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Natur-Kultur-Verhältnis, ethnologisch

Andere Schreibweise: nature-culture; indigeneity; evolution; cultural anthropology; structuralism; ecology; myth; kinship

(erstellt: März 2023)

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1. Was ist Ethnologie? Definition und Bedeutung für die Religionspädagogik

Im Zentrum des ethnologischen Denkens zum Verhältnis von Natur und Kultur steht die Fragekombination, was an der Gattung Mensch universal und was an den Kulturen des Menschen spezifisch ist (→ Kulturanthropologische Religionsforschung/Religionsethnologie). In der Erforschung dieser Fragen reflektieren Ethnologen und Ethnologinnen bis heute die facettenreiche Geschichte der Disziplin, ihre Voraussetzung und Methodik. Die Breite ethnographischen Arbeitens zum Natur-Kultur-Verhältnis lässt sich hier in keiner Weise abbilden, aber doch an Blitzlichtern exemplarisch illustrieren. Die angeführten Beispiele sind auf Belange der Religionsforschung präzisiert.

Die Ethnologie ist als eine Phase in einem dreischrittigen System zu verstehen, als ein vergleichendes Wissensfeld zwischen Ethnographie und Anthropologie (Lévi-Strauss, 1963, 354). Auf der einen Seite steht die Feldforschung, eine theoriegeleitete, teilnehmende Beobachtung von zunächst außereuropäischen, schriftlosen Kleingesellschaften, für die Ethnologen und Ethnologinnen nicht nur die lokalen Sprachen studierten, sondern einzigartige Methoden entwickelten, die heute über die Ethnologie hinaus Anwendung finden (Girtler, 2010). Auf der anderen Seite geht es um die ethnologisch-anthropologische Theoriebildung, insofern sich Fragen nach den Konstanten und Universalien des Menschseins stellen. Diese theoretischen Reflexionen unterscheiden sich insofern von der philosophischen → Anthropologie, als letztere das Natur-Kultur-Verhältnis reflektiert, ohne ihre Überlegungen auf ein ethnographisches Fundament zu stellen. Wenn im Folgenden von Anthropologie die Rede ist, so ist hier eine sozial-, kultur- und öko-anthropologische Wissenschaft gemeint. Dabei handelt es sich um eine besondere Kombination von deduktivem und induktivem Schließen: Erkenntnisse sind zwar empirisch verankert, aber nicht exakt reproduzierbar, da im Zuge der teilnehmenden Beobachtung auch die subjektiv erlebte Interaktion der Feldforschung in anthropologische Wissensbestände integriert wird (Descola, 2005, 72).

In Theorie und Methode stehen Ethnologie und Anthropologie durchaus zwischen den exakten Natur- und den hermeneutischen Geisteswissenschaften. Je nach Standort changiert auch die Art, wie die verschiedenen Impulse aus Biologie, Ökologie, Linguistik, Psychologie, Medizin usw. integriert werden. Insbesondere in Frankreich, Nordamerika und Großbritannien nahmen und nehmen Ethnologinnen und Ethnologen auch an gesellschaftlichen Diskursen teil, eingebettet z.B. in koloniale und postkoloniale Kontexte. Diese historische Kontingenz der Ethnologie führt zu international versetzten Rezeptionen, die z.B. in Deutschland kaum, bzw. recht verspätet aufgenommen werden (Mertens, 2014).

Für die Religionspädagogik ist die Ethnologie in mehrfacher Hinsicht relevant: Für die Religionsforschung, da sie den Zusammenhang von rituellem Handeln und Weltanschauung beschreibt, ohne primär nach Religion zu fragen, und damit zur Schärfung derjenigen Begriffe hilfreich sein kann, die Religion in soziokulturellen wie ökologischen Verflechtungen erfassen (Dietzel, 2014).

In der Pädagogik gibt es bereits Überschneidungen mit Ansätzen der historischen Anthropologie (Wulf, 2014), die nun auch zunehmend in religionspädagogischen Reflexionen zur Christologie und Mensch-Gott-Beziehung Anklang finden (Schlag/Simojoki/Schweitzer, 2014). Zentral ist auch hier der Bildungswert sozial-ökologischer Zukunftskompetenzen für den Menschen im Anthropozän (Wulf, 2020).

Dennoch bleibt ethnologisches Wissen wenig verbreitet: So bedeutsam die Idee des „edlen Wilden“ (Rousseau) auch für das Menschenbild der europäischen Aufklärung war, so bleiben die Weltbilder der indigenen Kulturen, die Europa einst als „wild“ bezeichnete, bis heute ein Rätsel: Verstehen wir wirklich, was gemeint ist, wenn die Menschen als Kinder des Mais, oder Jäger als Schwiegerverwandte der Jagdtiere beschrieben werden? Die in Schulbüchern noch geläufige Bezeichnung der „Naturreligion“ ist hier nicht nur unscharf, sondern unpassend, denn sie suggeriert, dass unser Naturbegriff transkulturell anwendbar sei.

2. Ethnologische Theoriebildung im Spiegel westlichen Denkens

In seiner Anthologie zum europäischen Denken über Natur und Kultur, „Traces on the Rhodian Shore“ ([1967] 2020), identifiziert Clarence J. Glacken (1909-1989) drei große Ideen, die von ihren griechisch-römischen und judäo-christlichen Wurzeln her bis ins 18. Jahrhundert bestimmend sind: die Idee einer Schöpfung, in deren Mitte der Mensch in Beziehung zur schöpfenden Macht steht, die Idee des Einflusses der Natur auf die Menschheit, sowie drittens die Idee einer Natur als Ressource und Produkt menschlicher Schaffenskraft.

Der ersten Idee nach erscheint die Welt als Kosmos mit Sinn und Zweck teleologisch ausgerichtet, z.B. auf Erlösung. Charakteristisch sind hier die biblischen Schöpfungserzählungen, in denen der Mensch sowohl als Ebenbild Gottes als auch als Teil der Schöpfung, als Gärtner Edens sowie Herrscher über die Natur gedacht wird. Dabei sind kosmologische Natur-Kultur-Verhältnisse nicht notwendig religiös – das Prinzip des Holismus findet sich auch jenseits des von Glacken untersuchten historischen Zeitraums: Die Ökosystemtheorie (Tansley, 1935) verortet menschliches Handeln in einer Gesamtheit ökologischer Wechselwirkungen und vermisst diese Gesamtheit in Bezug auf Stoffwechselkreislauf, Energiefluss und ökosystemischer Tragekapazität. Auch szientistische Versionen der ersten großen Idee bleiben für (Re-)Sakralisierung offen, z.B. im New-Age-Weltverständnis der planetarischen Gaia-Hypothese (Lovelock/Margulis, 1986).

Die zweite große Idee erscheint bereits in antiken Vorstellungen vom Einfluss des Klimas und der Topographie auf Gemüt und Physiologie des Menschen (Hippokrates) oder auf Formen der politischen Ökonomie (Thukydides). Solch Geodeterminismus bleibt auch über das 18. Jahrhundert hinaus bezeichnend, z.B. im Lebensraum-Begriff der Anthropogeographie Friedrich Ratzels (1844-1904), oder in der Kulturökologie der 1960er Jahre.

Schließlich kreist westliches Denken um die Kulturbegabung des Menschen, Wildnis sowohl zu konservieren, als auch in Kulturlandschaft zu verwandeln. Hier zeigt der Mensch ein scheinbar unerschöpfliches Reservoir von Strategien, um den Naturdeterminanten zu begegnen; der Mensch schafft aber nicht nur Gärten, sondern auch Einöden. So steht diese dritte große Idee neben dem Fortschrittsglauben heute einer Zivilisationskritik zu Diensten, die sich angesichts der Zerstörungskraft menschlichen Handelns als Warnerin an die Weltgemeinschaft wendet (Crutzen, 2019).

Mitte des 19. Jahrhundert tritt das Wissen um die Evolution hinzu – ein Paradigmenwechsel, der bekanntlich das schöpfungstheologisch fundierte Weltbild ins Wanken bringt, doch keine der drei Ideen wirklich ablöst, sondern sie modifiziert. War die Idee von Entwicklungsstufen des Menschen nichts Neues, so bringt Darwins „Descent of Man“ (1871) eine neue Linearität in die Evolution von Mensch und Kultur: Die Geschichte der Menschheit wird fortan entlang makroskopischer Entwicklungsachsen und Stufenphasen imaginiert, den Mechanismen von Selektion und Anpassung unterworfen. In diesem Kontext entstehen die ersten ethnologischen Lehrstühle. Seither streiten auch in der Anthropologie kulturalistische und naturalistische Perspektiven miteinander, viele Ansätze suchen das Natur-Kultur-Denken zu überwinden.

2.1. Kultur als Argument im Menschenbild der Evolution

Die frühe Ethnologie führt Kultur als Argument gegen den Polygenismus ins Feld: Überall sei der gleiche homo rationalis am Werk, mit identischer geistiger Fähigkeit, sei er nun ein Mitglied „primitiver“ oder „zivilisierter“ Gesellschaften. Im Monogenismus gründet auch die Suche nach anthropologischen Konstanten. Edward Burnett Tylor (1832-1917) definierte 1871 Kultur als

"[...] jenes komplexe Ganze, das Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten umfasst, die sich der Mensch als Mitglied der Gesellschaft erworben hat" (Tylor, [1871] 2018, 15).

Die Religion verstand Tylor als integralen Bestandteil von Kultur, minimal umrissen als Glaube an eine beseelte Natur, als Animismus, der als frühes Entwicklungsstadium dem Polytheismus vorangehe. Kulturelle Gemeinsamkeiten primitiver und zivilisierter Gesellschaften sah er als „Überbleibsel“ aus früheren Stadien.

Mit Émile Durkheim (1858-1917) und Marcel Mauss (1872-1950) wird das Natur-Kultur-Denken soziologisiert, die Gesellschaft tritt als notwendiges Drittes hinzu. Nach Durkheim erfüllt Religion die Funktion des gesellschaftlichen Zusammenhalts, gleichzeitig unterscheiden alle Gesellschaften heilige und profane Dinge; die Gesellschaft ist zugleich Ursprung wie Ergebnis von religiösen Handlungen (Durkheim, [1912] 2005). Für den Funktionalismus ist weniger die Substanz von Religion und Kultur von Bedeutung, als die sozialen Effekte ihrer Rituale und Institutionen. Während Tylor, Durkheim und Mauss als Armchair Anthropologists gelten, die ihre Ethnologie noch auf Berichte von Kolonialbeamten und Missionaren fußten, doch selbst nicht im Feld forschten, entwickelt Bronislaw Malinowski (1884-1942) die ethnographische Methode der Teilnehmenden Beobachtung (Malinowski, 1922).

2.2. Kulturen im Plural – die Anfänge der Kulturanthropologie in Nordamerika

Eine entscheidende Wende erfolgt durch die von Franz Boas (1858-1942) in New York begründete ethnographische Schule. Boas ist Immigrant erster Generation, ein Geograph und Physiker aus einer westfälisch-jüdischen Familie. Mit seinen Forschungen zu indianischen Kulturen Nordamerikas, aber auch in den migrantischen Milieus amerikanischer Großstädte macht Boas Schule: Jede Kultur sei historisch partikular und primär aus sich heraus zu verstehen, Kulturen deshalb nur im Plural zu denken (King, 2020). Das Partikulare jeder Kultur sah Boas auch in der Geschichte ihrer Verbreitung begründet. Eine Kultur verbreite sich durch Diffusion oder Migration – Umweltfaktoren, wie z.B. klimatische Verhältnisse, spielten nur einen ermöglichenden, doch nicht ursächlichen Faktor (Possibilismus) (Trigger, 1998, 96). Den Rassentheorien seiner Zeit, dem Erbdeterminismus und der Eugenik, stellt Boas bereits 1911 die Gewissheit entgegen, dass Menschen sich ungeachtet ihrer phänotypischen Vielfalt letztlich nur kulturell unterscheiden (Boas, 1955, 226). Dennoch ziehen seine Schüler und Schülerinnen weitere menschliche Universalien in Frage. So beobachtete Margaret Mead (1901-1978) bei Jugendlichen in Samoa der 1920er Jahre, dass Adoleszenz nicht notwendig zu dem emotionalen Aufruhr führen muss, den wir als biologisch-hormonell bedingte Krise der Pubertät verstehen. Ihre Arbeit relativiert so den Universalanspruch der Freudschen Psychoanalyse (Mead, 2016). Die Boas-Schule ebnet den Weg für das Feld der Kulturanthropologie, die auch nachhaltig in die amerikanische Bildungslandschaft eingebunden wird. Ein inhärentes Problem ist der Kulturrelativismus, der zum Verlust von Vergleichbarkeit führt (Kohl, 2012, 146-151).

In diese Wissenslandschaft bringt Clifford Geertz (1926-2006) mit der Interpretativen Anthropologie einen hermeneutischen Impuls ein. In einer dichten Beschreibung deuten ethnologisch Forschende Kulturen als Symbolsysteme – ethnographische Arbeiten sind aber nicht nur Deutungen, sondern auch selbst kulturelle Texte. Die Interpretative Anthropologie verlangt somit verstärkt nach einer systematischen Selbstreflexion beim Forschungsprozess, gleichzeitig zieht sie die empirische Basis der Ethnologie erneut in Frage (Kohl, 2012, 167). Dennoch sieht Geertz das Natur-Kultur Verhältnis nicht nur kulturalistisch – sein Denken ist bereits kognitionswissenschaftlich in Frühform, d.h. er analysiert die mentale Dimension von Kultur lange vor der Etablierung neurowissenschaftlicher Technologien (Geertz, 2013).

2.3. Die Grammatik der Kultur: Anthropologische Universalien im Strukturalismus

Vergleichbaren Einfluss auf die Ethnologie Europas hat Claude Lévi-Strauss (1908-2009). Gemäß dem Strukturalismus, der Kultur in Analogie zu Ferdinand de Saussures Modell der Linguistik denkt, unterliegen Kulturen einer Grammatik, so wie auch dem Sprechakt (parole) eine Sprachstruktur (langue) zugrunde liegt. Wie schon die frühen Ethnologen richtet Lévi-Strauss den Blick auf anthropologische Universalien, wie Marcel Mauss sieht er den Tausch als Fundament archaischer Gesellschaften. In seinem Werk „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ (1981) beschreibt er den Natur-Kultur-Dualismus als kennzeichnend für das westliche Denken, in welchem Regeln und Normen dem Bereich der Kultur, Universalien und Spontaneität dem Bereich der Natur zugeordnet werden (Lévi-Strauss, 1981, 52). Dennoch sei der Dualismus mit Übergangspunkt zu denken; diesen verortet Lévi-Strauss im Inzestverbot, der einzigen gesellschaftliche Regel von universalem Charakter:Alle Kulturen tabuisierten bestimmte Heiratsverbindungen von nahen Verwandten, doch nicht immer nach biologischen Kriterien, sondern gemäß der inneren Logik der jeweiligen Verwandtschaftsstruktur. So betrifft das Verbot nicht immer alle Mitglieder der konsanguinen Gruppe – z.B. ist in einigen Kulturen wohl die Heirat mit der Mutter und älteren Schwester verboten, nicht aber mit der jüngeren Schwester oder Cousine (Lévi-Strauss, 1981, 52).

Auch das mythische Denken unterliege strukturellen Regeln. Zwar seien mythologische Erzählungen nicht an natürliche Vorgaben gebunden, ja transzendierten diese in übernatürlichen Bildsprachen, dennoch ließe sich ein Code dechiffrieren, nach dem mythische Denkmuster in logischen Rekombinationen entstehen können (Lévi-Strauss, 1996; Kohl, 2012, 145). So wie auch die Arbeiten von Geertz ist das Werk von Lévi-Strauss bereits kognitionswissenschaftlich ausgelegt.

2.4. Rückkehr der Stufenmodelle: Kultur in Evolution

Als Kritik am Kulturrelativismus begreifen der Neo-Evolutionismus und die Kulturökologie Kultur wieder im Singular. Kulturevolution wird hier entlang einer Skala gesellschaftlicher Komplexität imaginiert (z.B. Horde → StammHäuptlingstumStaat; Service, 1962), oder als Ergebnis physikalischer Gesetzmäßigkeiten verstanden, die sich formelhaft darstellen lassen. So argumentiert Leslie White (1900-1975), dass Kultur dem Produkt aus Technologie und Energieaufwand entspräche (C = E x T) (White, 1949).

In Anbindung an ökologische Forschungsfragen ihrer Zeit kommen vermehrt Modelle aus Klimaforschung und Ökonomie zur Anwendung. In der Kulturökologie identifiziert Julian Steward (1902-1972) einen Kulturkern (Steward, 1955), der primär aus jenen Subsistenzpraktiken bestehe, die in Wechselwirkungen mit Umweltfaktoren zum Lebenserhalt von Bevölkerungen dienen. Der Kulturkern ermöglicht den ethnologischen Vergleich, spart aber andere Kulturbereiche, darunter auch Religion, als sekundär aus. Dagegen stellt Marvin Harris im Kulturmaterialismus die adaptiven Effekte von religiösen Glaubenssätzen voran. Nach einem marxistischen Verständnis von Produktion, Reproduktion, Kapital und Mehrwert spricht Harris religiösen Praktiken im Kontext von lokalen Wirtschaftsformen eine optimierende Funktion zu. So stünden die Sakralisierung von Kühen im Hinduismus oder das Verbot von Schweinefleisch in Judentum und Islam in kausalem Zusammenhang mit der jeweils ursprünglichen Agrar- und Pastoralkultur (Harris, 1974). Obwohl Harris für die Rationalität religiöser Dogmen argumentiert, sieht er diese als primär wirtschaftlich begründet.

Neuere Ansätze der Kulturevolution kommen vor allem deshalb in die Kritik, weil sie unterkomplexe Erzählungen inspirieren, in denen das historisch Partikulare schnell untergeht. Dennoch sind sie weitreichend popularisiert, wie z.B. die Methode der ethnologischen Analogie: Wir tendieren heute dazu, uns das Leben unserer evolutionären Vorfahren analog zum Leben gegenwärtiger Indigener vorzustellen, soweit klimatisch-ökologische Bedingungen vergleichbar sind (Kohl, 2012, 160). Dieser nicht immer treffende Analogieschluss kommt auch im Wissensfeld der Religionsgeschichte zur Anwendung, z.B. im Vergleich der mekkanischen Welt des siebten Jahrhunderts mit heutigen beduinischen Gesellschaften.

Eine weitaus komplexere Verquickung von Natur, Kultur und Religion bietet die Ethnologie von Roy A. Rappaport (1926-1997). Rappaport attestiert indigenen Kulturen die Fähigkeit, lokale Ökosysteme nachhaltig zu regulieren, wobei religiösen Ritualen eine bedeutende Schlüsselrolle zukommt. In seiner Ethnographie zum Ritualzyklus der Tsembaga Maring Papua Neu-Guineas beschreibt Rappaport, wie im zyklischen Ineinandergreifen von Gartenbau, Schweineschlachtung und Kriegsführung das lokale Ökosystem in Ausgleich gebracht wird (Rappaport, 1967). Für Rappaport sind religiöse Werte nicht einfach Nebenprodukt wirtschaftlicher Entwicklung, sondern Kernbestand eines lokalen Wissens um ökosystemische Zusammenhänge. Als Funktionalist steht er in der Tradition Durkheims, sein Beitrag zur Ritualforschung ist ähnlich bedeutend: So wie Durkheim die soziale Funktion von Ritualen betont, so bringt Rappaport die ökologische Funktion ein (Rappaport/Messer/Lambek, 2001, 247).

3. Die ontologische Wende: Jenseits von Natur und Kultur

Schließlich nimmt auch die Ethnologie Anteil an einer ontologischen Wende, welche die Natur-Kultur-Unterscheidung selbst in Frage stellt. Als kritische Theorie ist sie in den Human- und Geisteswissenschaften spürbar (Latour, 2010; Haraway, 2018; u.a.). Als ein Vordenker gilt Philippe Descola (*1949), Schüler von Lévi-Strauss und Vertreter eines Neo-Strukturalismus. Sein anthropologisches Denken entspringt Feldforschungen bei Jívaro-indianischen Amazonas-Gesellschaften in den 1970er Jahren, deren animistische Ontologie er zu verstehen versucht (Descola, 2011).

In seinem Hauptwerk „Jenseits von Natur und Kultur“([2005], 2022) firmiert das westliche Denken über Natur und Kultur nur als eine Möglichkeit unter mehreren, die Welt zu begreifen. Für seine Typologie der Ontologien entwickelt Descola ein eigenes Begriffssystem, das im Weiteren kursiviert wiedergegeben wird. Alle Ontologien kombinieren Dispositionen des Seins – die Zuordnung von Menschen und Nicht-Menschen zu einzelnen Gruppierungen – mit einer Ökologie der Beziehung. Es geht also stets um Weltbilder von Menschen über die Identität und Beziehung von Menschen und Nicht-Menschen, d.h. Tiere, Pflanzen, Artefakte, oder auch geologische Formationen. Bezeichnend für die Typologie ist, dass das Soziale nicht als Drittes zum Natur-Kultur-Denken hinzutritt, sondern als eine Subkategorie der Ökologie untergeordnet wird.

Die Modi der Identifizierung eröffnen Wege der Differenzierung eines Anderen – erst wo ein Aliud entsteht, etwas als Anderes unterschieden wird, kann Ego in eine Beziehung treten. Anthropologisch konstant ist allen, dass Menschen den Anderen, ob Mensch, Tier oder Pflanze, als eine Kombination von Physikalität und Interiorität begreifen. Existenzen in der Welt können so in ihren Ähnlichkeiten/Unterschieden gesehen werden, in graduellen Abstufungen oder Analogien, was zu Figuren des (Dis-)kontinuierlichen führt. Oder wir verstehen die eigene Physikalität bzw. Interiorität in großen Abständen zu derjenigen der Anderen, mit dem Ergebnis eines dualistischen Weltbilds. Gleichzeitig lassen sich in den Modi der Relation sämtliche Beziehungen unter Menschen und Nichtmenschen kategorisieren – ein Register möglicher Beziehungen entsteht, die entweder irreversibel und hierarchisch (Subjekt-Objekt), oder reversibel und egalitär (Subjekt-Subjekt) gestaltet sind. Produktion, Schutz oder Übermittlung entsprechen dem ersten Modus, Raub, Tausch und Gabe dem zweiten.

Anhand zahlreicher Beispiele beschreibt Descola die vier Ontologien samt der mit ihnen jeweils verbundenen existentiellen Probleme, vor denen ihre Bewohner stehen: Im (1) Naturalismus dient die bekannte Natur-Kultur-Dichotomie dazu, den Menschen von der nicht-menschlichen Natur abzusondern. Entlang der Unterschiede der Interiorität – nur Menschen haben eine Seele, eine Kultur und können Kollektive formen – als auch der Ähnlichkeit der Physikalität – alle Lebewesen sind aus dem gleichen organischen Material – ordnet der Naturalismus die Welt in zwei Sphären, an denen der Mensch entweder geistig oder körperlich Anteil hat. Einer Naturalistin stellt sich folgendes existentielles Problem: Wie sowohl der partikularen Kultur als auch der universalen Natur Rechnung tragen? Ein Symptom des Naturalismus mag die Herausbildung konkurrierender Wissenschaftskulturen sein, einer Natur- und einer Geisteswissenschaft.

Dem Naturalismus diametral entgegengesetzt, verteilt der (2) Animismus Menschen und Nicht-Menschen auf Kollektive. Diese sind nach innen isomorph, d.h. von gleicher Physikalität: Alle Mitglieder eines Kollektivs zeichnen sich durch dieselbe körperliche Erscheinung und die gleichen sichtbaren Fähigkeiten aus. So bilden Tapire, Menschen oder Maniokpflanzen jeweils ihr eigenes Kollektiv. Zentral ist jedoch die Vorstellung, dass alle Lebewesen ein dem Menschen identisches Seelenleben haben. Alle Lebewesen sind Subjekte, die in persönliche Beziehung zueinander treten können. Der Animistin stellt sich das Problem, dass die offenkundige körperliche Andersartigkeit – Federkleid, Haut, Fell – mit der grundlegenden Seelenverwandtschaft von Menschen und Nicht-Menschen zu vereinen ist. Das schamanische Ritual der Metamorphose ist deshalb ein häufiger Typus im Animismus.

In die Ontologien der kleinen Unterschiede gruppiert Descola den Analogismus und Totemismus. Im (3) Analogismus gibt es nur ein großes Kollektiv, in dem Menschen und Nicht-Menschen in Verkettungen, Kaskaden oder komplementäre Ensembles angeordnet sind. Keine Entität gleicht der anderen, es unterscheiden sich demnach alle Lebensformen sowohl stofflich als auch seelisch voneinander. Die Anordnung dieser Singularitäten folgt den Prinzipien der Analogie und Hierarchie (z.B. Mikro-Makrokosmos, Elementenlehre). Es entsteht eine kosmozentrische Perspektive, aus der die Ordnung aller Dinge beglaubigt werden muss: dies geschieht z.B. durch Hypostasierung, d.h. Überhöhung von einzelnen Segmenten des Kollektivs zu Ahnen, Göttern oder Ordnungsprinzipien.

Im (4) Totemismus schließlich stehen die Gemeinsamkeiten im Vordergrund. So ähneln sich die Menschen und Tiere totemistischer Kollektive sowohl stofflich wie seelisch vom Typ her. Im Typus manifestieren sich urzeitliche Attribute, die, wie z.B. bei den Aborigines Australiens, von den Wesen der Traumzeit herrühren und in Landschaft und Mythos erfahrbar sind. Der Totemismus bedingt eine kosmogene Perspektive auf die Welt, in der alle Subjekte in gradueller Konformität verbunden scheinen. Weil bei zunehmender Vermischung die Hybridität in Gleichförmigkeit umzuschlagen droht, ist es auch im Totemismus notwendig, die Andersartigkeit Einzelner zu kultivieren. Dies geschieht vor allem über den wechselseitigen Tausch zwischen totemistischen Kollektiven, wie z.B. durch Exogamie.

4. Schlussbetrachtung

Die Frage nach der Gültigkeit der Natur-Kultur-Unterscheidung übersteigt längst die Grenzen der Ethnologie. Es ist vielleicht das intellektuelle Programm unserer Zeit, jenseits der Unterscheidung nicht nur andere Ontologien, sondern auch ihre "Chemie", d.h. die Möglichkeiten ihres Zusammenwirkens zu erkennen.

Auch die Religionspädagogik kann wertvolle Bezüge zur Ethnologie herstellen: Zum einen bieten ethnographische Arbeiten – heute längst auch zu modernen Gesellschaften – ein enormes Wissensarchiv für Bildungskonzepte des → Globalen Lernens: Die Ethnologie erweitert den eurozentrischen Blick, die Anthropologie hilft, die neuen Welten zu verstehen und an heutige Diskurse anzuschließen, z.B. durch die Integration von post-kolonialen Perspektiven in die pädagogische Arbeit. Zum anderen beinhaltet ethnologisches Fragen nach Natur und Kultur auch die Frage nach der Unterscheidung von Mythos und Logos. Im Religions- und Ethikunterricht werden diese Begriffe nicht selten am Beispiel der Debatte um Kreationismus und Evolutionslehre erarbeitet. Im ethnologischen Licht erscheint eben diese Debatte als westlich begrenzt, konstruiert um einen angenommenen Gegensatz von Glauben und Wissen, zudem ist sie stark auf Nordamerika bezogen. Mithilfe der Ethnologie und Anthropologie könnte die Religionspädagogik auch hier das Sujet erweitern, um auch die Verflechtungen von Religion und Naturwissenschaft in westlichen wie nicht-westlichen Gesellschaften in den Blick zu nehmen.

Literaturverzeichnis

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