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Bibelrezeption Jugendlicher

(erstellt: Februar 2021)

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1. Einleitung

Zur religionspädagogischen Arbeit gehört elementar das Lesen der → Bibel als Grundlagenbuch des Christentums. Aufgrund der Erfahrung, dass insbesondere Jugendliche sich nur ungern auf die Bibellektüre einlassen, stellt sich also die Frage, wie kommt die Bibel zu den Jugendlichen oder die Jugendlichen zur Bibel, so dass es eine fruchtbare Auseinandersetzung entstehen kann.

Verschiedene Forschungsansätze haben die Bibelrezeption von Kindern und Jugendlichen untersucht. Zu unterscheiden sind zwei verschiedene Ansätze. Zum einen die quantitativen Ansätze, die eine Repräsentativität im statistischen Sinn anstreben (u.a. Gennerich/Zimmermann, 2020; Hanisch/Bucher, 2002). Zum anderen die qualitative Forschung (→ Qualitative Sozialforschung in der Religionspädagogik), die sich an Fallstudien ausrichtet und damit keine statistische Repräsentativität beanspruchen kann, aber durch Generalisierung der Ergebnisse, indem von einem Fall auf mehrere geschlossen wird, auf Gesetzmäßigkeiten zu schließen versucht (u.a. Zimmermann, 2012; Fricke, 2010; Dern, 2013; Boeck, 2021 [in Bearbeitung]).

Im Folgenden werden aktuelle Ergebnisse aus beiden Forschungssträngen zur Bibelrezeption Jugendlicher vorgestellt. Abschließend werden praktische Implikationen aus den Erkenntnissen dargestellt.

2. Die quantitative, theoriegeleitete Datenanalyse

Beispielhaft an der neuesten Publikation von Carsten Gennerich und Mirjam Zimmermann (2020) soll dieser Forschungsansatz dargestellt werden. Denn hier findet sich der explizite Bezug auf die Bibelrezeption von Jugendlichen und die quantitativ erhobenen Daten werden mithilfe der Wertequadranten von Schwartz theoriegeleitet analysiert und ausgewertet.

2.1. Forschungssetting

In ihrem Buch geben Gennerich und Zimmermann (2020, im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben auf dieses Werk) einen guten Überblick über andere quantitative Rezeptionsforschung in Bezug auf Kinder und Jugendliche (9-29). Für die aktuelle Studie von Gennerich und Zimmermann stand die Frage nach Bibelverwendung, Bibelwissen und Einschätzung der Bibel durch Kinder und Jugendliche im Mittelpunkt (59). Forschungsinteresse war zudem, der Einfluss des Lebensstils auf den Zugang zur Bibel, wie Kinder und Jugendliche die Bibel interpretieren und Gendereffekte beim Zugang zur Bibel (58). Da die Studie Kinder und Jugendliche von 9-20 Jahre einbezog, konnte auch untersucht werden, inwiefern sich die Wahrheitsfrage und die Vorstellungen in Bezug auf die Bibel im Laufe der Pubertät verändern. Die Studie wurde in vier verschiedenen Ländern durchgeführt: Deutschland, Kanada, Australien und England. Dadurch wurde zudem ein Kulturvergleich zwischen der deutschsprachigen und der englischsprachigen Kohorte möglich.

Für die Studie wurde ein umfassender Fragebogen neu entwickelt, in dem neben Hintergrundvariablen auch die Abfrage persönlicher Wertehaltungen integriert war. Anhand zweier grundlegender Wertedimensionen konnten so die Wertehaltungen der Befragten beschrieben werden und anschliessend mit dem Lebensstil-Ansatz verschiedene Schülergruppen identifiziert werden, die auf je eigene Weise biblische Texte interpretieren (59).

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Die Wertefeldanalyse beschreibt alle denkbaren Werte anhand zweier Wertedimensionen (Selbststeigerung und Selbsttranszendenz/Offenheit für Wandel und Bewahrung). Dieses Wertefeld wurde für die Analyse der Interpretation der Jugendlichen beigezogen. Anhand der Zachäusgeschichte (Lukasevangelium 19,1-10) wurde erfasst, wie Kinder und Jugendliche interpretieren. Dabei musste zuerst eine Einschätzung der Geschichte abgegeben werden, danach wurden zehn Formulierungen vorgegeben, die das Wertefeld der Geschichte darstellen und die mit den persönlichen Wertehaltungen der Werteskala nach Schwartz korrespondieren.

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Die Jugendlichen sollten die Wertehaltungen der Zachäusgeschichte einschätzen. Dadurch konnte das persönliche Werteprofil der Jugendlichen direkt mit der inhaltlichen Wahrnehmung der Zachäusgeschichte bezogen werden verglichen werden (60). Die persönliche Deutung der Geschichte wurde dann durch eine narrative Methode (schriftliche Antwort, was die Zachäusgeschichte in einer bestimmten Situation bedeuten könnte, Nancy-Frage siehe unten) abgefragt (60).

Aufgrund des sehr umfangreichen Fragebogens fielen insbesondere die Nacherzählung der Lieblingsgeschichte und die Interpretation der Zachäusgeschichte sehr knapp aus (63). Insgesamt wurden 2111 Kinder und Jugendliche mit dem Fragebogen befragt (1446 umfasst das deutschsprachige Sample, 665 das englischsprachige Sample). Die Mehrheit der befragten Schülerinnen und Schüler besuchte ein Gymnasium. Nur 1% der Teilnehmenden besuchten eine Hauptschule. Die angefragten Hauptschulen hatten den Bogen teilweise abgelehnt, weil er für die Schülerinnen und Schüler zu umfangreich und leseintensiv sei (68).

Für die Frage der Bibelrezeption und der Deutungsfähigkeit ist vor allem der dritte Hauptteil des Fragebogens interessant, indem es um die Interpretation der Bibelgeschichte geht. Deshalb werden vor allem diese Ergebnisse dargestellt.

2.2. Grundlegende Erkenntnisse

Als grundlegende Erkenntnisse seien zudem festgehalten, dass diese Studie eine hohe Bedeutung der Medien (insbesondere DVDs/Filme, Hör-CDs, Computerspiele und → Comics) für den Kontakt mit biblischen Geschichten belegen kann (77) (→ Medien, soziale Medien). Selbst lesen die Hälfte der Kinder und Jugendlichen die Bibel nie und ein weiteres Drittel selten (80). Ein wichtiges Ergebnis für den Lernort von biblischen Geschichten ist, dass als Hauptquelle der Religionsunterricht angegeben wird. Das weist auf eine hohe Bedeutung des Religionsunterrichtes für die Vermittlung von Bibelwissen hin. Eindrücklich auch die Ergebnisse, wie die Bibel bewertet wird: Sie ist für knapp 90% der Kinder und Jugendlichen ein altes Buch, das von Gott handelt (69%), die Hälfte findet es langweilig, 65% halten sie für wahr und nicht für erfunden, 61% finden, sie ist schwer zu verstehen und knapp 78% finden, dass sie vieldeutig ist. Aber doch über 50% des deutschsprachigen Samples sagt, dass sie mit ihrem eigenen Leben nichts zu tun hat (90). Hier ist die Korrelation mit dem Alter der Kinder eindrücklich. Je älter sie werden, desto langweiliger wird die Bibel und die Bewertung, dass die Bibel erfunden sei, steigt mit dem Alter der Jugendlichen sogar um 26 Prozentpunkte (92). „Festzuhalten ist hier, dass die Vieldeutigkeit bei den Älteren mit einer Zustimmung von 87% das dominierende Merkmal der Bibel ist. Die Schülerinnen und Schüler zeigen damit, dass sie von einem fundamentalistischen Bibelverständnis weit entfernt sind. Zugleich zeigt die Bewertung der Bibel bei Älteren, dass die Vieldeutigkeit insgesamt nicht als ein positiv zu würdigendes Merkmal der Bibel wahrgenommen wird. Hier könnte entsprechend ein wichtiger Bildungsfokus der Bibeldidaktik liegen“ (92).

2.3. Deutungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen

Zur Deutungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen weisen Gennerich und Zimmermann auf folgende Erkenntnis, dass die Ergebnisse hauptsächlich zeigen, welche Begründungsstrategie die Teilnehmenden wählen. Sie selbst ersetzen das Wort Deutungskompetenz mit Begründungskompetenz, denn die Beantwortung der Aufgaben fiel häufig sehr knapp aus und es handelt sich mehr um Zuschreibungen als Interpretationen.

Sie mussten nach der Lektüre der Zachäusgeschichte folgende Frage schriftlich beantworten: „Stell dir nun als Zweites die Austauschschülerin Nancy vor. Nancy hat durch einen Unfall als Kleinkind einen Arm verloren und denk, dass sie weniger wert sei als ihre Mitschüler. Was könnte die Geschichte ihr sagen?“ (111). Die Ergebnisse zeigen, dass 42% aller Antworten unbegründete Behauptungen sind im Stil „Jeder Mensch ist gleich viel wert“ (111). Ähnlich die zweithäufigste Begründungsform, die Begründung mit einem externen Argument (z.B. „Sie ist ohne Zweifel gleich viel wert. Außerdem wird sie eines Tages von ihrem Leid erlöst und lebt auch ohne ihren Arm ein schönes Leben“ [112]). Eine Begründung mit explizitem Bezug zur Geschichte lieferten nur 8 % der Teilnehmenden. Ebenso zu beachten ist, dass 7% fehlende korrekte Antworten hatten und 25%(!) leere Kästchen ließen (112), was meines Erachtens auf eine gewisse Überforderung mit der Aufgabe hinweist.

2.4. Die Bibelrezeption der Jugendlichen in der theoriegeleiteten Analyse

In einem weiteren Schritt, wurden die Befunde der Wertefeldanalyse benutzt, um die Befunde zur Deutung der Zachäusgeschichte besser zu verstehen (133). Die Zachäusgeschichte wurde von allen Jugendlichen durch das Einordnen der Geschichte im Wertefeld als prosoziale, universalistische Geschichte verstanden (siehe oben zugeschriebene Geschichtenwerte, 135). Der dritthöchste Wert war nach prosozial und universalistisch aber Konformität, was der Geschichte gar nicht entspricht. Damit wird die Geschichte von den Jugendlichen als profiliert konservativ eingeschätzt. Gennerich und Zimmermann deuten diesen Befund, dass die Schülerinnen und Schüler die Nonkonformität von Zachäus und Jesus gar nicht wahrnehmen, sondern die Geschichte als Darstellung einer konventionellen Religion einordnen. Damit zeigt die Einordnung der Geschichte im Wertefeld eine stereotype Zuschreibung der Geschichte entsprechend ihrer Einstellung zur Bibel, wie sie im oberen Teil des Fragebogens abgefragt wurde: alt, langweilig und hat mit ihrem Leben nichts zu tun (siehe Abb. 2). Gemäß Gennerich und Zimmermann projizierten die Teilnehmer bei der Interpretation tendenziell die eigenen Werthaltungen in die Geschichte. Wobei hier m.E. gefragt werden muss, ob das nicht bei jedem Interpretationsvorgang passiert, unabhängig von der Bibel und ob Items mit denen die Wertehaltung der Zachäusgeschichte abgefragt werden, der Vielschichtigkeit des Bibeltextes überhaupt gerecht werden Zimmermann und Gennerich sehen hier eine Aufgabe der Lehrpersonen, Bibelgeschichten vor der Vereinnahmung der Schülerinnen und Schüler zu bewahren und Interpretationen nicht einfach zu bestätigen, sondern auch „interpretations-erweiternde Aspekte der Geschichte“ einzubringen, wodurch die Schülerinnen und Schüler lernen mit einer Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten umzugehen (149). Auffallend sei, dass sogenannte „progressive“ Interpretationen viel seltener sind. Als Beispiel für progressive Interpretation bringen Gennerich und Zimmermann, dass Lukas Jesus als Mensch zeichnet, der Vorurteile als Lügen enttarnt (186f.) Gennerich und Zimmermann vermuten, dass die im Wertefeld als progressiv eingeordneten Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer geringeren Religiosität weniger elaborierte Antworten geben können (155). Die Jugendlichen, die im Wertefeld konservativere Werte erreichen, sind dafür geübter in der Formulierung von kohärenten und begründeten Interpretationen. Oder aber die Ursache könne darin liegen, dass im Religionsunterricht kaum progressive Interpretationen als Deutungsmöglichkeit kaum angeboten werden, wodurch die Versprachlichung dieser Interpretationen nicht eingeübt werde und sich zudem viele Schülerinnen und Schüler aus der linken Feldhälfte vom Religionsunterricht abmelden, weil ihnen die Interpretationsangebote zu unattraktiv erscheinen („haben mit meinem Leben nichts zu tun“, siehe Abb. 2) (155). Interpretationen von biblischen Geschichten mit konservativen Werten werden von den progressiven Schülerinnen und Schülern als unvereinbar mit ihrer eigenen Entwicklung wahrgenommen, die in der Pubertät vom Autonomiestreben geprägt ist. Mehr noch, die Schülerinnen und Schüler stereotypisieren die Geschichte als konservativ, aufgrund ihrer Zuschreibungen zur konventionellen Religion und können dadurch keinen Zugang finden.

2.5. Bibeldidaktische Schlussfolgerung

Zimmermann und Gennerich ziehen aus dem Befund die Schlussfolgerung, dass im Religionsunterricht den Stereotypsierungen immer wieder öffnende Perspektiven entgegengehalten und die progressiven Interpretationen eingeübt werden müssen, damit die Schülerinnen und Schüler diese eben nicht nur behaupten, sondern auch argumentativ begründen können 155). Aus bibeldidaktischer Perspektive schlussfolgern sie, dass der argumentative Umgang mit der Bibel stärker gefördert werden muss (184). Wobei meines Erachtens gefragt werden kann, ob das Setting der Umfrage Zuschreibungen anstelle Argumentationen gefördert hat.

3. Qualitative Forschung zur Bibelrezeption Jugendlicher

Während die quantitative Untersuchung von Gennerich und Zimmermann durch die breite Streuung der Fragebogen eine grosse Breite an Jugendlichen abdecken kann, obwohl es auch hier durch das Sample Einschränkungen gibt, können qualitative Studien mit ihren Ansätzen keine Fläche abdecken, dafür aber „Tiefenbohrungen“ vornehmen.

Nun können an dieser Stelle nicht sämtliche qualitative Studien zur Bibelrezeption vorgestellt werden, denn sie haben in der Religionspädagogik seit der empirischen Wende eine grosse Tradition, insbesondere in der kinder- und jugendtheologischen Richtung wird immer wieder mit verschiedenen qualitativen Methoden die Bibelrezeption von Kindern und Jugendlichen erforscht, was in den Jahrbüchern für Kinder- und Jugendtheologie gut nachlesbar ist. Einen guten Überblick über die Methoden bietet Stephanie Klein (→ Qualitative Sozialforschung in der Religionspädagogik). Beispielhaft werden hier aus zwei Untersuchungen Ergebnisse vorgestellt.

3.1. Jugendliche deuten die Auferstehung

In der Studie meiner eigenen Studie zur Bibelrezeption von Jugendlichen (Boeck, 2020) ging es um den Lese- und Rezeptionsprozess. Gerade der Fokus auf den Prozess der Rezeption legte die Auswahl der dokumentarischen Methode nahe, die prozessrekonstruktiv ist, also versucht zu beobachten, nach welchen Mustern und in welchem Orientierungsrahmen Prozesse verlaufen (Bohnsack, 2014). Um die Rezeption der Auferstehungserzählung zu untersuchen wurden Gruppendiskussionen wurden in Konfirmationsklassen durchgeführt. Damit war gegeben, dass alle Jugendlichen in derselben Altersgruppe (zwischen 15 und 16 Jahren) sind. Sie hatten dieselbe Erfahrung vom besuchten Konfirmationsunterricht, auch wenn sich die Ausgestaltung des Unterrichts in den verschiedenen Kirchgemeinden unterscheidet. Das Sample besteht aus evangelisch-reformierten Jugendlichen der Schweiz, insofern kann auch die religiöse Sozialisation verglichen werden. Es wurden zudem Gruppen gewählt, die sowohl gemischt geschlechtlich als auch gleichgeschlechtlich, Gruppen aus Stadt, Dorf und Agglomeration gewählt und drittens wurden Gruppen mit unterschiedlichem Bildungsniveau gewählt (zwei Realschulgruppen, gemischte Gruppen und Gruppen mit vorwiegend Schülern und Schülerinnen der Sekundarstufe A (= gehobenes Niveau) plus Gymnasialschülerinnen und -schülern). Alle Gruppen im Sample sind sogenannte reale Gruppen, sie existieren als Konfirmationsgruppe bzw. Schulklasse auch im Alltag. Das heißt, die Jugendlichen kannten sich bereits, teilweise seit Jahren und teilen mehrere Erfahrungsräume. Insgesamt wurden sieben Gruppen plus eine Vergleichsgruppe in das Sample einbezogen. Alle Gruppen bekamen den Auferstehungstext aus dem Johannesevangelium (Joh 20,1-18) vorgelesen und mithilfe einer Einstiegsfrage begann die Gruppendiskussion. Die Gesprächsleitung hielt wenn nötig durch immanente Fragen das Gespräch im Gang, damit selbstläufige Diskussionen entstanden. Am Ende wurden jeder Gruppe noch exmanente Frage gestellt.

Die Gruppendiskussionen wurden mit der dokumentarischen Methode (→ Dokumentarische Methode) ausgewertet. Dadurch kann sowohl auf inhaltlicher Ebene Aussagen darüber gemacht werden, was die Jugendlichen deuten (immanente Sinnebene) als auch auf der dokumentarischen Sinnebene, wo der Deutungsprozess im Zentrum steht, also wie die Jugendlichen deuten.

3.2. Ergebnisse auf der immanenten Sinnebene

Auf der immanenten Sinnebene hat sich gezeigt, dass die Jugendlichen im Sample Auferstehung vielfältig deuten. Erstens, die dominanteste Deutung war, dass es Auferstehung nicht gibt. Die Jugendlichen finden viele Argumente, was geschehen sein könnte, um zu begründen, warum Jesus gar nicht wirklich tot war oder eben nicht auferstanden ist. Sie ziehen psychologische, medizinische und andere Gründe herbei. Insgesamt betrachten sie die Auferstehung dabei als ein historisches Datum, das für sie aber von der historischen Argumentation her mehr als fraglich ist. Sie fragen sich, ob es sie gegeben habe; und da sie als historisch „wahres“ Datum für sie nicht fassbar ist, kommen sie zu einer negativen Antwort. Die Auferstehung ist „unlogisch“. Das Hauptanliegen der Jugendlichen ist dann, plausibel zu machen, warum so ein Text geschrieben wurde, wenn es gar keine Auferstehung gab, damit die Existenz des Textes für sie eine gewisse Logik bekommt. Hier gehen sie nun teilweise höchst kreativ vor, sie ziehen verschiedene Deutungsmöglichkeiten heran, die eine Entstehung der Auferstehungsgeschichte erklären können (z.B. es wurde der Falsche gekreuzigt; Jesus war nur ohnmächtig; Jesus hatte ein Nahtoderlebnis; Maria habe nur erfunden, dass sie Jesus gesehen habe, weil sie so traurig war etc.). Hier könnten wir sagen, bewegen sich die Jugendlichen auf der Ebene der rationalistischen Bibelauslegung, natürlich in einem vorwissenschaftlichen Stadium, aber sie versuchen auf dieser Ebene Erklärungen für ein historisches Ereignis (die Geschichte wurde geschrieben) zu finden und damit historisch verständlich zu machen, warum etwas Unhistorisches erfunden wird.

Zweitens finden sich Deutungen, die auf christlich-theologische Inhalte zurückgreifen, um Auferstehung verständlich zu machen. Sie nehmen aber nur einen kleinen Raum in den Diskussionen ein und bleiben oft nicht mehr als kurze Einwürfe. Die Jugendlichen gehen davon aus, dass Jesus wirklich gestorben und auferstanden ist. Ebenso ist die Diskussion darüber, ob Jesus als Geist auferstanden ist, in den christlichen Kontext zu setzen. Die Jugendlichen reagieren auf eine Leerstelle im Johannestext und füllen sie mit ihren Deutungen. Auch in vielen Johanneskommentaren gibt es einen Abschnitt, der der Frage gewidmet ist, mit welchem Körper Jesus aufersteht. Der Johannestext ruft die Frage der Körperlichkeit der Auferstehung hervor. Die Leerstelle wird besonders durch das Berührungsverbot (Joh 20,17 Jesus sagt zu ihr: Fass mich nicht an!) hervorgerufen. In den Gruppendiskussionen zeigt sich niemand wirklich überzeugt von dieser Deutung als Geist, ähnlich wie die Exegetinnen und Exegeten es für eine zweifelhafte Deutung halten.

Es ist für die Jugendlichen auch kein Hindernis, mehrere Deutungen zu vertreten: einerseits davon auszugehen, dass es die Auferstehung nicht gab, sie dann aber andererseits doch symbolisch zu deuten. Dass die Jugendlichen primär an den Bibeltext als historischen Bericht herangehen, hat vermutlich damit zu tun, dass sie die Bibel als ein historisches Dokument verstehen und dann aus dem schulischen Unterricht erlernte Strategien zum Verstehen von historischen Texten anwenden. Wie auch schon in anderen Studien deutlich geworden ist, fällt Jugendlichen zudem die Unterscheidung zwischen historischem Geschehen und Glaubensdeutung in diesem Zusammenhang nach wie vor schwer (Kraft/Roose, 2011, 48). Hier liegt eine Aufgabe für den Religionsunterricht, mit den Jugendlichen ein Verständnis zu entwickeln, was die Bibel ist und inwiefern sie zwar als historisches Dokument, aber mit verschiedenen Textsorten etc. zu verstehen ist, und sie sowohl an die Text- auch als literarischen Glaubensdokumente heranzuführen.

Drittens versuchen die Jugendliche durch hybride Zusammenzüge mit Ideenwelten anderer religiöser Richtungen die Auferstehung Jesu zu deuten. Immer wieder gibt es Anklänge an Reinkarnationsvorstellungen östlicher Religionen.

Bei den Reinkarnationsvorstellungen wird zwar nur einmal explizit ausgesprochen, dass es eine nichtchristliche Vorstellung ist, ansonsten wird aber deutlich, dass die Jugendlichen hier eher an Karmavorstellungen und Wiedergeburt denken, wie es im hinduistischen Bereich üblich ist, weil in den Diskursen dann auch „Auferstehung“ als Stein, als Tier etc. besprochen wird. So richtig überzeugt sind die Jugendlichen im Sample von dieser Deutung nicht. Es macht aber sichtbar, dass Wiedergeburtsvorstellungen bei den Jugendlichen sehr bekannt sind und zumindest als Deutungsmöglichkeit überlegt werden und es für sie keinerlei Hindernis ist, dass es sich dabei nicht um eine christliche Vorstellung handelt. Das wird auch in anderen Untersuchungen so konstatiert: „Divergierende Vorstellungskonzepte werden patchworkartig zusammengestellt. So schließen sich bei vielen Jugendlichen beispielsweise Reinkarnationsgedanke und christlicher Gottesglaube nicht aus (Bescherer, 2010, 61)“ (Heger, 2015, 5). Mein Eindruck ist teilweise, dass ihnen die Vorstellungswelt von Wiedergeburt und Karma hilft, die Auferstehung, die für die Jugendlichen unverständlich ist, einzuordnen, weil ihnen ein anderes Interpretament fehlt, aber wirklich befriedigend ist die Deutung für sie nicht, weil sie vom Wissensstand doch meistens zumindest ahnen, dass die Wiedergeburt in einen anderen religiösen Kontext gehört.

Viertens verknüpfen die Jugendlichen die Auferstehung mit ihrer Lebenswelt bzw. mit Motiven aus Literatur, Film und Computer-/Medienwelt, die sie aus ihrer Lebenswelt kennen. Diese Deutungen sind für sie spürbar ein hilfreicher Zugang zur Auferstehungserzählung und vor allem einer, der ihnen Spaß macht. Die Mädchen wählen hier eher Motive aus der Literatur und dem Film, das entspricht auch ihrem Leseverhalten. Die Jungen machen vorrangig Verknüpfungen mit Film- und Computerwelt. Es ist nicht zu unterschätzen, dass die Jugendlichen „re-vive“ aus den Computerspielen gut kennen. Auch hier liegt eine wichtige Erkenntnis für den Religionsunterricht. Auch wenn es den christlichen Traditionen nicht entspricht, aber für die Jugendlichen liegt hier ein faszinierender Zugang zur Auferstehung. Warum also nicht Film- und Computerwelt einbeziehen, damit den Jugendlichen überhaupt der Zugang zur Auferstehung möglich wird? Insbesondere haben sie in diesem Orientierungsrahmen keine Mühe, die Fragen nach wahr-unwahr oder real-nichtreal einmal beiseite zu lassen – diese beantworten sie in einem anderen Orientierungsrahmen – und sich der Chancen und Faszinationen einer Auferstehung auszusetzen.

3.3. Wie deuten Jugendliche? (dokumentarischer Sinngehalt)

Die Deutungen der Jugendlichen sind auf der Ebene der lebensweltlichen Praxis zu verstehen. Es sind keine wissenschaftlichen Deutungen. Aber es sind Deutungen. Die Studie hat drei Haupttypen von Deutungsweisen Jugendlicher herausgearbeitet, die rationalisierende Deutung, die spielerisch-assoziative Deutung und die metaphorische Deutung. Die Jugendlichen deuten in ihren ersten Annäherungen an den Text bevorzugt rationalisierend. Hier zeigen sie ihre verstandesmäßige Brillanz. Diese Deutungsweise hat den Orientierungsrahmen „Logik“. Im Orientierungsrahmen Logik ist aber die Auferstehung „undenkbar“ und bedarf deshalb der Erklärung.

Die spielerisch-assoziative Deutung ist dann mit dem „Nicht-Erklärbaren“ verbunden, hier stehen vor allem Freude und Faszination im Vordergrund. Was den Jugendlichen noch nicht gelingt, ist beide Deutungsweisen in Spannung nebeneinander stehen zu lassen, als zwei mögliche Formen der Deutung. Die assoziativ-spielerischen Deutungen sind oft von einer sehr hohen Dichte im Diskurs geprägt. Besonders hier zeigen sich die Fähigkeiten der Jugendlichen zu Ko-Konstruktionen sehr eindrücklich, wie sie gemeinsam ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Fragen für die Deutung nutzen. Die metaphorische Deutung dagegen ist singulär. Sie ist hoch anspruchsvoll, den meisten Jugendlichen im Sample fehlt dazu das Bibelwissen und auch die Übung, denn es geht über eine lebensweltliche Deutungspraxis hinaus. Das ist von den Jugendlichen auf ihrem Bildungsstand nicht ohne weiteres zu erwarten.

Die Analysen zeigen, dass die Jugendlichen fähig sind, Bibeltexte zu deuten. Sie benutzen dazu wenig biblisch geprägte Sprache und so gut wie keine theologischen Begriffe, wie sich das auch in der Studie von Altmeyer gezeigt hatte und sich hier bestätigt (Altmeyer, 2011, 316).

Über die Konsequenzen ihrer Deutungen oder ihrer Rede von Gott können die Jugendlichen noch nicht begründet Auskunft geben bzw. sind sehr ungeübt darin. Darauf verweisen auch die Orientierungsdilemmata in den Diskursen, die entstehen, wenn der Orientierungsrahmen unklar ist. In welchem Orientierungsrahmen über die Bibel, über Gott, über Glauben verhandelt werden soll, ist für sie nicht klar und nicht entschieden. Ebenso können sie die Ambivalenzen zwischen den verschiedenen Orientierungsrahmen selten aushalten, entsprechend ihrem entwicklungspsychologischen Stand. Sie müssen entweder einen für den „richtigen“ erklären. Oder sie kommen zu keinem Abschluss in ihrem Diskurs, sondern brechen ab.

Ein Einfluss von religiöser Sozialisation oder der Zentralität der Religiosität auf die Deutungskompetenz ist kaum zu beobachten. Den größten Unterschied macht das Bibelwissen aus. Aber die Bereitschaft bzw. Ablehnung, über den Bibeltext zu sprechen, oder auch die Anwendung von Deutungsweisen ist vergleichbar. Das zeigt auch, Deutungskompetenz ist nicht von religiöser Sozialisation abhängig, sondern kann bezogen auf Bibeltexte mithilfe von Übung und Wissensinputs verbessert werden.

Die Jugendlichen empfinden die Bibel primär als fremd. Das zeigt die häufige Sphärentrennung in „früher“ und „heute“ in den Diskursen. Die Bibel gehört immer in die Sphäre „früher“. Sie erleben die Bibel und auch die theologische Sprache als „signifikante Anderssprache“ (Altmeyer, 2011, 318f.) und sind sich ihrer eigenen religiösen Sprachkompetenz tatsächlich oft nicht bewusst. Insbesondere im Bereich der assoziativ-spielerischen Deutungen sprechen sie sich die Deutungsfähigkeit bzw. auch die Legitimität ihrer Deutungen ab und wechseln deshalb wieder zu den rationalisierenden Deutungen.

Den Zugang zum Bibeltext finden die Jugendlichen aber gerade über das Faszinosum. Ihre Lesemotivation wird durch den assoziativ-spielerischen Zugang gefördert. Im Orientierungsrahmen Faszinosum finden sie dagegen ganz assoziativ-spielerische Deutungen, die besonders eindrücklich ihre Fähigkeiten zu Ko-Konstruktionen zeigen. Sie nutzen gemeinsam ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihre Fragen, um zu Deutungen zu gelangen. Assoziativ-spielerische Deutungen sind unerwartet und oft ein wenig ver-rückt, wodurch ganz neue Perspektiven eröffnet werden können und sich die Lesemotivation der Jugendlichen steigert. In den Diskursen bedurfte es immer wieder einer Art der Erlaubnis durch die Gruppe oder die Interviewerin, dass diese Deutungszugänge akzeptiert sind. Die assoziativ-spielerischen Deutungen können mit „wild theology“ bezeichnet werden, wie Thomas Schlag es kürzlich in Bezug auf digitale Kommunikationsformen Jugendlicher einführte (Schlag, 2019, 47).

Didaktisch können hier verschiedene Elemente sehr förderlich sein, diesen Zugang mit den Jugendlichen zu üben. Die Jugendlichen fanden es sehr reizvoll, die Bibel „neuzuschreiben“. Durch den Einsatz von Jugendbibeln mit Sprache, welche die Jugendlichen verständlich finden, überhaupt von verschiedenen Übersetzungen, kann mit ihnen der Vorgang der Interpretation bereits thematisiert werden. Eine Mangabibel (Manga Messias, 2016) könnte zum Beispiel die Lesemotivation fördern, da sie ihr Bedürfnis nach Wirklichkeitsflucht befriedigt und die Jesusgeschichte als faszinierendes Ereignis darstellt. Auf dieser Ebene kann dann auch das Thema „Fiktion oder Wirklichkeit“ begründet diskutiert werden. Zudem können die Jugendlichen abschließend zu eigenen kurzen Übersetzungen ermutigt werden (zu Jugendbibel und Jugendsprache siehe auch Naurath, 2020).

Sehr bedeutsam ist die kognitive und emotionale Fantasieempathie. Die Jugendlichen identifizieren sich mit Figuren aus dem Text. Das geschieht insbesondere über die emotionale Ebene (z.B. Marias Trauer). Diese Identifikationsmöglichkeiten sollten bewusst genutzt werden, wenn mit den Jugendlichen an Bibeltexten gearbeitet wird. Die emotionale Ebene kann bewusst durch Interventionen und Arbeitsaufträge eingebracht werden.

Eine weitere große Chance für den Zugang zum Bibeltext liegt bei den Analogien zwischen dem Erfahrungswissen der Jugendlichen und dem Text. Jugendliche ziehen Analogien herbei und sind dabei sehr kreativ. Aufgabe einer Lehrperson kann hier einerseits sein, Analogien anzubieten, aber gerade auch ausgehend von den Analogien, die die Jugendlichen selbst bieten, Rückbindungen an den Bibeltext anzuregen. Diese Rückbindung vollziehen die Jugendlichen in den Diskursen nicht von allein und brauchen Hilfestellung. Warum also nicht einmal mit Zombieinvasion oder Geisterfotos in das Thema Auferstehung (zwei von Jugendlichen eingebrachte Analogien) einsteigen?

All diese Elemente einer Theologie mit Jugendlichen zeigen: Es bedarf Wissen und Übung für das Theologisieren. Denn Jugendliche haben wenig inhaltliches Wissen über die Bibel. Ein wichtiges Lernthema ist die Frage: Was ist die Bibel? Zu diskutieren, dass sie nicht nur ein historischer Sachtext ist und dass sie sowohl als historisches Dokument als auch als Glaubenstext, genauso aber auch als fiktionaler Text behandelt werden kann, kann den Jugendlichen helfen, bewusst zwischen verschiedenen Orientierungsrahmen im Umgang mit der Bibel zu wählen. Der Stand der religious literacy der Jugendlichen kann wie folgt wiedergegeben werden: Die Jugendlichen sind in der Lage, ihre Meinungen authentisch zu äußern, sind aber ungeübt im Reflektieren dieser Meinungen. Erst die Übung und das bewusste Wahrnehmen verschiedener möglicher Perspektiven auf Glauben, auf Bibel, auf die Auferstehung entwickeln die Jugendlichen Kompetenzen im Umgang mit der Komplexität dieser Themen. Hier liegt meines Erachtens ein normatives Ziel für das Theologisieren mit Jugendlichen: Es soll darum gehen, mit ihnen zu üben, Synthesen anzubahnen, den Umgang mit Multiperspektivität, der Vielfalt von möglichen Deutungsweisen und von Ambivalenzen im Bereich von Bibel und Glauben zu lernen. Das sind generell Entwicklungsthemen dieses Alters, denn es ist für Jugendliche in diesem Alter noch nicht so einfach, mit Ambivalenzen etc. umzugehen. Synthesen gelingen Jugendlichen erst mit 17-18 Jahren wirklich gut. Die Bibel als Musterbeispiel für Ambivalenzen ist hier also ein gutes Übungsfeld, mit den Jugendlichen zu lernen, dass das Leben eben nicht widerspruchsfrei ist und nicht jede Ambivalenz aufgelöst werden kann.

Weitere wichtige Erkenntnisse der qualitativen Studie zur Bibelrezeption Jugendlicher sind, dass Zugänge zum Bibeltext häufig nicht aus Desinteresse misslingen, sondern mit fehlendem Wissen, mit Frustration durch Überforderung, oder mit dem entwicklungspsychologischen Stand zu tun haben, in dem es noch schwierig ist, in einem Diskurs zu Konklusionen zu finden – insbesondere in ambivalenten Situationen – am häufigsten aber mit Schwierigkeiten im Setting, zu tun haben (schwierige gruppendynamische Prozesse, Ungleichheiten, etc.). Die Jugendlichen sind fähig, Bibeltexte zu deuten, aber benutzen da wenig biblisch geprägte Sprache und fast ausnahmslos keine theologischen Begrifflichkeiten. Zudem ist ein Einfluss von religiöser Sozialisation oder der Zentralität der Religiosität auf die Deutungskompetenzen in diesem Sample nicht beobachtet worden. Das vorhandene Bibelwissen macht den größten Unterschied aus, aber ein Unterschied in der Bereitschaft bzw. Ablehnung, sich auf den Text einzulassen, ist nicht von den genannten Faktoren abhängig. Zuletzt haben die Ergebnisse der Analysen zu Machtkommunikation, Genderverhältnissen und Gruppendynamik in den Gruppen den Blick dafür geschärft, was ganz unabhängig von Methoden zum Bibeldeuten für das Theologisieren von großer Bedeutung ist. Theologisieren soll deshalb nicht nur als ein theologisches Gespräch Jugendlicher, sondern als die Eröffnung eines Ermöglichungsraumes verstanden werden – wobei die Verantwortung hier bei den Bildungsakteurinnen und -akteuren liegt, den Ermöglichungsraum zu entfalten, dass er für alle beteiligten Jugendlichen ein Erfahrungsraum werden kann, in dem sie ihre religiöse Sprachfähigkeit üben können und ein Bildungsprozess hin zu Sprach-, Deutungs- und Diskursfähigkeit in Gang gesetzt werden kann. Dafür bedarf es auf Seiten der Bildungsakteurinnen und -akteuren Bildungsgerechtigkeit, Kontext- und Gendersensibilität und durch intersektionale Verschränkungen eines Machtabbaus. Dann kann ein Ermöglichungsraum entstehen, in dem Jugendliche Entwicklungsmöglichkeiten haben und befähigt werden, eigene Deutungen zu entwickeln.

3.4. Verlaufsstudie von Christian Dern

Nur kurz kann hier auf die ausführliche Studie von Christian Dern (2013, im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben auf dieses Werk) eingegangen werden. Sie hat wiederum ein gänzlich anderes Setting und eine andere Forschungsmethodik. Das macht eine Vergleichbarkeit immer schwierig. Aber interessant ist insbesondere, dass Dern durch die Beobachtung über ein ganzes Schuljahr hinweg zeigen kann, dass Schülerinnen und Schüler sich durch das konstante Rezipieren ganzer biblischer Bücher in die semantische Tradition der Bibel einüben können und so zu einem eigenständigen und kritischen Zugang zum Text finden (198).

Dern hat mit Schülerinnen und Schülern der 11. Klasse über ein Jahr vier verschiedene biblische Bücher in ganzer Länge gelesen, dazu Inputs und weitere Aufgabenstellungen gegeben, insbesondere aber Raum für die hermeneutischen Fragen der Schülerinnen und Schüler. Durch Gruppeninterviews, Fragebogen und weitere Formen der Rückmeldungen kann er aufzeigen, dass durch das Jahr hindurch ein Zuwachs an hermeneutischer Deutungskompetenz zu beobachten ist, ebenso eine Progression in der Dialogfähigkeit und in der biblischen Sprachfähigkeit (109-111). Er schlussfolgert daraus für das Curriculum des schulischen Religionsunterrichts, dass nicht das Anhäufen von Kenntnissen, sondern Lernprozesse im Mittelpunkt stehen sollten und dass die Lehrpersonen den Bibeltexten zutrauen dürfen, dass sie die Schülerinnen und Schüler in Grundfragen ansprechen und zum Gespräch auffordern und ebenso den Schülerinnen und Schülern zuzutrauen, dass sie in der Lage sind, selbständig ihre Fragen und Themen zur Sprache zu bringen (202). Damit zeigt Dern, was die anderen beiden hier vorgestellten Studien in ihren Ergebnissen fordern, dass die religiöse Sprachfähigkeit durch die Rezeption von Bibeltexten gefördert werden kann. Damit kommen wir zu Konvergenzen und Divergenzen der verschiedenen Ansätze zur Bibelrezeption.

4. Praktische Implikationen der Erkenntnisse

Für konkrete bibeldidaktische Arbeit ergeben alle drei Studien zur Bibelrezeption Jugendlicher (Gennerich/Zimmermann, 2020; Boeck, 2020 [in Bearbeitung]; Dern, 2013), dass gelten muss, den Jugendlichen einen Zugang zur Komplexität und Vieldeutigkeit der Bibel zu geben und sie zu befähigen, ihre eigenen Leseerfahrungen zu reflektieren. Durch die häufig fehlende religiöse Sozialisation kennen die Kinder und Jugendlichen die Bibel und ihre Geschichten nicht. Weder schulischer noch kirchlicher Unterricht kann die religiöse Sozialisation ersetzen, aber zumindest kann ein Grundverständnis für Bibel und Religion geweckt werden. Insofern gilt es, die Bibel so früh wie möglich mit Kindern und Jugendlichen zu entdecken, und dies selbstverständlich mit altersangepassten Methoden. Auch die Jugendlichen sollen die Bibel als ein Buch voller faszinierender, aber eben fremder Geschichten kennenlernen können.

Bereits erwähnt ist die Erkenntnis von Gennerich/Zimmermann, dass die progressiven Interpretationen eingeübt werden müssen, damit die Schülerinnen und Schüler diese eben nicht nur behaupten, sondern auch argumentativ begründen können (Gennerich/Zimmermann, 2020, 155). Ihre Forderung des Einübens dieser Argumentation schliesst an der Forderung von Martina Kumlehn an, dass theologische Bildung Sprachbildung sein muss (Kumlehn, 2017, 69). Werden die Jugendlichen nicht gefördert, eine Sprache zu entwickeln, mit der sie sich über die Bibeltexte und ihre religiösen Fragen austauschen können, bleiben sie stumm.

Konkret ist es wichtig, die Lesemotivation für Bibeltexte zu fördern. Aus den Erkenntnissen der reading literacy wissen wir, dass die Lesemotivation gefördert wird, wenn das Bedürfnis der Jugendlichen nach Realitätsflucht durch Texte erfüllt wird (Henschel/Roick, 2013). Auch in den Gruppendiskussionen ist eine Sehnsucht der Jugendlichen nach dem Faszinosum zu erkennen, das ihnen den Einstieg in eine Welt mit anderen Regeln, in denen Wunder existieren, möglich macht. Dass die Bibel dies bieten kann, ist den Jugendlichen in der Regel nicht bewusst, weil sie die biblische Sprache nicht verstehen und weil sie diese teilweise ausschließlich als Dokument historischer Berichte lesen. Hier ein Bewusstsein mit den Jugendlichen zu entwickeln, wie die biblischen Texte verstanden werden können, und ihnen den Zugang zu dieser anderen Welt, in denen mehr möglich ist, als wir sehen, zu bieten, könnte das Lesen der Bibeltexte spannender machen – mit der Bibel also einzutauchen in eine alternative Welt. Entsprechend zur Welt von Fantasyromanen oder Computerspielen, könnten sie z.B. das Reich Gottes als Alternativwelt der Superlative entwerfen.

Ein zweiter ganz wichtiger Punkt ist der Zugang zum Text über die Emotionen. So wie Meyer-Blanck es fordert, muss der Zugang über die emotionale Ebene erfolgen (Meyer-Blanck, 2018, 24f.). Es drängt sich also auf, Methoden für die Bibelarbeit zu wählen, die die emotionale Fantasieempathie fördern: d.h., es geht u.a. darum, dass sich die Jugendlichen in die Identifikationsfiguren hineinfühlen, dass Aufgaben zur Lesebeobachtung gestellt werden, die auf Emotionen abzielen, dass durch Ansätze der performativen Didaktik, Bibeltexte und die ihnen eigenen existenziellen Erfahrungen fühlbar gemacht werden und dass sich Jugendliche durch einen Bibliog in die Geschichte und Handlungen einfühlen können. Über die Emotionen finden die Jugendlichen einen Zugang zum Text, und es fördert zudem wiederum ihre Lesemotivation. Naurath schreibt: „Gerade dem Gefühl von Fremdheit biblischer Texte begegnet diese Methode [Bibliolog] konstruktiv, weil jeder und jede ohne Vorbedingungen und – was für Jugendliche besonders wichtig ist – ohne sich zu sehr zeigen bzw. ‚outen’ zu müssen, in die Textbegegnung einsteigen kann“ (Naurath, 2020, 240).

Zudem zeigt sich, dass Lesemotivation gesteigert wird, wenn die Jugendlichen ihre Lektüre selbst wählen können. Nun werden sie die Bibel vermutlich höchst selten freiwillig wählen. Aber warum nicht zu einem Themenbereich verschiedene Bibeltext zur Auswahl stellen und sie wählen lassen, an welchem sie vertieft arbeiten wollen? Um es beispielhaft deutlich zu machen: Es hängen vier Bibeltexte zum Thema im Raum und die Jugendlichen dürfen sich zu dem Text positionieren, der ihnen am besten gefällt, und diskutieren dann in den entstandenen Gruppen, warum ihnen dieser Text besonders gefällt, und teilen das den anderen Gruppen mit. Dann diskutiert die Klasse miteinander, mit welchem Text sie sich ausführlicher beschäftigen will. Durch einen solchen Prozess sind die Schülerinnen und Schüler stärker in die Textauswahl eingebunden und dann hoffentlich auch motivierter dazu, sich mit dem Text zu beschäftigen. Ebenso kann abgefragt werden, welche Bücher, Filme, Computerspiele gerade angesagt sind, sich erzählen lassen, was sie beinhalten und dann überlegen, ob es einen Bibeltext gibt, der entweder ähnliche Themen anspricht oder gerade durch seine Fremdheit die Themen der Jugendlichen hinterfragt.

Nicht zuletzt ist auch zu bedenken, dass in den Konfirmationsgruppen immer Jugendliche sein werden, die mit dem Lesen und Erfassen literarischer Texte Mühe haben. Warum also nicht andere Methoden als Lesen anwenden, um einen Text in eine Gruppe einzuführen? Vorlesen, erzählen, nacherzählen, neu erzählen – Optionen gibt es viele. Meine persönliche Erfahrung als Lehrperson ist, dass selbst 15-jährige Konfirmandinnen und Konfirmanden gerne einmal eine biblische Geschichte erzählt bekommen.

Literaturverzeichnis

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Abbildungsverzeichnis

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  • Wertehaltungen, die der Zachäusgeschichte zugeschrieben werden. © Gennerich, Carsten/Zimmermann, Mirjam, Bibelwissen und Bibelverständnis. Grundlegende Befunde, theoriegeleitete Analysen, bibeldidaktische Konsequenzen, Stuttgart 2020, 135.

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