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Sophia Jesu Christi

Andere Schreibweise: Sophia of Jesus Christ

(erstellt: März 2022)

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1. Überlieferung und Abfassungssprache

Die Sophia Jesu Christi (SJC) ist in zwei Handschriften fast vollständig erhalten: als vierte Schrift im Kodex III von → Nag Hammadi (NHC III p.90,14-119,18) und als dritte Schrift im Kodex Berolinensis Gnosticus (BG 8502 p.77,8-127,12). Diese beiden Versionen der SJC aus dem 4. und 5. Jh. n. Chr. sind im sahidischen Dialekt des → Koptischen verfasst und stellen voneinander unabhängige Übersetzungen dar, die weitgehend mit einer griechischen Vorlage übereinstimmen. Zudem existiert Papyrus Oxyrhynchus 1081, ein doppelseitig beschriebenes Papyrusfragment aus dem 4. Jh. n. Chr. (POxy 1081), das eine griechische Parallele zu NHC III p.97,16-99,12 par BG 8502 p.88,18-91,15 ist und eine Entstehung der SJC in ursprünglich griechischer Sprache bestätigt (Gathercole, 304).

Zusätzlich bietet der Eugnostosbrief (Eug) eine Textparallele für große Teile der SJC. Der Eug ist durch zwei koptische Fassungen im Nag-Hammadi-Codex bezeugt (NHC III p.70,1-90,13 / NHC V p.1,1-17,18) und enthält als philosophische Abhandlung über die Kosmogonie (Erschaffung der Welt) in Briefform die gleiche Lehre, die Jesus in der SJC seinen Jüngerinnen und Jüngern im Dialog vermittelt. Allerdings besitzt der Eug keinen christlichen Bezug: Im Unterschied zur SJC kommen darin weder Jesus noch sein Jüngerkreis vor; auch fehlen die Rahmenhandlung, die Jüngerfragen, die mythologischen Elemente und die Aussagen zur Soteriologie (Erlösungslehre). Dass der Autor der SJC den Eug als Vorlage benutzt hat, ist weitgehend Konsens der Forschung (Barry, 1f.).

2. Entstehungszeit und Herkunft

Vermutlich ist die SJC in der ersten Hälfte oder in der Mitte des 2. Jh. n. Chr. entstanden (Hartenstein, 2012, 1125). Der spätestmögliche Zeitpunkt (terminus ad quem) ergibt sich durch die Datierung des griechischen Fragments POxy 1081 in das frühe 4. Jh. n. Chr. Der frühestmögliche Zeitpunkt (terminus a quo) wird durch die Kenntnis des Matthäusevangeliums und eventuell anderer kanonisch gewordener Evangelien in das frühe 2. Jh. n. Chr. bestimmt.

Eindeutig klare Hinweise für einen Abfassungsort der SJC bestehen nicht. Da deren Vorlage, der Eug, vermutlich in Ägypten abgefasst wurde, könnte eine dortige Lokalisierung auch für die SJC angenommen werden (Parrott, 7).

3. Titel und Gattung

Der Titel „die Sophia Jesu Christi“ findet sich in beiden koptischen Handschriften (NHC III p.90,14 / BG 8502 p.77,8; 127,11f.); in NHC III p.119,18 lautet der Titel in der Unterschrift (subscriptio) nur „die Sophia Jesu“. Mit dem Begriff „die Sophia“ (t-cophia) im Titel ist aber nicht Sophia als himmlische Gestalt gemeint. Vielmehr wird damit der Inhalt der SJC als Weisheit ausgedrückt, die Jesus Christus vorgetragen hat (Wurst, 375). In diesem Sinn kann der Titel auch als „Weisheit Jesu Christi“ übersetzt werden (Hartenstein, 2012, 1122-1136).

Die SJC zählt zu jenen frühchristlich-gnostischen Schriften des 2. und 3. Jh. n. Chr., die als Erscheinungsevangelium bezeichnet werden. Charakteristisch für diese Gattung sind die Gespräche Jesu mit seinen Jüngerinnen und Jüngern nach seiner Auferstehung, die den Hauptteil prägen. Diese Dialoge sind wiederum in eine Rahmenhandlung eingebettet, die zu Beginn eine nachösterliche Erscheinung Jesu und am Ende seinen endgültigen Abschied beschreibt. Während die Rahmenhandlung eines Erscheinungsevangeliums deutliche Anklänge an die kanonischen Evangelien aufweist, ist dessen Hauptteil überwiegend durch gnostische Elemente bestimmt.

Die SJC stellt wohl das älteste erhaltene Erscheinungsevangelium dar. Dies lässt sich durch die Einfachheit in der Form sowie das Fehlen von Konflikten und polemischen Äußerungen begründen. Weitere Beispiele für diese Gattung sind das → Apokryphon des Johannes, das → Evangelium nach Maria und mit einigen Variationen auch das → Evangelium des Judas (Hartenstein, 2013, 308).

4. Aufbau und Inhalt

Die vollständig erhaltene Fassung von BG 8502 – in der Parallelversion in NHC III fehlen zwei Blätter (p.109 / 110 und p.115 / 116) – beginnt mit folgender Rahmenhandlung (p.77,9-80,3): Nach der Auferstehung Jesu versammeln sich zwölf Jünger und sieben Jüngerinnen auf einem Berg in Galiläa. Der Auferstandene erscheint ihnen und fragt sie, worüber sie nachdenken. Daraufhin entgegnet Philippus als erster Gesprächspartner Jesu: „Über das Wesen des Alls und den Heilsplan“ (p.79,12-80,3), womit das Leitthema der SJC benannt ist.

Im Hauptteil der Schrift (p.80,4-126,15) antwortet Jesus auf diese erste Anmerkung und auf zwölf Fragen aus dem Jüngerkreis – namentlich genannt werden neben → Philippus noch Matthäus, → Thomas, → Maria (Magdalena) und → Bartholomäus. Dabei gibt Jesus, der oftmals „der vollkommene Erlöser“ heißt, seinen Jüngerinnen und Jüngern ausführliche Unterweisungen über die Entstehung der himmlischen Lichtwelt, beginnend beim transzendenten obersten Gott, der nur mit negativen Prädikationen (z. B. „ungeworden“, „unerkennbar“ und „unerreichbar“) beschrieben werden kann. Aus diesem obersten Gott, dem sogenannten „Vorvater“, gehen alle weiteren Gestalten als seine Emanationen in männlich-weiblichen Paaren hervor, denen unzählige Himmelswesen und Äonen im Lichtreich zugeordnet werden. Das Abbild dieses obersten Gottes ist der Vater, der ein unsterblicher, androgyner Mensch ist. Die Paargenossin dieses Menschen heißt „große Sophia“, mit der er den Menschensohn emaniert. Dieser Menschensohn ist ebenfalls zweigeschlechtlich und bringt mit seiner Gefährtin, Sophia Agape, eine weitere androgyne Emanation hervor. Dessen männlicher Name ist Erlöser, der weibliche Name ist → Sophia Pistis. Am Ende dieser Ausführungen über die obere Lichtwelt werden der Fall der Sophia (Pistis), die Erschaffung der unteren Welt und der Weg zur Erlösung nur noch stichpunktartig skizziert; der gnostische Mythos wird weitestgehend vorausgesetzt.

Zum Schluss kehrt die Schrift zur Rahmenhandlung (p.126,16-127,10) zurück: Jesus entschwindet nach Abschluss seiner Belehrungen; die Jüngerinnen und Jünger freuen sich und beginnen, das Evangelium zu verkündigen.

5. Theologische Eigenart

Die Soteriologie (Erlösungslehre) ist das spezifische Hauptthema der SJC. Im Gegensatz zu anderen frühchristlich-gnostischen Schriften wird in der SJC der schlechte Zustand der Welt nicht durch ihre Entstehung erklärt. Vielmehr wird gezeigt, wie mithilfe der Lehre Jesu dieser Zustand überwindbar ist. Erlösung kann durch das Wissen über die himmlische Lichtwelt, die zugleich Herkunftsort und Ziel des Menschen ist, erreicht werden. Das Ende der Schrift verheißt denjenigen, die den obersten Gott kennen, dass sie auch zu ihm aufsteigen werden – eine bestimmte Lebensweise ist hierfür aber erforderlich (p.123,2-124,1) (Schröter, 97).

Siehe auch

Gnosis

Literaturverzeichnis

Textausgaben und Übersetzungen

  • Barry, C., La Sagesse de Jésus-Christ (BG, 3; NH III,4). Texte établi, traduit et commenté (BCNH.T 20), Québec 1993
  • Gathercole, S., The Apocryphal Gospels. Translated with an Introduction, London 2021
  • Hartenstein, J., Die Weisheit Jesu Christi (NHC III,4 / BG 3), in: Markschies, C. / Schröter, J. (Hgg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band: Evangelien und Verwandtes. Teilband 2, Tübingen 2012, 1122-1136
  • Lührmann, D., Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache (MThSt 59), Marburg 2000
  • Parrott, D.M. (Hg.), Nag Hammadi Codices III,3-4 and V,1 with Papyrus Berolinensis 8502,3 and Oxyrhynchus Papyrus 1081. Eugnostos and the Sophia of Jesus Christ (NHS 27), Leiden 1991
  • Till, W.C. / Schenke, H.-M., Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502 (TU 60), Berlin 21972

Sekundärliteratur

  • Hartenstein, J., Die zweite Lehre. Erscheinungen des Auferstandenen als Rahmenerzählungen frühchristlicher Dialoge (TU 146), Berlin 2000
  • Hartenstein, J., Erscheinungsevangelien (Gespräche mit dem Auferstandenen) im Kontext frühchristlicher Theologie. Anknüpfungspunkte und Besonderheiten der christologischen Vorstellungen, in: Schröter, J. (Hg.), The Apocryphal Gospels within the Context of Early Christian Theology (BETL 260), Leuven 2013, 305-332
  • Klauck, H.-J., Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, Stuttgart 32008
  • Krause, M., Das literarische Verhältnis des Eugnostosbriefes zur Sophia Jesu Christi. Zur Auseinandersetzung der Gnosis mit dem Christentum, in: Stuiber, A. / Hermann, A. (Hgg.), Mullus (FS Theodor Klauser) (JbAC.E 1), Münster 1964, 215-223
  • Lüdemann, G. / Janßen, M., Bibel der Häretiker. Die gnostischen Schriften aus Nag Hammadi, Stuttgart 1997
  • Schenke, H.-M., Nag Hamadi Studien II. Das System der Sophia Jesu Christ, in: ZRGG 14 (1962) 263-278
  • Schröter, J., Die apokryphen Evangelien. Jesusüberlieferungen außerhalb der Bibel, München 2020
  • Wurst, G., Das Problem der Datierung der Sophia Jesu Christi und des Eugnostosbriefes, in: Frey, J. / Schröter, J. (Hgg.), Jesus in apokryphen Evangelienüberlieferungen. Beiträge zu außerkanonischen Jesusüberlieferungen aus verschiedenen Sprach- und Kulturtraditionen (WUNT 254), Tübingen 2010, 373-386

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