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Neutestamentliche Wissenschaft – das Politische

(erstellt: Februar 2021)

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1. Die neutestamentliche Wissenschaft

Die neutestamentliche Wissenschaft ist eine bibelwissenschaftliche theologische Disziplin. Sie versteht ihre Aufgabe, die Interpretation des Neuen Testaments als akademische Institution wissenschaftlich zu verantworten, als gesellschaftlichen und zugleich kirchlichen Auftrag. Aus dieser doppelten Beauftragung leitet sie die Adressierung ihrer Interpretationsarbeit im Zusammenwirken der theologischen Disziplinen ab. Sie unterstützt die christlichen Kirchen darin, ihren verbindlichen Bezug auf die biblischen Schriften als methodisch gesicherte, konstruktive Auseinandersetzung zu realisieren, indem sie hinreichende Übersetzungs- und Reflexionsleistungen bereitstellt, die den Öffentlichkeitscharakter kirchlichen Handelns gewährleisten. Die neutestamentliche Wissenschaft entspricht damit zugleich ihrem gesamtgesellschaftlichen Auftrag, biblische Texte als anthropologische, kulturelle, rechts- und politiktheoretische Quellen- und Dialogtexte zu verstehen und in interdiskursiver Kompetenz im Kontext öffentlicher Diskurse zu deuten.

Die Reflexion des Politischen in der neutestamentlichen Wissenschaft verlangt die Aufhellung der gesellschaftlichen Kontextualität dieser theologischen Disziplin. Neutestamentliche Wissenschaft vollzieht sich in konkreten kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Kontexten und zugleich in institutionalisierten, meist akademischen Formationen. In globaler Perspektive gehören diese kollektiven Formationen zu einer prinzipiell offenen Interpretationsgemeinschaft (Fish 1980) der wissenschaftlich am Neuen Testament Arbeitenden. Der Begriff der Interpretationsgemeinschaft bildet den primären institutionellen Kontext jeder Interpretationspraxis (Sauter 2009). Interpretieren vollzieht sich als persönliches, verantwortendes Handeln in Gruppen bzw. Kollektiven, die gemeinsame interpretationstheoretische Voraussetzungen teilen. Die Vielzahl der Diskurse, Schulen, Entwicklungslinien weltweit macht deutlich, dass Forscher und Wissenschaftlerinnen unter je konkreten diskursiven Rahmenbedingungen arbeiten, die die neutestamentliche Wissenschaft insgesamt und die jeweiligen Wissenschaftsdiskurse als kollektives Handeln verstehen lassen. Diese Rahmenbedingungen bestimmen die je konkrete Deutungsmacht, an der die Wissenschaftler und Interpretinnen partizipieren, sich mit ihr auseinandersetzen, sie verändern oder modifizieren (vgl. exemplarisch mit Blick auf die lateinamerikanische Befreiungstheologie Unrau 2017). Diese Rahmenbedingungen prägen leitende Vorstellungen der Interpretationsarbeit, die in den Texten scheinbar wiedererkannt werden, obwohl sie als moderne Resultate ihrer Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte gelten müssen. Diese Feststellung gilt z.B. für als einheitlich und widerspruchsfrei vorausgesetzte „Gottesbilder“, für biblische Protagonisten (Jesus, Paulus, Judas, die Jüngergruppe) oder historische Gegebenheiten.

Momente des Politischen werden mit Blick auf die alternierenden Möglichkeiten des gesellschaftlichen Handelns neutestamentlicher Interpretationsgemeinschaften deutlich. Exegetinnen und Exegeten entscheiden sich zwischen akademischer Selbstisolation und interdisziplinärer Kooperation, zwischen vermeintlich unpolitischer historischer Fixierung und gesellschaftlicher wie politischer Verantwortung, zwischen anachronistischer Aktualisierung und historischer wie geschichtstheoretisch informierter Gewissenhaftigkeit.

Zu den Aufgaben neutestamentlicher Wissenschaft gehört es, in interdisziplinärer Zusammenarbeit zu prüfen, wieweit die Interpretation und Kommunikation biblischer Texte für gegenwärtige Problemkonstellationen und künftige Entwicklungen bedeutsam sind, und unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen diese Bedeutsamkeit zur Sprache kommen kann. Unter diesem Aspekt konvergieren die theologische, kirchliche und gesamtgesellschaftliche Beauftragung der neutestamentlichen Wissenschaft in dem Ziel, die Anliegen, Inhalte und Impulse neutestamentlicher Interpretationsarbeit so geltend zu machen, dass sie in interdisziplinären, interreligiösen und nichtreligiösen Perspektiven verständlich sind und entsprechende Dialoge befördern.

2. Das Politische

Der Versuch, das Politische in der neutestamentlichen Wissenschaft zu bestimmen, setzt voraus, zwischen ihm und der Politik zu unterscheiden (vgl. Reinmuth 2018, 2.1.). Das Politische tritt in unterschiedlichen gesellschaftlichen Fragestellungen und Entscheidungsmomenten auf; es ist kein gesellschaftlich abgrenzbarer Bereich unter anderen (Marchart 2010; Marchart 2013; Bormann 2011, 107). Das Politische steht in enger Relation zur Politik und darüber hinaus zur Kultur und Wissenschaft und zu letztlich allen Bereichen der Gesellschaft (Demirović 2019). Im politischen Handeln, das „Entscheidungen in öffentlichen Interessenkonflikten und unter Rahmenbedingungen politischer Herrschaft wie der durch sie legitimierten Gewalt“ trifft (Deuser 2005, 1), aber auch in anderen gesellschaftlich relevanten Entscheidungen und Entwicklungen werden stets auch Momente des Politischen sichtbar. Das Politische geht jedoch weder in der praktischen Politik auf, noch ist es mit dem Präpolitischen oder dem politisch Imaginären zu identifizieren, den Diskursen also, in denen religiöse und nichtreligiöse Überzeugungen kommuniziert werden, die zu politischen Orientierungen werden können.

Der Begriff des Politischen wird in der politiktheoretischen Diskussion unterschiedlich definiert (Münkler / Straßenberger 2016, 11). In der Perspektive radikaldemokratischer Ansätze geht es mit dem Politischen um die Konfliktivität, die in gesellschaftlichen Gegensätzen und politischen Entscheidungen medial kommuniziert wird (Reinmuth, Positionen). Eine nicht-essentialistische Perspektive auf das Politische begründet die Konfliktivität politischer Praxis mit dem Antagonismus gesellschaftlicher und politischer Gegensätze sowie der Machtförmigkeit politischer Entscheidungen. In politischen Entscheidungen wird mehr als der konkrete Konfliktfall entschieden. Es geht mit ihnen nicht nur um das Agieren innerhalb gegebener Voraussetzungen, Alternativen, Folgenabschätzungen oder Sachzwänge. Es geht immer auch um Überzeugungen, ethische Vorstellungen, persönliche Ideale. Sie können jedoch nur in Ausnahmefällen kompromisslos realisiert werden. Sie brechen sich regelmäßig im politischen Alltagsgeschäft und erfüllen auf diese Weise die für jede Demokratie konstitutive Funktion, eine Verabsolutierung oder kaum noch hinterfragbare Totalisierung politischer Praxis zu verhindern. Konflikte, unauflösbare Widersprüche, antagonistische Konstellationen kennzeichnen auch die pluralen und differenten Interpretationen der Jesus-Christus-Geschichte im Neuen Testament, ihre theologischen und kulturellen Voraussetzungen, ihre narrativen bzw. argumentativen Gestaltungen wie ihre anthropologischen und ethischen Folgerungen (Reinmuth, Positionen). Die neutestamentliche Interpretationsarbeit ist wie alle theologische Arbeit unter der Voraussetzung der Strittigkeit Gottes wie der Menschen zu leisten (Körtner 2006, 44). Die Interpretation dieser Texte stellt sich unter interpretationsethischem Aspekt der inter- wie intratextuellen Widersprüchlichkeit, den Antagonismen und Gegensätzen dieser Texte. Die neutestamentliche Wissenschaft löst eine wesentliche Komponente frühchristlichen Denkens ein, wenn sie sich der Agonalität seiner Texte stellt, und entspricht auf diese Weise zugleich der politiktheoretischen Einsicht in die grundlegende Konfliktivität des Politischen.

Auf der Ebene der erkennbaren Widersprüche zwischen textuell markierten Positionen oder Aussageinteressen, die sich nicht durch rationalisierende Operationen, etwa als komplementierende Aspekte eines letztlich harmonischen und widerspruchsfreien Gesamtbildes, beheben lassen, spielt die historische Einsicht in die ursprüngliche Pluralität frühchristlichen Bekennens eine entscheidende Rolle. Am Anfang stand nicht ein monolithisches Bekenntnis, das dann nach dem Modell eines Dekadenzschemas ausgefächert wurde, so dass sich die schließlich als orthodox durchgesetzten und nobilitierten Bekenntnisse letztlich auf diese eine Grundform zurückführen ließen. Am Anfang standen vielmehr Widerspruch, Vielfalt und die Offenheit historischer Entscheidungssituationen.

Mit den Antagonismen und Widersprüchen im Neuen Testament geraten überdies seine Literarizität, seine Unabgeschlossenheit und seine Grenzen in den Blick. Die literaturtheoretisch begründete Perspektive auf die Literarizität der neutestamentlichen Texte setzt ein neues Verständnis des Politischen in der neutestamentlichen Wissenschaft frei. Die Pluralität und Widersprüchlichkeit neutestamentlicher Texte basiert in literaturtheoretischer Hinsicht auf der Fiktionalität der von ihnen reflektierten Geschichten. Narrativ gestaltendes Handeln schließt immer alternierende Möglichkeiten ein. Es schafft eigene Welten, die medial kommuniziert werden. Die neutestamentliche Wissenschaft trägt dieser Einsicht Rechnung, indem sie sich von ihrer theologischen und interpretationstheoretischen Fixierung auf den historischen Jesus löst und etwa die Frage, wieweit die Texte einem historisch konstruierten Jesusbild entsprechen, einem primär historischen Interesse überlässt. Wird ein historischer Jesus zur Grundlage des Bekenntnisses gemacht, so gerät der Glaube zum Vertrauen auf die Richtigkeit einer historischen Konstruktion, die zur Grundlage für ein abgeleitetes, sekundäres Bekenntnis zur literarischen Größe ‚Jesus’ wird. Zu historischen Thesen sollte man sich nicht bekennen; man sollte sie abwägen und prüfen. Der Glaube, von dem das Neue Testament spricht, ist nicht die Anerkenntnis eines für wahrscheinlich gehaltenen Sachverhalts.

Das Politische dieses Paradigmenwechsels wird darin sichtbar, dass das Historische von seiner fehlgedeuteten Rolle als theologisches Beweismittel befreit wird. Diese Befreiung schließt ein gewandeltes Verständnis der Autorität biblischer Texte ein. Immer noch wird in Predigten oder kirchlichen Stellungnahmen mit dem kaum Widerspruch duldenden Verweis auf das, was die Bibel sagt, das anscheinend Richtige, Wahre und Gute behauptet. Die Gewalt, die ihr dabei angetan wird, gerät zur Gewalt derer, die in ihrem Namen zu sprechen vorgeben. Die meist scheinbar „biblisch“ argumentierende Denunziation jeden Widerspruchs tilgt die produktive Widersprüchlichkeit der Schrift.

Wird das Neue Testament dogmatistisch in dem Sinn gelesen, dass es eine bestimmte politische bzw. kirchliche Botschaft unterstützt, begründet und belegt, so wird es tendenziell vereinheitlicht, harmonisiert und einer jeweils die Interpretation bestimmenden Glaubenserwartung unterworfen. Diese Position macht die Schrift zu einem Sondergebiet, dessen Grenzen durch ein Bekenntnis bestimmt werden. Sie entzieht auf diese Weise das Neue Testament den gesellschaftlichen Diskursen und nichtreligiösen Lektüren und macht es zu einer ethisch aufgeladenen Übergröße, die nicht selten auf einen moralischen Katalog reduziert wird.

Die dialogische Position setzt das Neue Testament der Weltlichkeit der Welt (Bonhoeffer) aus. Sie trägt der Pluralität seiner Texte Rechnung. Sie stellt keine ideologischen, konfessorischen oder moralischen Bedingungen. Mit ihr erkennen Menschen ihre Erfahrungen und Probleme in den Texten wieder. Sie setzen ihre Widersprüche den Widersprüchen der Texte aus.

Das gegenwärtige Bündnis zwischen einer einseitig moralischen Interpretation des Neuen Testaments, die unter Ausblendung der Historizität und Ambivalenz dieser antiken Texte (Reinmuth 2009) deren ethische Adressierungen aktuell geltend machen will, und einem gesellschaftlich gültigen wie politisch gängigen Fundamentalismus der Werte, der unter Ausblendung ihrer geschichtlichen Gewordenheit und ursprünglichen Narrativität deren zeitlose und universale Gültigkeit voraussetzt, ist in der Perspektive neutestamentlicher Wissenschaft kritisch zu reflektieren.

Die neutestamentliche Wissenschaft trägt als theologische Disziplin dazu bei, religiöse, akademische wie politische Fundamentalismen zu erkennen, die gesellschaftlich wie politisch konstitutive Unterscheidung zwischen Beweisbarkeit und Glaubwürdigkeit zu reflektieren, ökumenische Spaltungen zu überwinden, die Diskurse des Politischen von totalisierenden Tendenzen freizuhalten und diejenigen Voraussetzungen demokratischen und insbesondere interreligiösen Zusammenlebens zu reflektieren, die nicht über Verordnungen und Gesetze gewährleistet oder gar geschaffen werden können.

3. Die neutestamentliche Wissenschaft und die gesellschaftlichen Diskurse

Die neutestamentliche Wissenschaft beteiligt sich am gesellschaftlichen Diskurs um die Deutung der Wirklichkeit (Strecker 2017). Das erfordert z.B. historische, altphilologische und literaturtheoretische Kompetenzen, die im Dialog mit philosophischen und weiteren kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskursen zu bewähren und zu entwickeln sind. In diesen komplexen Kontexten ist das Moment des Politischen dort zu lokalisieren, wo die neutestamentliche Wissenschaft an den gesellschaftlichen Antagonismen der Wirklichkeitsdeutung, den fundamentalen Fragen menschlichen Zusammenlebens und ihren offenen Problemlagen so partizipiert, dass sie im Dialog mit den neutestamentlichen Interpretationen der Jesus-Christus-Geschichte zu Gehör kommt, ohne ihre historisch informierte exegetische Arbeit mit gegenwärtigen Problemlagen kurzzuschließen. Erst die streng philologische, historische und exegetische Arbeit an den Texten macht es möglich, ihre gegenwartsrelevanten Impulse zu entdecken.

Die neutestamentliche Wissenschaft kann dazu beitragen, die Vitalität des Politischen zu stärken, seine Isolierung im Bereich praktischer Politik zu mindern und seiner zunehmenden Einhegung und Entschärfung, der „Verwaltung des Politischen“ durch die Politik (Negt / Kluge 1992, 44; Därmann Figuren, 9) gegenzusteuern. Die pluralisierenden Kräfte und Impulse, die jede Demokratie benötigt, sind darauf gerichtet, den leeren Platz der Konstitution von Gesellschaft frei von hypostasierten Symbolgrößen zu halten (Lefort 1999; vgl. Klein 2016, 34-92; Oppelt 2019). Dieser Aspekt ist auch von der neutestamentlichen Theologie zu bekräftigen. Ihm entspricht die vor allem bei Paulus erkennbare Überzeugung, dass die (neue) Gemeinschaft sich keiner menschlichen Gründung verdankt und jede Verabsolutierung menschlicher Gründungsvorstellungen verwehrt (vgl. z.B. 1 Kor 1,26-31; vgl. auch Joh 15,16). Weitere politisch bzw. politiktheoretisch relevante Beiträge neutestamentlicher Interpretationsarbeit beziehen sich auf biblische Relektüren politischer Solidarität (zu einem geschärften Begriff von Solidarität vgl. jetzt Lessenich 2019, 96-110), auf die triadische Konstruktion von Gesellschaft und ihrer Ethik, die Konstitution des Subjekts, des Zeugenbegriffs, der Souveränität oder die soziale Kommunikation unterschiedlicher Identitäten (Reinmuth, Kommunikation 2012). Diese Arbeit ist auf weitere Themen und Fragestellungen auszuweiten. Dabei sind die verbesserten Dialogmöglichkeiten zu berücksichtigen, die sich mit neuen, nichtessentialistischen Lektüreweisen für die politiktheoretisch relevanten Aspekte neutestamentlicher Texte ergeben (Reinmuth 2018, 2.4.).

4. Die Jesus-Christus-Geschichte als Grundbezug neutestamentlicher Wissenschaft

Verdanken sich alle Texte des Neuen Testaments den Interpretationen und reflektierenden Traditionen der Jesus-Christus-Geschichte, so muss die neutestamentliche Interpretationsarbeit zu diesen in Beziehung treten. Unsere Interpretationsarbeit bezieht sich auf die Interpretationsarbeit, die wir in den neutestamentlichen Texten antreffen. Den gemeinsamen Nenner aller neutestamentlichen Texte bildet die Aufgabe, die Jesus-Christus-Geschichte erzählend und argumentierend zu interpretieren. Mit der Beziehung zwischen dem konkreten Text und seiner Jesus-Christus-Geschichte ist ein entscheidendes Kriterium genannt, an dem sich unsere Auseinandersetzung mit konkreten Texten orientieren muss. Dieses Grundkriterium reflektiert das Selbstverständnis der Texte, ohne ihre Interpretationsvoraussetzungen anachronistisch mit eigenen Voraussetzungen zu identifizieren. Mit dem Begriff der Jesus-Christus-Geschichte geht es um ihre hermeneutisch grundlegende Bedeutung für die Rezeptions- und Produktionsprozesse, die zu diesen Texten führten.

Die genauen Umrisse des Begriffs „Jesus-Christus-Geschichte“ für einzelne Autoren und Texte des Neuen Testaments werden narratologisch und argumentationslogisch erschlossen. Der Begriff der Jesus-Christus-Geschichte ist kein außerhalb des Neuen Testaments liegender archimedischer Punkt wie etwa der historische Jesus der historisch-kritischen Methodik, keine gleichsam objektive, jenseits der Texte befindliche Instanz, an denen diese zu messen wären. Das Interesse der Texte richtet sich nicht darauf, möglichst viel von der historischen Gestalt des Jesus von Nazareth zu referieren, sondern seine Geschichte als eingebunden in die Geschichte Gottes zu begreifen. Dabei sind die im Neuen Testament differenten Relationen zwischen der Geschichte des Gottes Israels und der Geschichte Jesu Christi herauszuarbeiten und theologisch zu reflektieren. Das theologische, historische und literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteresse neutestamentlicher Wissenschaft richtet sich primär auf die Texte und die von ihnen reflektierten Gottesgeschichten, als die sie auf je unterschiedliche Weise die Geschichte des Jesus von Nazareth verstanden (Reinmuth Ethik, i.E.).

Der Begriff 'Jesus-Christus-Geschichte' setzt eine wissenschaftliche Methodik und ein historisches Problembewusstsein voraus, die es möglich machen, Umrisse dessen zu zeigen, worauf die Texte sich rezeptiv und produktiv beziehen und wie die ihnen zugrunde liegenden Interpretationshandlungen zu verstehen sind. V.a. historische und literaturwissenschaftliche Forschung hat – so disparat manche Ergebnisse im Einzelnen sein mögen – methodisch überprüfbare und wissenschaftlich kommunizierbare Umrisse des 'historischen Jesus' sowie der Traditions-, Produktions- und Rezeptionsschritte bis hin zu den uns vorliegenden Texten geliefert, die es ermöglichen, Jesus von Nazareth als geschichtliche Gestalt, auf die die Texte sich beziehen, zu umreißen. Die Ergebnisse historischer Jesusforschung sind für unsere Kenntnis des irdischen Jesus entscheidend. Sie haben konstruktive und korrigierende Funktion. Sie ermöglichen es, Jesus von Nazareth möglichst konkret in die damalige Welt einzuzeichnen und gegebenenfalls seine Unterschiedenheit von dem Bild, das die Texte entwerfen, zu erschließen. Die kritische Frage an die Texte lautet jedoch nicht, wieweit sie dem entsprechen, was in historischer Hinsicht über Jesus ausgesagt werden kann. Sie führte regelmäßig dazu, die Texte späteren Interessen zu unterwerfen und sie gegen ihre offenkundige Absicht nach heteronomen Kriterien zu beurteilen (zur politischen Funktion gegenwärtiger Jesusforschung {„Third Quest“} vgl. Strecker 2017, 140f.). In der Annahme, mit dem historischen Jesus ein gleichsam objektives geschichtliches Faktum zu besitzen, das historisch zutreffender und theologisch maßgeblicher sei als die in den Diskursen der frühen Gemeinden entstandenen Texte, wertete man diese gegenüber der vermeintlichen Wahrheit der Geschichte ab.

Die Jesus-Christus-Geschichte ist insofern plural zu denken, als die Interpretationsprozesse, denen sie sich verdankt, von Beginn an plural und different waren (Dragutinović 2017). Diese Feststellung betrifft das Gesamt der Konstruktions-, Auswahl-, Fortschreibungs-, Kontextualisierungs- und Ergänzungsprozesse, die der literarischen Fixierung neutestamentlicher Texte vorausgingen. Es gibt keine nicht-interpretierende oder nicht-interpretierte Erinnerung an Jesus, seine Praxis und seine Geschichte. Die neutestamentliche Wissenschaft interpretiert das Neue Testament folglich als Sammlung interpretierender Texte. Sie setzt sich mit ihnen als Texten auseinander, in denen Menschen des antiken Judentums versuchten, die Geschichte Jesu Christi zu verstehen, zu deuten, auf ihre anthropologischen, theologischen und sozialen Konsequenzen hin zu befragen. Die neutestamentlichen Einsatzpunkte der Geschichte Jesu Christi, die das plurale und differente Erzählen und Reflektieren seiner Geschichte begründen, sind die metaphorischen und narrativen Bezeugungen des todüberwindenden Handelns Gottes am Gekreuzigten (Alkier 2009). Es gibt nach neutestamentlichem Verständnis kein neutrales oder abstraktes Ostern, kein Ostern ohne die Bindung an den Gott Israels, ohne Bedeutung für die Zeugen und die, die ihrem Zeugnis vertrauen. Wo theologisch ein Abstraktum Ostern etwa als reine, objektive und neutrale Tatsache konstruiert wird, geht der neutestamentliche Kern des österlichen Vertrauens verloren. Er ist der Grund für die streitbare Positionalität des Neuen Testaments.

Die Auferweckung Jesu hat nach frühchristlichem Verständnis die Logik scheinbar gegebener Alternativen überwunden; sie zieht die Macht todbringender Zwänge und tödlicher Entscheidungen in Zweifel. Die Auferstehung Jesu ist folglich das Politikum, das der agonalen Positionalität des Neuen Testaments und ihren Konsequenzen für das Politische in der neutestamentlichen Wissenschaft zugrunde liegt. Wurde die Erhöhung des Gekreuzigten als ein Ereignis, das untrennbar mit dem endgültigen Handeln Gottes verbunden war, verstanden (vgl. Reinmuth 2018, 6.), so hatte sie eine unmittelbar und bedingungslos alle Menschen betreffende Bedeutung, die auch Konsequenzen für ihr Verständnis des Politischen hatte.

Das Politische neutestamentlicher Interpretationsarbeit weiß sich durch das Unangepasste, Unerhörte und Unbedingte der Jesus-Christus-Geschichte, der Realität seiner Auferweckung (Alkier 2009) und ihrer neutestamentlichen Interpretationen bestimmt. Letztlich stellt sich als das Politische in der neutestamentlichen Wissenschaft ihre Auseinandersetzung mit dem todüberwindenden und lebenstiftenden Handeln Gottes heraus, das sich in Politik nicht überführen lässt und sie doch andauernd provoziert. Auf dieser Auseinandersetzung gründet der neutestamentliche Beitrag zur Zukunft des Politischen (Reinmuth 2011).

5. Der Öffentlichkeitscharakter neutestamentlicher Wissenschaft

Die neutestamentliche Wissenschaft hat als theologische Disziplin die gesellschaftliche wie politische Relevanz ihrer Interpretationsarbeit an ihrem Gegenstandsbereich zu erweisen. Diese zentrale Aufgabe ist inter- wie transdisziplinär, also sowohl im wissenschaftlichen Diskurs der theologischen wie nichttheologischen Disziplinen als auch mit Blick auf ihre Relevanz für die gesamtgesellschaftlichen Diskurse zu verantworten. Neutestamentliche Interpretationsarbeit steht folglich vor der Aufgabe, die biblischen Texte so zu erschließen, dass sie interreligiös wie gesamtgesellschaftlich kommuniziert werden können.

In transdisziplinärer Hinsicht gehört es zur Beauftragung der neutestamentlichen Wissenschaft, die Kommunizierbarkeit neutestamentlicher Texte nicht nur in der kirchlichen Praxis, sondern auch in nichttheologischen Kontexten wie z.B. dem schulischen Bereich zu unterstützen, in denen sie ohne konfessorische Vorbedingungen und ohne eigene historische oder philologische Spezialkenntnisse gelesen werden können, ohne in fundamentalistischer oder biblizistischer Fixierung instrumentalisiert zu werden. Dabei sind die nichtreligiösen Resonanzen neutestamentlicher Texte ebenso zu beachten und mit Blick auf aktuelle Rezeptionsbedingungen und die eigene Interpretationsarbeit zu reflektieren, wie die Geschichte der Bibelwissenschaften einschließlich der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte neutestamentlicher Texte kritisch aufzuarbeiten ist.

Wie sich die wissenschaftliche Interpretation des Neuen Testaments den strittigen oder offenen Fragen einer Gesellschaft stellt, entscheidet über die aktuelle Relevanz ihrer Arbeit. Das kirchlich-protestantische Konzept einer „Öffentlichen Theologie“ (zur Definition vgl. Schliesser 2019, 78; Vögele 1994, 421f.; zur historischen und systematischen Klärung vgl. Höhne 2015; Körtner 2011) benennt die im Kern selbstverständliche Motivation akademischer Theologie, ihre Arbeit öffentlich und gesellschaftsbezogen zu verrichten. Jeder exegetischen Interpretationsarbeit wohnt eine politische Dimension inne, insofern sie an öffentlicher Deutungsmacht partizipiert bzw. eine Position öffentlich kommunizierter Deutungsmacht einnimmt (s.o. 1.; Reinmuth, Positionen, i.E.; Stoellger 2014, 20ff.; Liebsch 2014).

Vor diesem Hintergrund ist die Bemerkung nicht überflüssig, dass keine Auslegung sich darauf berufen kann, lediglich neutral, also ‚unpolitisch’ zu sein (Reinmuth 2018). Diese Behauptung meint nicht, dass die Ergebnisse neutestamentlicher Interpretationsarbeit tagespolitische Bedeutung haben. Die Frage nach dem Politischen in der neutestamentlichen Wissenschaft richtet sich an ihre Interpretationsarbeit und damit auf die Frage, wie sie ihr Verhältnis zum biblischen Text realisiert. Mit dem Politischen in der neutestamentlichen Wissenschaft geht es um ihre interpretationstheoretische und -ethische Grundierung. Das Interpretieren biblischer Texte führt regelmäßig zur „Destruktion des Neutralen“, die gerade auch die meist uneingestandene politische Prägung anscheinender Objektivität aufdeckt (Dronsch 2015). Jede reflektierte Hermeneutik hat letztlich politische Konsequenzen; dabei ist nicht entscheidend, ob sie sich ‚politisch’ oder ‚unpolitisch’ nennt (Bormann 2010; Bormann 2018). Deshalb gehört zur Ethik der Interpretation auch die politiktheoretische Reflexion.

Eine angeblich unpolitische neutestamentliche Wissenschaft gab vor, unabhängig von philosophischen Entwicklungen lediglich ihre historische Forschung zu betreiben. Demgegenüber vermittelt die Besinnung auf die tatsächlichen interpretationstheoretischen Voraussetzungen ein anderes Bild. Die kritische und konstruktive Rezeption philosophischer und weiterer kulturwissenschaftlicher Entwicklungen gehört zu den Standardvoraussetzungen dieser Disziplin. Ebenso gebietet die komplexe Kontextualität neutestamentlicher Wissenschaft die Wahrnehmung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Problemlagen und ihre Einbeziehung in die Interpretationsprozesse.

Die neutestamentliche Wissenschaft versteht sich als eine gesellschaftlich engagierte Theologie, die ihre gesellschaftliche Verortung und politische Kontextualität zu reflektieren hat. Sie wird damit sowohl ihrem gesellschaftlichen wie ihrem theologischen Auftrag gerecht. Sie hat in der ihr eigenen Vielstimmigkeit dafür zu sorgen, dass sie in der Pluralität der Diskurse Gehör findet. In neutestamentlicher Perspektive ist der Austausch zwischen biblischen Texten und anders- bzw. nichtreligiösen ethischen Entwürfen und Praktiken als gegenseitig respektierender Dialog zu führen. Die Proklamation einer „öffentlichen Theologie“ markiert ein empfindliches Defizit im gesellschaftlichen Selbstverständnis von Kirche und Theologie. Das Programm einer „Öffentlichen Theologie“ macht eine rechtliche Gegebenheit zum theologischen Programm (Thiele 2015). Überdies wird ein Gegenüber von Kirche, Christentum und Theologie gegenüber einer tendenziell defizitären gesellschaftlichen Öffentlichkeit konstruiert, das die gesellschaftliche Wirklichkeit verfehlen muss (Hoppe 2020) und den Eindruck erweckt, Theologie und Kirche würden den ethischen Diskursen der Gesellschaft gegenüber mit höherem moralischem Anspruch auftreten.

Für die protestantischen Traditionen neutestamentlicher Wissenschaft ist festzuhalten, dass der Öffentlichkeitsanspruch von Luthers Theologie, die sich im Kern als Schriftauslegung verstand, sich stets als gesellschaftlich und politisch folgenreich verstand. Das ist nicht als ein Ergebnis vielleicht unbeabsichtigter Folgen abzutun und ebenso wenig lediglich den gesellschaftspolitischen Verhältnissen zu Beginn des 16. Jahrhunderts geschuldet (Reinmuth 2017). Vielmehr ist selbstkritisch zu fragen, ob die Bibelwissenschaften heute hinreichend realisieren, wie sehr ihre Weise der Interpretation biblischer Schriften und Texte ein politisches Handeln ist, für das sie selbst Verantwortung tragen. Politisch an unserem Handeln ist bereits das Wie unserer Praxis, und in der Folge ist es dann auch das Wie unserer Partizipation an den gesellschaftlichen und politischen Diskursen. In reformatorischer Perspektive wird die Schrift zum Wort Gottes, wenn Menschen sie zur Anrede werden lassen. Jede Interpretation eines biblischen Textes ist in dieser Hinsicht zur adressierenden und performativen Positionierung verpflichtet (Reinmuth 2019, 15).

6. Interpretationstheoretische Aspekte

Die Verantwortung der Interpretierenden für den Interpretationsprozess, seine Relevanz und seine Aktualität (Schüssler Fiorenza 1999, 57-82.195-198) erfordert, die kulturgeschichtlich gesehen fremden biblischen Texte und die eigene Arbeit an deren sachgemäßer Interpretation klar zu unterscheiden. Die Kommunikationssituationen, in denen die neutestamentlichen Texte entstanden, die Fragen und Antworten, auf die sie sich bezogen, waren historisch einmalig. Diese historische Bedingtheit und Kontextualität machen diese Texte unverwechselbar und begrenzen sie zugleich. Deshalb kommt es in interpretationsethischer Hinsicht darauf an, nicht nur die Fremdheit, sondern auch die Grenzen dieser Texte wie die Begrenztheit der eigenen Interpretationsarbeit zu respektieren. Mit ihren Grenzen wird zugleich die konkrete Konfliktivität neutestamentlicher Texte sichtbar. Die Interpretation eines neutestamentlichen Textes kommt da an ihr jeweiliges Ende, wo sie an seine Grenzen gelangt und diese theologisch reflektiert (Reinmuth / Bull 2006, 86-91).

Die Reflexion der Inkongruenz von Text und Interpretation ist eine wichtige Bedingung, einerseits das kritische, innovative Potential gelungener Interpretation zu unterstreichen, andererseits ihre eigenen Grenzen kritisch zu beachten. Erst so können wir einen Text mit der ihm eigenen Positionalität zu Wort kommen lassen und die selbstkritische Komponente unserer Interpretation auch auf ihn anwenden. Ein Textverständnis, das lediglich den vermeintlichen „Ursprungssinn“ der Texte herauszuarbeiten bemüht ist und gegenüber der angeblich objektiven „Aussage“ eines Textes keinerlei eigene Verantwortung erkennt, ist kritisch zu revidieren. Ihm ist eine interpretationstheoretische Position gegenüberzustellen, die Verantwortung für die eigene deutende Tätigkeit übernimmt (Reinmuth 2012, 51f.). Diese Verantwortung ist nicht mit einer vereinnahmenden, instrumentalisierenden oder unterwerfenden Lektüre biblischer Texte zu verwechseln und streng von dieser zu unterscheiden (Körtner 2006, 43). Das Politische neutestamentlicher Wissenschaft wird auch dort sichtbar, wo es um die Folgen ihrer Interpretationsarbeit für eine politische Ethik geht (Reinmuth, Ethik, i.E.), und wo politische Positionierungen bzw. Haltungen gefolgert werden, die individualethisch zu reflektieren und zu verantworten sind (Reinmuth 2018; Vogel 2014). In solchen Prozessen erlangt das politisch handelnde Subjekt Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von politisch scheinbar notwendigen Erfordernissen. In der persönlich verantworteten Entscheidung und politischen Haltung entwickelt das Politische der neutestamentlichen Interpretationsarbeit seine stärkste Kraft.

Die gesellschaftliche Verantwortung neutestamentlicher Interpretationsarbeit schließt es aus, im interdisziplinären oder gesamtgesellschaftlichen Austausch Sonderbereiche zu beanspruchen, die nur unter konfessionellen oder konfessorischen Voraussetzungen zugänglich sind. Die neutestamentliche Wissenschaft bedarf auch in dieser Hinsicht der kritischen Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte. Die bibelwissenschaftliche Methodik der Textinterpretation im Rahmen wissenschaftlicher Theologie muss in gleicher Weise kommunizierbar sein wie die anderer Disziplinen. Es gibt hier in methodischer und wissenschaftstheoretischer Hinsicht keinen Sonderbereich; neutestamentliche Exegese ist auf Interdisziplinarität wie Intersubjektivität grundlegend angewiesen.

Eine Vielzahl theologischer Fachbegriffe ist unter diesem Aspekt kritisch zu bewerten. Begriffe haben ihre eigene Geschichte und präsentieren konkrete historisch gewordene Kontexte. Diese Kontexte enthalten Frontstellungen, Abgrenzungen, definitorische Entscheidungen. Begriffe können politische Kampfbegriffe (gewesen) sein oder werden. Begriffe haben Bruch- und Frontlinien, sie bringen mit dem Gemeinten auch die Perspektive auf den Begriff, unter dem das Gemeinte verstanden wird. Sie blenden andere Perspektiven, Positionen und Sachverhalte aus (Ophir 2012). Sie schaffen Wirklichkeit, indem sie deren mediale Kommunikation informieren. Die neutestamentliche Wissenschaft beteiligt sich an der gesellschaftlichen Kommunikation der Wirklichkeit, indem sie die eigene Fachsprache und deren Traditionen kritisch reflektiert. Diese stets zu leistende Reflexion teilt sie mit den kulturwissenschaftlichen Diskursen ihrer Gegenwart; sie nimmt damit zugleich sprachpolitische Impulse des Neuen Testaments auf und reflektiert zum Beispiel die katachrestischen Begriffsverschiebungen im frühen Christentum (Hetzel 2011; Reinmuth, Turn 2012). Aus dieser Arbeit erwachsen mit Blick auf die politische Gegenwartssprache begriffskritische Anstöße.

Vor diesem Horizont ist es erforderlich, das Politische der traditionellen neutestamentlichen Fachsprache aufzuarbeiten, die Narrativität und Metaphorizität als die den neutestamentlichen Texten und Begriffen entsprechenden Sprachformen zu bestimmen und die Zahl entsprechender Einzelstudien zu erhöhen. Die Problematik einer theologischen, sachlich meist unzutreffenden, vernebelnden und missverständlichen Fachsprache in der neutestamentlichen Wissenschaft tendiert dazu, sie zu einem wissenschaftlichen Arkanum werden zu lassen. Begriffe wie „Unzucht“, „Vollmacht“, „Typologie“ u.ä. sind scheinbar durch neutestamentliche Texte gedeckt, verdanken sich jedoch tatsächlich den Traditionen bestimmter Übersetzungsentscheidungen; andere wie „Urchristentum, Judenchristentum, Heidenchristentum, Werkgerechtigkeit, Christusgeschehen, Sprachereignis“ verdanken sich modernen Projektionen und werden zu Recht als Anachronismen kritisiert.

Ein weiteres für die politische und gesellschaftliche Relevanz der neutestamentlichen Wissenschaft folgenreiches Problemfeld ist die interpretationstheoretische Grundierung der historisch-kritischen Methodik. Auch dieser Begriff verdankt sich einer geschichtlich entstandenen Frontstellung, entspricht aber nicht hinreichend gegenwärtigen Herausforderungen historischen und theologischen Arbeitens. Die geschichtstheoretischen Voraussetzungen der historisch-kritischen Methodik führten nicht selten zu anachronistischen Resultaten. Die historisch-kritische Methodik rekonstruiert aufgrund ihres historischen Positivismus, den sie ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Genese verdankt, vermeintlich geschichtliche Realitäten hinter den Texten, ohne hinreichend zu berücksichtigen, dass es sich dabei stets um konstruierende Tätigkeiten handelt. Sie gerät dabei in die Gefahr, nicht die überlieferten Texte, sondern die hinter ihnen hypothetisch erschlossenen historischen Sachverhalte zu interpretieren. Sie tendiert dazu, den provisorischen Charakter ihrer Ergebnisse zu Sachverhaltsaussagen werden zu lassen. Auf diese Weise werden Hypothesenbildungen zur Grundlage weitreichender historischer oder theologischer Aussagen, deren bestreitbare Grundlagen nicht mehr erkennbar sind. Diese Problematik wird exemplarisch an der aktuellen Diskussion um die sogenannte Logienquelle deutlich (Tiwald 2020). Prozesse der Selbstaufklärung setzen regelmäßig Momente des Politischen frei. Eine umfassende und nachhaltige Aufklärung der mit der historisch-kritischen Methodik stillschweigend etablierten hermeneutischen, geschichtstheoretischen, philosophischen und anthropologischen Voraussetzungen steht m.W. noch aus.

7. Abschluss

Mit dem Politischen in der neutestamentlichen Wissenschaft geht es um die Diversität und Konfliktivität der Interpretationen und ihre gesellschaftliche Relevanz. Der Streit zwischen unterschiedlichen oder gegensätzlichen, einander ausschließenden interpretationstheoretischen Positionen, Methodiken, Ansätzen und Textauffassungen ist durch keine heteronome Entscheidung zu erledigen. Das Politische ist in der neutestamentlichen Wissenschaft da zu lokalisieren, wo die Positionalität dieser Disziplin und ihrer Methodik die Konfliktivität des Politischen reflektiert. Das bedeutet in interpretationstheoretischer Hinsicht, im Diskurs alternierender Interpretationen, die ihrerseits ein zutreffendes Verstehen für sich reklamieren, der den neutestamentlichen Texten eigenen Performativität Rechnung zu tragen (Reinmuth 2019), ihre Antagonismen, Konfliktlinien und Widersprüche nicht zu harmonisieren, sondern aufzudecken, nachzuzeichnen und in die konstruktive Auseinandersetzung mit ihnen zu führen. Eine aufgeklärte, kritische und historisch wie geschichtstheoretisch informierte neutestamentliche Wissenschaft bezieht in diesen Kontexten erkennbar Position, ohne anderen Interpretationen das Recht abzusprechen, sich ihrerseits zu äußern, soweit diese den Agonismus der Interpretationen anerkennen.

Literaturverzeichnis

1. Literatur

Alkier, S., 2009, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments, Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Bd. 12, Tübingen/Basel

Bormann, L., 2010, Der Politikbegriff der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland, in: Eckart Reinmuth (Hg.), Politische Horizonte des Neuen Testaments, Darmstadt, 28-49

Bormann, L., 2011, Befreiung und Rettung. Das Politische in der lukanischen Vorgeschichte, in: Eckart Reinmuth (Hg.), Neues Testament und politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart, 98-113

Bormann, L., 2018, Soziale Gerechtigkeit und ihre politische Verwirklichung im Neuen Testament, in: Christof Landmesser, Doris Hiller (Hg.): Gerechtigkeit leben, Leipzig, 13–36

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