Religionsunterricht in der Schweiz
(erstellt: Februar 2019)
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Digital Object Identifier: https://doi.org/10.23768/wirelex.Religionsunterricht_in_der_Schweiz.200639
1. „Mehrgleisigkeit“ als konstitutives Merkmal
Das herausragendste Kennzeichen der religionsbezogenen Bildung (→ Bildung, religiöse
1.1. Historische Entwicklungslinien
Zur ersten Orientierung lassen sich einige grobe Schneisen in die komplexe Gemengelage schlagen. Mit Monika Jakobs kann man zunächst einmal die traditionelle „Zweigleisigkeit“ des Schweizer Religionsunterrichts feststellen (z.B. Jakobs, 2007): So entwickelte sich – im Sinne des ersten Gleises – seit dem 19. Jahrhundert an den Volksschulen ein staatlich verantwortetes Schulfach unter den Namen Bibel- und Lebenskunde oder Biblische Geschichte, das eine Einführung in die christlich-biblische Tradition beinhaltete.
Parallel dazu hatten die öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen in den meisten Kantonen die Möglichkeit, im Rahmen der Volksschule einen konfessionellen Religionsunterricht für ihre Konfessionsangehörigen anzubieten. Dieser kirchliche Religionsunterricht hatte nicht den Status eines ordentlichen Schulfaches und wurde (bis heute) von der jeweiligen Kirche finanziell und personell getragen und verantwortet. In der jüngeren Vergangenheit etablierten sich zusätzlich außerschulische Modelle für die Sakramentenkatechese und den Konfirmations- bzw. Firmunterricht (→ Konfirmandenunterricht/Konfirmandenarbeit
1.2. Gegenwärtige Entwicklungslinien
Die gegenwärtige Entwicklung ist durch eine Separierung und Profilierung der zwei schulischen Gleise und zusätzlich der zwei Lernorte Schule und Kirche gekennzeichnet: Mit dem neu eingeführten überkantonalen Lehrplan 21 kommt es im staatlich verantworteten Gleis zur Öffnung religions- und ethikbezogener Lernfelder über das Christentum hinaus auf andere Religionen und säkulare Perspektiven sowie zu einer Konsolidierung als nicht bekenntnisgebundenes, obligatorisches Schulfach. Da die Relevanz des kirchlich verantworteten Religionsunterrichts mancherorts in Frage gestellt wird, erweist sich eine stärkere Profilierung des von den Religionsgemeinschaften verantworteten Bildungsangebots in Schule und Gemeinde als notwendig. Wenn es gelingt, die Kooperation zwischen den beteiligten Konfessionen und Lernorten auf dieser Grundlage zu stärken (z.B. Jakobs, 2016; Cebulj/Schlag, 2014; Schlag, 2013), dann bietet das Schweizer Modell in seiner profilierten Mehrgleisigkeit interessante Impulse für den europäischen Vergleichskontext.
2. Religionsunterricht als bekenntnisunabhängiges Schulfach an Volksschule und Gymnasium
2.1. Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG) im Lehrplan 21
Mit Hilfe des 2014 für die 21 Deutschschweizer Kantone freigegebenen (und derzeit in der Implementierung befindlichen) Lehrplans 21 soll dem grundsätzlich kantonal bzw. kommunal organisierten Bildungswesen der Schweiz eine kantonsübergreifende Struktur gegeben werden (www.lehrplan.ch
Angesichts religiöser Pluralisierung und aufgrund der schweizerischen Interpretation der Religionsfreiheit für die öffentliche Schule (Art. 15 der Schweizer Bundesverfassung) wird dieser obligatorische Fachbereich für alle Schülerinnen und Schüler bekenntnisunabhängig etabliert (zur rechtlichen Situation des RU in der Schweiz Süess/Pahud de Montanges, 2015). Bekenntnisunabhängig bedeutet, dass ein religiöses Bekenntnis im Unterricht weder vorausgesetzt noch angestrebt wird. Der Fachbereich ERG stellt nun in der obligatorischen elf-jährigen Schulzeit (inclusive einer zweijährigen Kindergartenzeit) eine konstitutive Perspektive des Sachunterrichts dar. Der Sachunterricht wird als Verbundfach Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) benannt und umfasst neben ERG noch die Bereiche Natur und Technik, Wirtschaft, Arbeit, Haushalt und Räume, Zeiten, Gesellschaften. Während der zweijährigen Kindergarten- und sechsjährigen Primarschulzeit werden die einzelnen Fachperspektiven von NMG allerdings in der Regel nicht in der Stundentafel ausgewiesen. Erst auf der Sekundarstufe der Volksschule, also in den Klassenstufen 7 bis 9, werden die Fachbereiche als separate Einheiten sichtbar und erhalten ein eigenes Stundenkontingent, wobei dem Bereich ERG in manchen Kantonen die sogenannte Klassenstunde und die Berufliche Orientierung zugeschlagen wird.
2.2. Éthique et cultures religieuses (ECR) im Plan d’Études Romand
Auch in der französischsprachigen Schweiz ist ein übergreifender Lehrplan unter der Bezeichnung PER (Plan d’Etudes Romand) mittlerweile etabliert (www.plandetudes.ch
Die Verantwortlichen grenzen das Fach explizit von jedweder Form der Glaubensvermittlung ab, stattdessen steht ein historisch-kulturwissenschaftlicher Fokus auf die großen religiösen und humanistischen Traditionen im Vordergrund, der allerdings auch eine Auseinandersetzung mit existentiellen und ethischen Fragen vorsieht (www.plandetudes.ch/web/guest/SHS_15/
2.3. Das Fach „Religionslehre“ an den Gymnasien
Die gesamtschweizerische Maturitäts-Anerkennungsverordnung (MAV 1995) nennt Religionslehre als eines von 14 möglichen Wahlpflichtfächern. Das Fach Religionslehre wird ebenfalls bekenntnisunabhängig definiert. Die einzelnen Gymnasien können frei festlegen, welche Wahlpflichtfächer sie ihren Absolventinnen und Absolventen anbieten wollen und mit welchen Unterrichtsprogrammen sie auf die entsprechende Maturitätsprüfung vorbereiten. Das führt zu einer äußerst heterogenen Praxis (Kessler, 2016a; Kessler, 2016b).
3. Von Religionsgemeinschaften verantworteter Unterricht
Parallel zu dieser Konsolidierung des bekenntnisunabhängigen Pflichtfaches in der Schule kommt es auf Seiten der evangelischen und römisch-katholischen Landeskirchen ebenfalls zu konzeptionellen Neuorientierungen im Blick auf kirchlich verantwortete religiöse Bildung – und zwar für den Lernort Schule wie auch den Lernort Kirche. Dabei zeichnen die Kirchen für die Ausbildung, Anstellung und Besoldung des Lehrpersonals verantwortlich. Der Unterricht wird von Pfarrpersonen, hauptamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern, nebenamtlichen Katechetinnen und Katecheten oder ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern erteilt. Einen spezialisierten universitären Studiengang bietet das Religionspädagogische Institut der Universität Luzern an.
3.1. Kirchlicher Unterricht am Lernort Gemeinde: die reformierten Beispiele Bern und Zürich
Im Kanton Bern haben die Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn bereits in den 90er-Jahren mit der Etablierung eines Bildungsprogramms begonnen, das unter dem Namen Kirchliche Unterweisung (KUW) in der Regel die Klassenstufen 1 bis 9 umspannt und mit der Konfirmation endet (Burri, 2004). Die Zürcher Landeskirche integriert in ihr Religionspädagogisches Gesamtkonzept (rpg) nicht nur einen verbindlichen kirchlichen Unterricht von Klassenstufe 2 bis 9, sondern bezieht auch Angebote anderer Lebensphasen sowie anderer Arbeitsbereiche mit ein (www.zhref.ch/intern/religionspaedagogik
Diese deutliche Trennung der Lernorte Schule und Gemeinde wird von vielen anderen Kantonen nicht vollzogen: Sie sehen den kirchlich verantworteten Religionsunterricht weiter als Möglichkeit neben dem bekenntnisunabhängigen Pflichtfach ERG in der Schule vor.
3.2. Katholischer Religionsunterricht in Schule und Pfarrei
Unter dem Namen Konfessioneller Religionsunterricht und Katechese. Lehrplan für die Katholische Kirche in der Deutschschweiz haben die für die Deutschschweiz zuständigen Bischöfe in Absprache mit den staatskirchenrechtlichen Gremien die religiöse Bildung neu geregelt (Netzwerk Katechese, 2017; www.reli.ch/leruka
3.3. Andere Modelle von kirchlich (mit)verantwortetem Unterricht am Lernort Schule
Einen beachtenswerten Sonderfall stellt das Modell im Kanton St. Gallen dar: Hier bieten das römisch-katholische Bistum und die evangelisch-reformierte Kirche in Kooperation mit dem Kanton das bekenntnisunabhängige Fach ERG unter der Bezeichnung ERG Kirchen an. Die Schülerinnen und Schüler können also wählen, ob sie das Pflichtfach ERG in der Trägerschaft der Kirchen oder des Staates (dann unter dem Namen ERG Schule) besuchen wollen. Daneben gibt es weiterhin einen ökumenisch verantworteten kirchlichen Unterricht an der Schule (Lehrplan ERG Kirchen unter https://www.erg-ru.ch/home.html
In den Kantonen der Nordwestschweiz (Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn, zum Teil Aargau) wird der kirchliche Religionsunterricht in der Schule weitgehend ökumenisch gestaltet. Zusätzlich zu den beiden Großkirchen trägt die Christkatholische Kirche als dritte Landeskirche diesen ökumenischen Unterricht mit. In den anderen Regionen der Schweiz gestalten die Christkatholiken als Minderheitskirche ihren Unterricht außerschulisch.
3.4. Religionsunterricht anderer Religionsgemeinschaften
In Basel-Stadt wird auch die jüdische Gemeinde in den ökumenischen Unterricht miteinbezogen. Sie ist hier, wie in manchen anderen Kantonen, öffentlich-rechtlich anerkannt und den Kirchen gleichgestellt. Die meisten jüdischen Gemeinden gestalten ihren Religionsunterricht jedoch außerschulisch in den eigenen Räumen. Die öffentlich-rechtliche Anerkennung einer Religionsgemeinschaft gilt meist als Voraussetzung, um innerhalb der Schule Religionsunterricht anbieten zu können. Trotzdem gibt es in Luzern und im Thurgau erste Projekte eines muslimischen Unterrichts an der Schule. Fragen der Finanzierung und der Ausbildung der Lehrpersonen sind jedoch noch nicht befriedigend gelöst.
4. Didaktische Besonderheiten: ERG als Teil des Sachunterrichts
Das didaktische Proprium des Fachbereichs ERG ist – auch im europäischen Vergleich – seine Einbettung in den Sachunterricht beziehungsweise in das Verbundfach Natur-Mensch-Gemeinschaft (NMG). Diese Abkehr vom Einzelfachunterricht erfordert ein neues Fachverständnis (für einen breiten Überblick in der Diskussion Bietenhard/Helbling/Schmid, 2015). Grundsätzlich bestimmt sich die Relevanz des Faches nun von den lebensweltlichen (→ Lebenswelt
Durch die Integration in den sachunterrichtlichen Perspektivenkanon kann der religionsbezogene Fachbereich also eine spezifische Relevanz gewinnen, weil er zum Aufbau notwendiger Komplexität angesichts lebensweltlicher Frage- und Problemstellungen beiträgt. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die angestrebte Interdisziplinarität wirklich ernst genommen wird: Die Notwendigkeit der einzelnen Fachbereiche zur Ausbildung dieses komplexen Wissens muss von allen anderen Perspektiven eingesehen und mitgetragen werden. Das bedeutet, dass für diese Art der Kooperation didaktische Konzepte benötigt werden, die nicht auf ein thematisches Nebeneinander ausgerichtet sind, sondern die Notwendigkeit und Spezifizität der einzelnen Fachbereiche sichtbar machen. Im Gesamt geht es daher auch nicht um Vermischung der Perspektiven, sondern um die Integration der verschiedenen Dimensionen zu einem komplexen Ganzen, was eine entsprechend ausgerichtete Didaktik für den ganzen Bereich NMG notwendig macht (z.B. Trevisan/Helbling, 2018; Trevisan/Schmid, 2015; Schmid, 2011).
Im Vergleich mit stärker fachwissenschaftlich orientierten Zugängen erhält ERG einen deutlich pädagogischen Zuschnitt und ist selbstverständlicher Teil eines grundsätzlich interdisziplinär angelegten fachdidaktischen Diskurses, der Gelegenheit für verschiedenste Vernetzungen bietet. Diese positiven Auswirkungen auf den Fachbereich sind allerdings abhängig davon, dass die dargestellten hohen Ansprüche an fachdidaktische Konzeptualisierung und interdisziplinäre Zusammenarbeit auch realisiert werden. Gelingt dies nicht, werden Marginalisierung, Trivialisierung und damit ein schleichendes Unsichtbarwerden des Fachbereichs befürchtet (Schmid, 2013, 187).
Mit der Integration in den Sachunterricht ergibt sich auch eine neue Konstellation im Blick auf die relevanten Bezugswissenschaften des Faches: Neben den konfessionell grundierten Theologien kommen hier → Religionswissenschaft
Aus der skizzierten didaktischen Neuorientierung resultiert schließlich auch die Kennzeichnung des bekenntnisunabhängigen ERG-Unterrichts als religionskundlich. Durch die gleichzeitige Forderung nach lebensweltlicher Nähe und pädagogischer Fundierung ist jedoch deutlich, dass es hier nicht allein um eine distanzierte Darbietung von Wissen über Religionen gehen kann – so wie es ein pauschalisierter Begriff von Religionskunde unterstellen könnte. Wie dieser religionskundliche Zugang ausgestaltet werden kann, wird mit unterschiedlichen Modellen erprobt und ist zurzeit Gegenstand der fachdidaktischen Diskussion (Bietenhard/Helbling/Schmid, 2015; Helbling/Jakobs/Leimgruber, 2013).
Literaturverzeichnis
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