechtigkeit rehabilitiert. Johannes tritt als Zeuge für ihre Lebenswürde auf.

Dennoch stellen sich die Fragen, ob das Christentum das Potenzial hat, sich in den gegenwärtigen Krisen zu bewähren. Ob nun das Coronavirus, die Gefährdungen durch Klima- und Umweltkrise oder gar der Krieg in der Ukraine in den Blick genommen werden, ist die Botschaft Christi, wie sie Johannes verkündet eine ungeheure Ansage. Stehen die Christen noch treu zur Botschaft oder müssen sie sich grundlegend neu ausrichten? Haben sie überhaupt noch Träume und Visionen, die Orientierung geben können?

Diese von Johannes damals gestellten Fragen können Jugendliche heute einladen, ihre Wünsche, Ängste und Sorgen zu formulieren. Erinnerung ist eine spannende Kategorie: Woran erinnert man sich? Welche Bedeutung hat die Erinnerung für die Gegenwart? So werden Schülerinnen und Schüler herausgefordert, unterschiedliche Weltinterpretationen mit ihren entsprechenden Menschenbildern und Lebensentwürfen zu hinterfragen.

Der Prophet bestärkt Menschen, ihre Erinnerungen und Erfahrungen ernst zu nehmen, ihnen zu vertrauen – denn auf das Zeitgeschehen lässt sich immer auch aus unterschiedlichen Perspektiven blicken. Johannes schöpfte seine Hoffnung aus verschiedenen Blickwinkeln und Büchern. Er liest die großen Propheten des AT und beim Lesen geht ihm etwas auf. Dabei ist immer zu beachten, dass die eigene Wahrnehmung mitbestimmt, an was sich Menschen erinnern und wie sie Welt deuten.

Tragfähiger Sinn wird nicht automatisch mit der Verkündigung vom himmlischen Jerusalem mitgeliefert, sondern an die Zuversicht und den Glauben an Gottes neue Schöpfung gebunden. Das Hoffnungspotential der Verkündigung hat also eine eschatologische Dimension und verweist – typisch für die Apokalyptik – auf das Weltenende. Vielleicht kann Johannes mit seinen ausdruckstarken Bildern trösten. Was er sicherlich nicht beabsichtigt, ist, zu vertrösten. Denn, wenn er von dem Ende der Zeiten spricht, hat er die Gegenwart im Blick: Die jetzt Lebenden müssen sich entscheiden! Sie tragen die Verantwortung dafür, ob für sie eine solche Zukunft möglich ist!

Der Prophet tritt hier nicht nur als Sammler von Einzelgeschichten auf, sondern erweist sich als kreativer Theologe, der das Heilsgeschehen Gottes mit Israel aus der Perspektive des Apokalyptikers neu interpretiert und aufgrund der Christuserfahrung verkündet, damit diese Wahrheit im Hören und Lesen dieser Schrift neu entstehen kann.

4. Elementare Lernwege

Aufgabe bibeldidaktischer Vermittlung ist es, mit Hilfe der Wissenschaften, besonders der neutestamentlichen Exegese, legitime Auslegungsspielräume zu eröffnen. Lässt man sich auf die Apokalypse ein, werden körperliche und auch sprachliche Verhaltensmuster aktiviert.

1. Johannes lässt Bilder und Szenen im Kopf der Lesenden entstehen, denen nicht mit Logik und einer textwissenschaftlichen Zerstückelung beizukommen ist. Der mysteriöse Text entwickelt sich wie ein Science-Fiction Film und sollte deshalb entsprechend didaktisch und methodisch aufgearbeitet werden: Je nach Klasse und didaktischer Phase bietet sich an: sukzessives Lesen, Storyboard, eingefrorenes Bild oder Standbild erstellen, szenische Analyse, Interview der Lehrenden etc.

2. Der Verfasser greift auf atl. Hoffnungs- und Glaubenstexte zurück, die ihm die Bilder und Sprache zur Verfügung stellen, die Heilsbotschaft in einem neuen Interpretationsrahmen zu verkünden. Diese Intertextualität hat aber Konsequenzen für die Lektüre. Ein Intertext kann man nicht linear und für sich allein verstehen, da er selbst nicht linear angelegt ist. Der Verstehensprozess ist basal auf den Dialog angewiesen.

3. Eine wortwörtliche Auslegung verführt in falsche Sicherheiten. Es gibt verquere, abdriftende Interpretationen, wie antisemitische und antijudaistische Auslegungen. Eine vordergründig symbolische Deutung oder ein rein assoziatives Interpretieren ohne Korrektive birgt die Gefahr des Missbrauchs der christlichen Apokalyptik in sich – wie die vielen Weltuntergangsfantasien belegen. Deshalb ist darauf zu achten, dass die Rezeption eines Textes zwar subjektiv, aber nicht willkürlich ist.

4. Verständlichkeit ist sicher nicht das erste Anliegen der Apokalyptik. Solange man während der Vermittlung des apokalyptischen Textes nur an Übersichtlichkeit und Überprüfbarkeit denkt, hat man schon halb verloren. Ein Text der literarischen Gattung Apokalypse legt es geradezu auf kognitive und emotionale Widersprüche an. Im übertragenen Sinn brechen apokalyptische Visionen mit dem gängigen Weltverständnis durch ihre Andersartigkeit.

5. Mit trockener Logik oder einer textwissenschaftlichen Zerstückelung kann man den Bibeltexten und besonders der Apokalypse nicht näherkommen. Eine rein kognitive Erklärung der Bilderwelt der Johannesoffenbarung ist für viele Lesende wahrscheinlich blutleer und langweilig. Die Entdeckung emotionaler Identifikation gilt es gemeinsam mit dem Seher zu initiieren und die unterschiedlichen Perspektiven zur Wirkung zu bringen. Indem neben dem Intellekt auch die Sprache der Sinne ins Spiel kommt, werden kreative Fähigkeiten gefördert von und einer einseitigen Verkopfung entgegengewirkt.

6. Das Eintauchen in die Wirklichkeit des Textes im Dialog mit der eigenen Wirklichkeit setzt spontan und intuitiv eine Begegnung mit dem biblischen Text in Gang. Hierzu steht eine Vielzahl von Methoden zur Verfügung, wie ein → Bibliolog, Bibel-Teilen, meditatives Gestalten oder das Bible-Art-Journaling. Der Apokalyptiker bietet im Text sozusagen eine Art Farben-Spektrum, ein Musik-Spektrum oder auch ein Nachverfolgen der Gerüche und Geräusche: Der Text wird auch über Farben (rot, giftgrün, schwarz…), → Musik (die Hymnen im Himmel, das verklingende Flötenspiel in Babylon) und die Gerüche (Weihrauch im Himmel, verbranntes Fleisch auf Erden…) vermittelt.

7. Mit Johannes lässt sich entdecken, wie Menschen auch nach schwer zu bewältigenden inneren und äußeren Krisen ihre Leben wieder in den Griff bekommen und wie sie auch in den schweren Zeiten einen tragfähigen Sinn finden.Eine solche Lebenseinstellung kann Lernende ermutigen, ihre eigenen Erfahrungen, Träume und Visionen ernst zu nehmen, sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen, aber auch sich an ihnen auszurichten. Sie lernen, dass es sich lohnt, sich selbst treu zu bleiben und seinen Wahrnehmungen zu vertrauen.

8. Ein didaktisches Problem (im Sinne des Identifikationslernens) liegt m.E. darin, dass Johannes persönlich unbekannt ist und sein Schicksal im Verborgenen bleibt. Um eine Unterrichtseinheit über den Seher nicht in eine Unentschiedenheit auslaufen zu lassen, bietet es sich an, aufzuspüren, wie wichtig die Wahrnehmung der eigenen Gefühle und Erfahrungen ist, auch wenn noch keine endgültige Problembewältigung vorliegt. So stärken Schülerinnen und Schüler ihr Selbstwertgefühl, werden sensibel gegenüber Manipulationen, nutzen ihre Gefühle und entwickeln Resilienz. Sie lernen Unsicherheiten und Unheilserfahrungen in ihrer Lebenswelt wahrzunehmen und Strategien kennen, um diese zu überwinden. Das Ende einer Unterrichtseinheit, die die Offenbarung behandelt, kann deshalb noch ein deutliches Gewicht auf die gereifte Erkenntnis des Sehers legen, dass Gottes Eingreifen in eine scheinbar unheilvolle Welt möglich und heilsam ist.

Betrachtet man die Johannesapokalypse, fällt auf, dass der Seher mit seinen Bildern und Visionen einfache Wahrnehmungsmuster durchkreuzt. Simple Antworten gibt er nicht, sondern ermutigt dazu, treu Gottes neue Schöpfung im Glauben zu erwarten. Dieser gründet in Jesus Christus und erwartet das endzeitliche Jerusalem. Das ist der entscheidende Match in der Christusnachfolge, auch und gerade in Zeiten der Bedrängnis: Aktives Vertrauen in die → Gerechtigkeit Gottes am Ende der Zeiten.

Literaturverzeichnis

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