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Apokryphon des Johannes

Andere Schreibweise: Apocryphon of John

(erstellt: März 2022)

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1. Überlieferung und Abfassungssprache

Das Apokryphon des Johannes (AJ) ist in vier koptischen Handschriften überliefert. Seine herausgehobene Bedeutung zeigt sich bereits daran, dass die Schrift jeweils am Beginn der → Nag-Hammadi-Kodizes II, III und IV steht (NHC II p.1,1-32,9; III p.1,1-40,11; IV p.1,1-49,28). Im Kodex Berolinensis Gnosticus ist das AJ die zweite Schrift (BG 8502 p.19,6-77,7). Die genannten Textzeugen des AJ lassen sich auf zwei Stränge verteilen: eine Kurzfassung (NHC III,1; BG 8502,2) und eine Langfassung (NHC II,1; IV,1), wobei mehrheitlich die Kurzfassung als die ursprünglichere Version gilt (Waldstein, 75). Von den beiden Kurzfassungen ist nur die Version in BG 8502,2 vollständig erhalten.

Die zwei Exemplare der Kurzfassung repräsentieren voneinander unabhängige koptische Übersetzungen aus dem Griechischen. Die zwei Langfassungen bezeugen verschiedene Abschriften derselben koptischen Übersetzung eines griechischen Urtextes. Dass das AJ ursprünglich auf Griechisch verfasst wurde, bestätigt auch dessen früheste Bezeugung bei Irenäus von Lyon. Der Kirchenvater skizziert in „Gegen die Häresien“ (Adversus Haereses) die Lehre der → „Barbelo-Gnostiker“ (Irenäus, Haer 1,29). Sein in griechischer Sprache verfasstes Referat weist dabei große Ähnlichkeiten mit dem ersten Teil des gnostischen (sethianischen) Schöpfungsmythos des AJ auf. Offenbar kannte Irenäus eine griechische Fassung dieses mythischen Modells (Creech, 13).

2. Entstehungszeit und Herkunft

Für die Entstehungszeit des AJ ist mit dem Alter der vier Textzeugen eine erste Obergrenze gegeben. Gemeinhin wird der Berolinensis Gnosticus auf das 5. Jh. n. Chr. datiert, während die Kodizes des Nag-Hammadi-Fundes auf das 4. Jh. n. Chr. angesetzt werden. Diese Einordnung lässt sich durch Irenäus noch präzisieren, der um 180 n. Chr. die erste Hälfte des AJ zusammenfasste. Ihm lag eine Grundschrift des AJ vor, die in der Mitte des 2. Jh. n. Chr. entstanden sein dürfte (Layton, 26). Diese Grundschrift kam wahrscheinlich zunächst ohne einen dialogischen Rahmen aus; die Rahmenhandlung wurde erst nachträglich zur Grundschrift hinzugefügt (Nagel, 677-681).

Über den Abfassungsort des AJ kann nur spekuliert werden. Dass die vier koptischen Textzeugen des AJ in Ägypten gefunden wurden, könnte eine dortige Entstehung nahelegen (King, 2006, 23: Alexandrien).

3. Titel und Gattung

Die Schrift wird in allen vier Abschriften in der Unterschrift (subscriptio) als „Apokryphon“ (apokryphon) bezeichnet. Dieser Untertitel deutet das „Verborgene“, „Geheime“ an bzw. im Speziellen ein geheimes Buch, das eine verborgene Lehre übermittelt. Im Einzelnen unterscheidet sich der Titel in den Handschriften. Vermutlich gehen die Titelvarianten auf Abweichungen in den griechischen Vorlagen zurück: Während die Kurzfassung den Titel „Das Apokryphon des Johannes“ (p-apokryphon n-iōhannēs) trägt (NHC III,1 p.40,10f.; BG 8502 p.77,6f.), lautet der Titel in der Langfassung „Apokryphon nach Johannes“ (kata iōhannēn n-apokryphon) (NHC II,1 p.32,8-10; IV,1 p.49,27f.). Beim Titel der Langfassung ist die Namensform iōhannēn in der griechischen Akkusativform auffällig, die im Koptischen sonst keine Anwendung findet. Letztlich ist der Titel in der Langfassung des AJ unvollständig, denn er bedeutet genau übersetzt: „Nach Johannes, das apokryphe […]“. Zu ergänzen ist „Evangelium“ im Sinn von „das apokryphe (Evangelium) nach Johannes“ (p-[euangelion p] kata iōhannēn n-apokryphon). Die Betitelung der Langfassung des AJ wurde offenbar in Anlehnung an die kanonisch gewordenen Evangelien (z.Β. [εὐαγγέλιον] κατὰ Μάρκον / [euangelion] kata Markon) gebildet (Schröter, 99).

Das AJ ist kein Evangelium im Sinn der neutestamentlichen Evangelien, sondern ein Erscheinungsevangelium (Hartenstein, 305f.). Hierbei handelt es sich um eine für gnostische Schriften des 2. und 3. Jh. n. Chr. weit verbreitete Gattung, zu der u.a. die → Sophia Jesu Christi und das → Evangelium nach Maria zählen. Maßgeblich für diese Schriften sind die Dialoge, die in eine Rahmenhandlung eingebettet sind. Die Rahmenhandlung beschreibt meist zu Beginn die Erscheinung Jesu nach seiner Auferstehung sowie am Ende seinen endgültigen Weggang und hat deutliche Anklänge an neutestamentliche (Oster-)Traditionen. Im Hauptteil eines Erscheinungsevangeliums beantwortet Jesus in der Regel Fragen aus dem Jüngerkreis unter Verwendung gnostischer Vorstellungen. Zudem ist die Offenbarung an eine ausgewählte Person ein weiteres Merkmal dieser Gattung.

4. Aufbau und Inhalt

Die Kurzfassung des AJ aus BG 8502,2 beginnt mit einer Rahmenhandlung (p.19,6-22,17), in der sich Johannes zentrale Fragen zu Jesu Sendung und den Verlauf der Heilsgeschichte nach einem Gespräch mit dem Pharisäer Arimanias stellt. Daraufhin erscheint Jesus und beantwortet ihm seine Fragen. Er kündigt an, Johannes über das Gegenwärtige, Vergangene und Zukünftige sowie über den vollkommenen Menschen aufzuklären.

Der Hauptteil des AJ lässt sich in zwei Teile gliedern. Der erste Teil der Offenbarung (p.22,17-44,19) hat die Theogonie und Kosmogonie zum Gegenstand. Zunächst geht es um den obersten Gott, der u.a. Vater und Geist heißt und durch negative Theologie charakterisiert wird. Der oberste Gott spiegelt sich in der himmlischen Welt in seinem eigenen Licht, aus dem die Göttermutter Barbelo, die Pronoia, entsteht. Aus der Verbindung dieser beiden geht ihr Sohn Autogenes bzw. Christus hervor. Ihm folgen viele weitere Wesen, die jeweils paarweise in Äonen geordnet sind. Auch Sophia ist eine dieser Emanationen, die allerdings ohne Zustimmung des Geistes und ihres Paargenossen einen Sohn hervorbringt, der aufgrund dieser irregulären Entstehung eine Missgeburt ist. Sophia nennt ihn Jaldabaoth. Er schafft sich seine eigene Welt, indem er zwölf Gewalten hervorbringt und sieben Könige einsetzt, durch die er die Macht über die untere Welt ausübt. Jaldabaoth hält sich selbst für den einzigen Gott.

Der zweite Teil der Offenbarung (p.44,19-75,15) handelt von der Anthropogonie und stellt einen → Midrasch zu Gen 1-7 mithilfe platonischer Motive dar. Der Fehltritt der Sophia, d.h. die Entstehung des Jaldabaoth, muss bereinigt werden. Dazu spiegelt sich die Erscheinung des obersten Gottes in Menschengestalt in den Wassern der unteren Himmel. Jaldabaoth und seine Gewalten schaffen daraufhin einen Menschen, der Adam heißt. Dieser ist zunächst ein seelisches Wesen, das unbeweglich bleibt, bis ihm Jaldabaoth etwas von seinem göttlichen Licht einhaucht. Durch diese Geistpartikel ist er den Gewalten überlegen. Die Gewalten bilden infolgedessen aus den vier Elementen einen Körper, in den sie den aus Geist und Seele bestehenden Adam einsperren. Die damit begonnene Uminterpretation der biblischen Schöpfungsgeschichte wird im Folgenden fortgesetzt. Adam wird ins Paradies gebracht, wo er von Eva überredet wird, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Jaldabaoth vertreibt beide aus dem Paradies und schändet Eva, woraus Kain und Abel hervorgehen. Adam wiederum zeugt mit Eva sein eigenes Ebenbild, das er Seth nennt. An dieser Stelle ist ein Dialog zwischen Johannes und Jesus eingeschoben, der das Schicksal der Seelen behandelt. Im Fortgang der Erzählung will Jaldabaoth die Menschen durch eine Sintflut vernichten, aber Noah und weitere Menschen des nichtwankenden Geschlechts werden gerettet.

Am Ende kehrt der Text zur Rahmenhandlung zurück (p.75,15-77,7). Johannes wird aufgefordert, die ihm anvertraute Offenbarung aufzuschreiben und auserwählten Menschen weiterzuerzählen. Jesus verschwindet endgültig und Johannes geht zu seinen Mitjüngern, um ihnen das Gehörte zu verkünden.

Die Langfassung des AJ weist im Vergleich zur Kurzfassung zwei wesentliche Erweiterungen auf: Die Erschaffung des Adam nimmt in der Langfassung einen größeren Raum ein (NHC II p.15,29-19,10; IV p.24,21-29,19). Ferner wurde ein Hymnus der Pronoia am Ende des zweiten Offenbarungsteils der Langfassung ergänzt (NHC II p.30,11-31,27; IV p.46,23-49,8).

5. Religionsgeschichtliche Einordnung

Mit der Mehrheit der Forscher lässt sich das AJ (zusammen mit der → Hypostase der Archonten, der → Drei Stelen des Seth und des → Ägypterevangeliums) der sethianischen Gnosis zuordnen (Waldstein, 74). Dafür sprechen u.a. die im AJ erwähnte himmlische Figur des Seth sowie die göttliche Triade aus dem obersten Gott, der Mutter Barbelo und dem Sohn Autogenes.

Siehe auch

Literaturverzeichnis

Textausgaben und Übersetzungen

  • Barc, B. / Funk, W.-P., Le Livre des secrets de Jean. Recension brève (NH III,1 et BG,2) (BCNH.T 35), Québec / Louvain 2012.
  • Krause, M. / Labib, P., Die drei Versionen des Apokryphon des Johannes im Koptischen Museum zu Alt-Kairo (ADAI.K 1), Wiesbaden 1962.
  • Till, W. C. / Schenke, H.-M., Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502 (TU 60), Berlin 21972.
  • Waldstein, M., Das Apokryphon des Johannes (NHC II,1; III,1; IV,1 und BG 2), in: Schenke, H.-M. / Kaiser, U. U. / Bethge, H.-G., Nag Hammadi Deutsch. NHC I-XIII, Codex Berolinensis 1 und 4, Codex Tchacos 3 und 4. Studienausgabe, Berlin 32013, 74-122.
  • Waldstein, M. / Wisse, F., The Apocryphon of John. Synopsis of Nag Hammadi Codices II,1; III,1; and IV,1 with BG 8502,2 (NHMS 33), Leiden 1995.

Sekundärliteratur

  • Creech, D., The Use of Scripture in the Apocryphon of John. A Diachronic Analysis of the Variant Versions (WUNT II / 441), Tübingen 2017.
  • Hartenstein, J., Erscheinungsevangelien (Gespräche mit dem Auferstandenen) im Kontext frühchristlicher Theologie. Anknüpfungspunkte und Besonderheiten der christologischen Vorstellungen, in: Schröter, J. (Hg.), The Apocryphal Gospels within the Context of Early Christian Theology (BETL 260), Leuven 2013, 305-332.
  • King, K. L., The Apocryphon of John: Genre and Christian Re-Making of the World, in: Schröter, J. / Schwarz, K. (Hgg.), Die Nag-Hammadi-Schriften in der Literatur- und Theologiegeschichte des frühen Christentums (STAC 106), Tübingen 2017, 141-160.
  • King, K. L., The Secret Revelation of John, Cambridge / London 2006.
  • Layton, B., The Gnostic Scriptures. With Additions and Revisions by D. Brakke, New Haven 22021.
  • Luttikhuizen, G. P., Sethianer?, in: ZAC 13 (2009) 76-86.
  • Nagel, T., Zur Gnostisierung der johanneischen Tradition. Das „Geheime Evangelium nach Johannes“ (Apokryphon Johannis) als gnostische Zusatzoffenbarung zum vierten Evangelium, in: Frey, J. / Schnelle, U. (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive (WUNT 175), Tübingen 2004, 675-693.
  • Pleše, Z., Poetics of the Gnostic Universe. Narrative and Cosmology in the Apocryphon of John (NHMS 52), Leiden 2006.
  • Schenke, H.-M., The Phenomenon and Significance of Gnostic Sethianism, in: Layton, B. (Hg.), The Rediscovery of Gnosticism. Proceedings of the International Conference on Gnosticism at Yale, New Haven, Connecticut, March 28-31, 1978, Volume Two: Sethian Gnosticism (SHR 41), Leiden 1981, 588-616.
  • Schöttner, M., Der vollkommene Mensch. Zur Genese eines frühchristlich-gnostischen Konzepts (NTA 61), Münster 2019.
  • Schröter, J., Die apokryphen Evangelien. Jesusüberlieferungen außerhalb der Bibel, München 2020.
  • Turner, J. D., Sethian Gnosticism and the Platonic Tradition (BCNH.E 6), Québec 2001.

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