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Maria (Mutter Jesu), bibeldidaktisch (Primar- und Sekundarstufe)

(erstellt: Februar 2019)

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1. What's about Mary? – Bedeutung des Themas für Schüler/-innen der Primar- und Sekundarstufe (Mirjam Schambeck sf)

Maria, die Mutter Jesu, spielt in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen normalerweise keine Rolle. Wenn, dann lernen sie Schülerinnen und Schüler über Krippendarstellungen, in Kirchen und Museen oder im Religionsunterricht kennen. Maria gehört damit zu den Themen, die explizit eingeführt und erörtert werden müssen, wenn sie relevant werden wollen, weil sie implizit in Schülerinnen- und Schülerfragen und -deutungen nicht vorkommen. Schon von daher stellt sich die Frage, ob es überhaupt lohnt, Maria zum Thema religiösen Lernens zu machen, und was an ihr und über sie gelernt werden kann.

Hier sind zum einen kulturhermeneutische Gründe zu nennen. Bilder der Kunstgeschichte, Kirchenausstattungen und, wie gesagt, Krippen, die nicht nur in sakralen Räumen, sondern auch in säkularen Wohnzimmern zur Weihnachtszeit zu finden sind, sind ohne ein Wissen über Maria nicht zu verstehen. Maria als Mutter Jesu identifizieren zu können, gehört somit zur Allgemeinbildung. Damit werden bildungstheoretische Gründe laut. Wenn Allgemeinbildung nach Jürgen Baumert unterschiedliche Rationalitäten umfasst, und der theologische Weltzugang als Ausdruck der konstitutiven Rationalität gelesen werden kann, dann ist die Auseinandersetzung mit Maria und ihrer Bedeutung für eine christliche Gottrede zumindest ein Weg, den christlichen Deutehorizont näher kennenzulernen. Dies zeigt, dass sich bildungstheoretische Gründe, die für die Beschäftigung mit Maria sprechen, letztlich aus theologischen speisen. Wie im folgenden Artikel genauer dargelegt werden wird, sind diese vielfältig. Sie reichen von christologischen Motiven, die verdeutlichen, dass Maria personaler „Beweis“ ist, Jesu wahres Menschsein zu bezeugen, bis hin zu anthropologischen; denn an den Aussagen über Maria wird letztlich ablesbar, zu welchem Glück und Ziel der Mensch von Gott gedacht ist.

Der folgende Beitrag erörtert deshalb zunächst die biblischen Zeugnisse über Maria (1) und erläutert, was sich daraus an Lernmöglichkeiten ergibt (2), um dann kirchliche Traditionen evangelischer und katholischer Provenienz zu beleuchten (3). Unterrichtspraktische Ideen, die theologischen Deutungen über Maria zum Lerngegenstand zu machen, schließen den Beitrag ab (4). Exkurse zu den Apokryphen und der Rolle, die Maria im Koran zugedacht wird, erweitern das Blickfeld um Maria.

2. Exegetisches und Lernmöglichkeiten für heute (Mirjam Schambeck sf)

Das Neue Testament entfaltet keine systematische Mariologie. Die unterschiedlichen Stellen, an denen Maria, die Mutter Jesu, erwähnt wird, wirken vielmehr zufällig und sind über die Briefliteratur und die Evangelien verstreut. Cum grano salis lassen sich zu Maria vier Motivkreise in den neutestamentlichen Schriften ausweisen: 1. Maria als Mutter Jesu, um das Menschsein Jesu zu unterstreichen, 2. Maria als Typos der wahren Jüngerinnen und Jünger Jesu, 3. Maria, die prophetische und solidarische Frau, 4. Maria und die Urgemeinde. Im Folgenden werden diese Motive erläutert und auf mögliche Anknüpfungspunkte für heutige biblische Lernprozesse befragt.

2.1. Maria als Mutter Jesu – Aussagen über das (wahre) Menschsein Jesu

Der älteste neutestamentliche Beleg, der etwas über Maria aussagt, findet sich im Galaterbrief, in Gal 4,4f. Dieses zu den sogenannten authentischen Paulusbriefen zählende Werk wurde vermutlich im Jahr 55/56 n. Chr. gegen Ende des Ephesusaufenthalts oder während der Makedonienreise des Paulus abgefasst (Theobald, 2013, 365). Paulus wählt die dem semitischen Sprachgebrauch nachempfundene Wendung „geboren von einer Frau“, um über die Aussage der Geburt das wahre Menschsein Jesu zu unterstreichen. Dass Jesus als Gottessohn zugleich normaler Mensch ist, dass er nicht im gnostischen Sinn vereinnahmt und als weltloser Geist abgetan werden kann, verdeutlichen die neutestamentlichen Schriften immer wieder. Sie tun dies sowohl durch den Hinweis auf seine Geburt, und damit seine Familie, mittels der Notizen, dass alle wissen, woher er kam und wohin er gehört (Mt 13,55f.), als auch durch den Verweis auf Jesu menschliche Bedürfnisse wie Essen und Trinken (Mt 11,19; Lk 24,37-43).

Markus als das älteste Evangelium verzichtet auf eine Ausgestaltung der Geburtserzählung und Kindheitsgeschichte Jesu. Er setzt vielmehr selbstverständlich voraus, dass Jesus Schwestern und Brüder hatte und in einer Familie aufgewachsen ist (Mk 3,20f.; Mk 3,31-35; Mk 6,1-6a). Diese waren von Jesus mindestens irritiert. Als sie erfuhren, wie Jesus nach den ersten Wunderheilungen von den Menschen aufgesucht worden ist, wollten sie ihn „mit Gewalt“ zurückholen, weil sie ihn für „meschugge“ hielten – so die Rückübersetzung ins Aramäische/Hebräische (Mk 3,20f.). Auch Maria wird wenig später unter den besorgten Verwandten erwähnt (Mk 3,31-35). Der Kontrast, den Jesus zwischen seiner Familie aufrichtet und denen, die den Willen Gottes tun, mag auf den ersten Blick irritieren. Bei genauerem Zusehen wird aber deutlich, dass dieses Wort nicht gegen Jesu Mutter und Brüder qua se gesprochen ist. Jesus sprengt vielmehr die in der paganen und semitischen Antike üblichen Bande des Clans und verweist die Gottesgeschwisterschaft auf eine Verbundenheit, die nicht an die Familie und den sozialen Nahverband gebunden bleibt. Alle werden einander vielmehr zu Müttern und Geschwistern, die den Willen Gottes tun. Damit universalisiert Jesus die Zugehörigkeit zu Gott und die Verbindung untereinander.

Auch die Erwähnung der Schwestern und Brüder Jesu verdeutlicht die „Normalität“ und Menschheit Jesu. Er ist aufgewachsen wie jeder andere Mensch auch (Mk 6,1-6a). Während die Brüder sogar namentlich bekannt sind als Jakobus, Joses, Judas und Simon (par. Mt 13,54-56, mit dem Unterschied, dass anstelle von Joses, Josef steht), werden die Schwestern Jesu nur erwähnt. In der katholischen Tradition sind die Schwestern und Brüder Jesu bis Mitte der 1970er Jahre als seine verwandten Cousinen und Cousins ausgelegt worden. Hintergrund war ein Verständnis der Jungfrauengeburt in einem engen physisch-biologischen Sinn, das mit Ambrosius, Hieronymus und Augustinus ante partum, in partu et post partum definiert worden war (vor, während und nach der Geburt) (Beinert/Petri, 1984, 111f.;269). Erst die Dissertationsschrift von Lorenz Oberlinner konnte einleuchtend zeigen, „daß [sich] für die … ersten christlichen Gemeinden das Bewußtsein der Vollmenschlichkeit Jesu auch in der Existenz leiblicher Geschwister … manifestierte …“ (Oberlinner, 1975, 338).

Die frühen Schriften des Neuen Testaments waren damit nicht so sehr an Einzelpersönlichkeiten aus dem familialen Umfeld Jesu interessiert. Sie spielten vielmehr nur über ihre Beziehung zu Jesus eine Rolle und waren der beste Beweis für das Menschsein Jesu.

Bei Mt und Lk und vor allem dann bei Joh kommt demgegenüber noch etwas Neues hinzu: Den Gemeinden geht es nicht mehr nur darum, den Menschen Jesus zu erzählen, der am Kreuz endgültig als Sohn Gottes offenbar wurde (Mk 15,39) (wie noch beim Markusevangelium, das z.B. von Wolfgang Wrede als verlängerte Passionserzählung charakterisiert wurde). Je länger desto mehr galt es, die „Besonderheit“ dieses Jesus von Nazaret von Anfang an auszuweisen. Dazu verwendeten die neutestamentlichen Autorinnen und Autoren beispielsweise Stilmittel und Motive, die schon bei alttestamentlichen Protagonisten angewendet wurden (vgl. die unterschiedlichen wunderbaren Geburts(ankündigungs-)erzählungen bei Simson, Samuel und Jes 7,14). Joh stellt deshalb in seinem Prolog (Joh 1,1-18) die Präexistenz Jesu heraus und verteidigt zugleich das wahre Menschsein Jesu gegen alle gnostischen Tendenzen. Mt und Lk gestalten den Anfang Jesu in den sogenannten Kindheitsgeschichten in Mt 1-2 sowie Lk 1-2 sinnenfällig aus. Beide boten ihren Gemeinden theologisch dichte Texte an, die auf die Erzählwelt der Leserinnen und Leser abgestimmt waren und diese Besonderheit illustrieren sollen.

In Mt wird Jesus als Nachkomme aus dem Stamm Davids eingeführt (Mt 1,1-17). Jesus gilt als das Ziel der Verheißungen an Israel, insofern er der Letztgeborene nach dreimal vierzehn (sowohl drei als auch 14 gelten als Zahl der Vollkommenheit) Generationen ist. Dass er zwar zur Reihe der Davididen gehört, zugleich aber nicht genauso ist wie sie, markiert der Evangelist, indem er das literarische Schema unterbricht und Jesus nicht wie die anderen als Sohn Josefs ausgibt bzw. Josef als Vater Jesu benennt. Mt 1,16 formuliert vielmehr passivisch, dass Jesus von Maria geboren worden sei. Auch hier wird die Geburt durch Maria zum Beweis des Menschseins Jesu. Das Passivum Divinum weist aber zugleich darauf hin, dass Jesus ganz und gar und von Anfang an von Gottes Initiative her zu verstehen ist. Ohne ein Interesse an biologistischen Spekulationen zu verfolgen, wie das spätere Zeiten tun werden, wird Jesus als Mensch und Messias Gottes gezeichnet.

Ausgerichtet auf die heidenchristliche Hörerinnenschaft und Hörerschaft stellt auch Lukas Jesus als von Maria Geborenen vor und als den, der alle Verheißungen nicht nur erfüllen, sondern sogar überbieten wird. In Jesus wird nicht nur die Heilslinie Gottes, die in Johannes dem Täufer unmittelbar anschaulich wird, aufgegriffen. Sie findet in Jesus sogar ihre Fülle und ihr Ziel. Jesus ist der erwartete Messias und in seiner Geburt wird der gesamte Weltkreis aus den Angeln gehoben (Schambeck, 2017, 176-179).

Insgesamt wird deutlich, dass Maria als biblische Figur in diesen Erzählungen kaum ein eigenes Gewicht zugestanden wird. Sie dient dazu, Aussagen über Jesus zu untermauern und wird als Werkzeug der Heilsgeschichte vorgestellt. Die lukanische Ausmalung der Verkündigungserzählung (Lk 1,26-38) unterstreicht dies anschaulich, indem Marias Zustimmung, das Kind zu empfangen, zum Anfang einer neuen Weltzeit wird. Gott macht sich aber auch abhängig von einem Menschen und Maria antwortet auf diese Entäußerung Gottes mit einem Freiheitsakt, der zum geschichtlichen Haftpunkt der Befreiung des Menschen wird. Das ist der eine Motivzusammenhang, in den die neutestamentlichen Schriften Maria stellen. Maria wird zum personalen Beweis, dass Jesus mitten in dieser Welt als wahrer Mensch gelebt hat.

2.2. Maria als Typos der wahren Jünger/-innen Jesu

Dass Maria nicht nur Veranschaulichung des Heilsplans Gottes ist, sondern auch eine aktive Rolle als wahre Jüngerin Jesus spielt, wird in einem zweiten Motivzusammenhang noch deutlicher. Maria wird hier als Typos der wahren Jüngerinnen und Jünger Jesu vorgestellt. Dies wird einerseits erläutert durch Erzählungen während Jesu Wirken und andererseits durch die Rolle, die Maria bei der Passion Jesu zukommt.

Exemplarisch kann dies an Joh 2 gezeigt werden. Ähnlich wie bei der oben erwähnten Mk-Stelle (Mk 3,31-35) muss Maria eine starke Abfuhr von Jesus entgegennehmen, insofern das Wort „Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4) eine gewichtige Distanz aufbaut. Die Stunde, die im Laufe des Johannesevangeliums immer mehr als Stunde dechiffriert wird, in der Jesus als Gottes Sohn offenbar wird, kann von keinem Menschen verfügt oder herbeigeführt werden – nicht einmal von der Mutter Jesu. Zugleich aber versteht Maria als erste im Jüngerkreis, dass dieses schrittweise Offenmachen, wer Jesus ist und wer er für die Menschen ist, seinen Anfang in der Zeit nehmen muss. In der Deutelinie des Johannesevangeliums gibt es dafür keinen besseren Ort als eine Hochzeit, die schon in der alttestamentlichen Literatur als Sinnbild für das Kommen des Messias und den Bund Gottes mit seinem Volk gilt (Hos 2,18-22; Jes 54,4-8; Jes 62,4f.).

Maria versteht, dass Jesus der ist, der die eschatologische Fülle bringen wird und deutet das Jünger/-innensein Jesu als Aktivität aus, dieser Fülle den Weg zu bereiten. Sie ist es, die den Mangel aufdeckt und auf den ausgegangenen Wein hinweist, und sie ist es auch, die den Dienern befiehlt, auf die Worte Jesu zu hören (Joh 2,3.5).

Nochmals anders wird dieses wahre Jüngerinnensein und Jüngersein in den Passionserzählungen anschaulich. War es während des Wirkens und Verkündigens Jesu die aktive Nachfolge, um die es ging, also, Gutes zu tun wie Jesus, Menschen zu heilen wie er, Dämonen auszutreiben und Tote zum Leben zu erwecken wie Jesus (Mt 10,5-8), so wird in den Passionserzählungen die Jüngerinnenschaft und Jüngerschaft in ihrer passiven, also erleidenden Dimension deutlich. Maria ist diejenige, die zusammen mit einigen wenigen unter dem Kreuz Jesu aushält und nicht davonläuft wie die anderen (Joh 19,25-27; Mt 27,55f. par: dort nicht namentlich erwähnt).

Maria wird so zum Inbegriff der wahren Jüngerinnen und Jünger Jesu. An ihr wird deutlich, dass jede und jeder, der sich in die Nähe Jesu stellt, auch dessen Schicksal in Kauf nehmen muss. Das bedeutet, sich den Menschen zuzuwenden – wie Jesus. Das heißt, besonders die Armen, die Leidenden und Marginalisierten in die Mitte zu rücken – wie Jesus. Das heißt, der Barmherzigkeit mehr zuzutrauen als dem Buchstaben des Gesetzes – wie Jesus. Und das heißt letztlich auch, den Weg nach unten mitzugehen und sich vom Kreuz nicht wegzustehlen, sondern auf Gottes lebensstiftendes Handeln trotz aller Widrigkeiten zu hoffen – wie Jesus. Die neutestamentlichen Schriften gestalten diese Gottrede, also → Theologie, wie so oft nicht in definitorischer Rede, sondern über Narrationen aus, die besonders einprägsam sind, wenn sie an Figuren angeheftet werden. Maria übernimmt diese Funktion, insofern sie immer dort, wo sie im Neuen Testament erwähnt wird, zur personalen Erinnerung und Aktualisierung des Jüngerinnenseins und Jüngerseins Jesu wird.

2.3. Maria, die prophetische und solidarische Frau

Maria als prophetische und solidarische Frau zu sehen, hat mit der Wirkungsgeschichte biblischer Texte zu tun. Hier spielt vor allem das Magnifikat, also der Lobgesang der Maria, eine Rolle, den sie bei der Begegnung mit Elisabeth anstimmt (Lk 1,46-55). Angereichert mit Motiven alttestamentlicher Hymnen (vgl. das Danklied der Hanna: 1 Sam 2,1-11; vgl. auch die Selbstpreisungen von Gott gesegneter Mütter im Alten Testament: Gen 29,32;30,13: Lea; auch Mal 3,12) ist es im ersten Teil ein Lied, das die Erwählung Marias im Heilsplan Gottes betont (Lk 1,46-50). Der zweite Teil (Lk 1,51-55) ordnet dieses außerordentliche Handeln Gottes an Maria in den großen Heilsplan Gottes mit Israel ein. Was Gott an Maria tut, wird zum Sinnbild und zum Inbegriff der Verheißung, die nun allen Menschen zukommt: Gott zeigt sich als einer, der herausruft, der Nähe gewährt, der rettet, und zwar trotz und angesichts der menschlichen Herrschaftsverhältnisse. Wo Gott wirkt, da bleibt nichts, wie es ist: weder Machtkonstellationen, Besitzzuschreibungen noch Heiligkeitsbezeigungen. Das Unterste wird zuoberst gekehrt und umgekehrt. Dass das Lk-evangelium dies an Maria festmacht, illustriert Marias prophetischen Charakter. Was für sie gesagt ist und was Gott an ihr wirkt, ist nicht auf ihr Schicksal beschränkt. Es ist vielmehr so, dass sich an Maria zeigt, was allen gilt. Wie auch die Propheten, und zwar deren Worte genauso wie deren Schicksal, für die Menschen zum Symbol geworden sind, um zu verstehen, was Gott seinem Volk sagen will, so ist auch Marias Magnifikat zu lesen.

Mit diesem prophetischen Text wird im Lk-evangelium zugleich Marias Solidarität deutlich. Verortet in der Begegnung mit Elisabeth, die im hohen Alter noch schwanger geworden ist, ist das Magnifikat Bekräftigung der Geburtsverheißung Jesu, Antwort auf die geisterfüllte Rede der Elisabeth (Lk 1,42-45) und zugleich Ausdruck, sich gemeinsam zu stärken und zu freuen, dass das Heilhandeln Gottes in ihrem Leben Wirklichkeit geworden ist. Die Geschichte beider Frauen ist so bei Lukas von Anfang an miteinander verbunden: Die Verkündigung an Maria bekräftigt Gabriel mit dem Hinweis, dass auch Elisabeth noch einen Sohn empfangen hat. Maria bleibt mit dieser Verheißung nicht bei sich, sondern macht sich nach wenigen Tagen auf den Weg zu Elisabeth. Elisabeth erkennt sofort, was geschehen ist, und preist Maria als Mutter des Herrn. Diese solidarische Verbundenheit der beiden Frauen steht damit nicht nur für sich, sondern zeigt, dass dort, wo Gott im Leben eines Menschen Einlass findet, Menschen füreinander einstehen. Diese Erkenntnis wird in der Spiritualitätsgeschichte eine große Wirkung entfalten. Maria wird als Frau verstanden, die weiß, wie es um andere steht und die solidarisch aktiv wird, wenn es darum geht, anderen beizustehen. Unzählige Marienlieder heben vor allem diesen Aspekt hervor.

2.4. Maria und die Urgemeinde

Das Lukasevangelium weist Maria auch eine besondere Rolle in der Urgemeinde zu. In Apg 1,12-14 zählt Maria zum innersten Kern der Jüngerinnen- und Jüngergemeinde, die sich nach der Kreuzigung in einem Obergemach in Jerusalem versammelte, dort ständig blieb, die Abschiedserscheinung an „Himmelfahrt“ erlebte und miteinander betete. Maria gehört auch zu denen, über denen sich der pfingstliche Geist ausgoss, der die verängstigten Jüngerinnen und Jünger in die Weite und Universalität der Verkündigung sandte (Apg 2,1-13). In diesem vierten Motivkreis neutestamentlicher Aussagen über Maria sammeln sich damit alle anderen und werden in eine neue Perspektive eingefügt.

Maria wird von Lk im Kreis der Urgemeinde als erste und unübergehbare Zeugin des wahren Menschseins Jesu „aufgerufen“. Sie ist zugleich Bild der wahren Jüngerin und schreibt diesen Typos der Gemeinde Christi bleibend ein. Mit Maria als prophetischer und solidarischer Frau wird die Kirche lesbar als Gemeinschaft, die sich an diesen Maßstäben messen lassen muss. Und als Mutter des Herrn wird sie schließlich selbst die „kyriake“, also die dem Herrn Gehörige, und insofern die Kirche so ausdeuten, dass Kirche immer dort ist, wo der Herr ist. Der aber ist, wo die Liebe ist (1 Joh 4,8).

Von daher wundert es nicht, dass Maria seit der Väterliteratur als Inbegriff, Typos und Symbol der Kirche verstanden wurde. An den biblischen Zeichnungen Marias lässt sich sozusagen ablesen, was die Kirche ausmacht und wie sie handeln soll, wie zugleich die Kirche in Maria eine „Erinnerung“ findet, wozu sie da ist: Werkzeug zu sein, um Gottes heilvolles Handeln an den Menschen ansichtig zu machen (Lumen Gentium 1).

3. Exkurs I: Die Apokryphen (Kirsti Greier)

Viele der von Maria überlieferten Traditionen stammen aus apokryphen Texten, d.h. aus Schriften aus der Frühzeit des Christentums (ca. 2.-4. Jh.), die von Jesus handeln, aber nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden. Im Blick auf Maria sind vor allem das Thomasevangelium und das Protevangelium des Jakobus zu nennen.

Das Thomasevangelium, entstanden etwa in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n. Chr., akzentuiert ähnlich wie das Mk-evangelium die schroffe Ablehnung, die Jesus gegenüber der leiblichen Familie und insbesondere gegen Maria ausspricht. Die Zugehörigkeit zur Jesusbewegung und das Familienleben werden als gegensätzliche Lebensmodelle dargestellt.

Anders sieht es im Protevangelium des Jakobus aus. Diese Schrift aus dem 2. Jh. n. Chr. entfaltet Marias Leben ausführlich. Ihre Eltern werden namentlich genannt und als Anna und Joachim ausgewiesen. Maria wächst im Tempel auf, die Geschwister Jesu werden zu Kindern Josefs aus erster Ehe stilisiert.

In dieser Schrift werden offenbar bekannte Texte aufgenommen und im Blick auf die besondere Heiligkeit Marias entfaltet. Rezeptionsgeschichtlich hat diese Schrift enorme Wirkung gezeigt (Klauck, 2008, 89-105).

4. Exkurs II: Maria im Koran (Mirjam Schambeck sf)

Maria wird im Islam eine hervorgehobene Stellung zugedacht. Das rührt daher, dass der Koran sie in zwei Suren erwähnt: der 19. Sure „Maryam“ als auch der Sure 3 „Die Sippe Imrans (= des Vaters Marias)“. Beide erzählen vom Leben Isas (Jesu) und Maryams (Maria). Maria wird ähnlich wie in der apokryphen Literatur des Protoevangeliums des Jakobus dargestellt und schon vor ihrer Geburt von ihrer Mutter Gott geweiht (Sure 3,35). Anna, die Mutter Marias, gibt ihr den Namen Maria. In der islamischen Tradition wird Mohammed zugeschrieben, dass er gesagt habe, dass jedes Kind bei seiner Geburt vom Teufel gestochen würde und diese Berührung bringe es zum Schreien, „ausgenommen Maryam und ihren Sohn“ (Hagemann, 1991, 495). Maria gilt also auch im Islam als aus dem Sündenzusammenhang herausgenommen. Ebenso teilt der Islam die Auffassung, dass Maria Jungfrau und Mutter gewesen sei. Die Verkündigungsszene wird im Koran (Sure 19,16-21) ganz ähnlich wie im Lk-evangelium geschildert. Hier wie dort ist es Gottes Schöpferkraft, die wirkt, was Gott will. Maria wird im Islam als „Zeichen für die Menschen“ bezeichnet (Suren 21,9;23,50), an der Gottes Handeln ablesbar wird. Als Typos einer glaubensbereiten Frau wird sie zum Vorbild für alle gläubigen Musliminnen und Muslime (Hagemann, 1991, 497).

Gemeinsam ist dem Islam und dem Christentum, Maria eine große Bedeutung im Heilshandeln Gottes zuzuerkennen, sie als Frau des Glaubens vorzustellen, als Jungfrau und Mutter zu glauben und durch ihre enge Beziehung zu Isa bzw. Jesus zu verehren. Weil Jesus im Islam nicht als Gottessohn geglaubt wird, wird im Islam auch anders als im Christentum nicht von der Gottesmutterschaft Marias gesprochen.

5. Maria – Differenzen in den kirchlichen Traditionen (Mirjam Schambeck sf)

Im Laufe der Theologie- und → Kirchengeschichte haben die Aussagen über Maria zu nicht wenigen Kontroversen geführt. Sowohl in den ersten christlichen Jahrhunderten machten sich an Maria Fragen von höchstem Gewicht fest, wie z.B., ob Maria als Gottesgebärerin (Theotokos) angeredet werden dürfe und Jesus damit wahrhaft Mensch und Gott sei oder nicht. Auch im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen den Kirchen der → Reformation und der römisch-katholischen Kirche wurden dogmatische Streitigkeiten an der Rolle und Bedeutung Marias festgemacht. Diese sind heute Gott sei Dank weniger gewichtig als noch in den 1950ern, weil deutlich wurde, dass sich jede theologische Deutung über Maria (Mariologie) am biblischen Zeugnis messen muss. Auch Spiritualitätsformen konnten von daher in ihrer Kontextualität und Regionalität gesehen und relativiert werden. Im Folgenden wird Maria sowohl in der Tradition der evangelischen Kirchen als auch der katholischen gezeichnet, um auch daran Lernmöglichkeiten für heute auszumachen.

5.1. Maria in der Tradition der evangelischen Kirchen (Kirsti Greier)

Maria ist als Mutter Jesu selbstverständlich auch in den evangelischen Kirchen eine besondere Frau. Im Laufe der Zeit ändert sich die Bedeutung der Gestalt Marias immer wieder.

In der Figur der Maria nimmt die für die frühe Kirche zentrale Frage nach den beiden Naturen Christi Gestalt an. Damit Jesus wirklich Mensch sein konnte, musste Maria eine Frau wie alle sein. Damit in Jesus wirklich → Gott Mensch wurde, konnte die Empfängnis dieses Kindes nicht wie die aller anderen sein. Die Empfängnis aus der Geistkraft Gottes bleibt im biblischen Zeugnis ebenso wie in den Glaubensbekenntnissen der alten Kirche geheimnisvoll. Sie gehört zum Glaubensbekenntnis auch der protestantischen Kirchen.

Je länger umso mehr entwickelte sich Maria zu einer Heiligen, wobei Volksfrömmigkeit und offizielle Kirchenlehre hier ineinander gingen. Maria wurde vom Sinnbild der Glaubenden zur Fürsprecherin bei Jesus, von der Gebärerin des Gottessohns zur Himmelskönigin mit überirdischen Fähigkeiten.

Der Reformator Martin Luther zog demgegenüber eine klare Grenzlinie. Maria als vorbildliche Glaubensfrau, als Musterbild der Rechtfertigung allein aus Gnade lobte er sehr. Maria aber in irgendeiner Form als Vermittlerin in Sachen Erlösung zu sehen, widersprach seines Erachtens grundsätzlich dem Glaubensprinzip des „solus Christus“. Nicht Maria, sondern Jesus Christus verbindet Gott und Mensch. Maria ist als Mutter Jesu zu ehren, aber nicht zu verehren (Wilckens, 1991, 115).

Nach Luther und mit der Reformation wurde die Marienverehrung schließlich zum Distinktionsmerkmal der beiden Konfessionen. Dazu trug bei, dass durch das Prinzip des landesherrlichen Kirchenregiments evangelische und katholische Christinnen und Christen eher selten persönlichen Kontakt zueinander hatten. Zugleich wurden auf theologischer Ebene die Gegensätze präzisiert. Im Blick auf die Rechtfertigungslehre wurde Maria zunehmend zur Distinktionsfigur. Galt sie katholischerseits als Repräsentantin der Kirche, wurde sie evangelisch zum Bild für die Rechtfertigung aus Glauben (Bickelhaupt, 4).

Weil Maria und insbesondere die Marienverehrung zu einem der entscheidenden Unterschiede zwischen den Konfessionen avancierte, wurde sie entweder stark betont oder allmählich vergessen. Im 19. und 20. Jh. wurden beispielsweise in der römisch-katholischen Kirche weitere Dogmen erlassen, in denen Maria eine wesentliche Rolle spielte. Marienerscheinungen und -feste führten dazu, Maria im Volksglauben der katholischen und der orthodoxen Kirche hoch zu halten (Hofmann, 2007, 165), während Maria in evangelischen Zusammenhängen kaum noch eine Rolle spielte und die Marienverehrung immer mehr als allein katholische oder orthodoxe Praxis abgelehnt wurde. Wie unterschiedlich die theologische Positionierung im Blick auf Maria global gesehen immer noch ist, zeigt ein Dekret von Papst Franziskus zur Gestaltung des Pfingstmontags als Mariengedenktag (März 2018). Dieser in Deutschland in manchen Regionen zu ökumenischen Gottesdiensten genutzte Feiertag erhält, auch wenn durchaus Ausnahmen im Blick sind, eine andere liturgische Einordnung, der evangelische Gemeinden so nicht folgen können.

Evangelische Traditionen zu Maria sind demzufolge heute kaum vorhanden. In den Gottesdienstbüchern existieren zwar noch Christusfeste mit marianischem Aspekt, wie Mariä Lichtmess bzw. Darstellung des Herrn (2. Februar), Verkündigung des Herrn an Maria (25. März), oder Mariä Heimsuchung (2. Juli). Im Alltag spielen diese Feste aber so gut wie keine Rolle für Glauben und Glaubenspraxis evangelischer Christinnen und Christen.

Geblieben ist Maria der Platz an der Krippe. Von dort aus findet sie auch Eingang in gottesdienstliches Handeln und die Praxis der Gemeinde. Ein Blick in entsprechende Material- und Praxisbücher spiegelt unterschiedliche theologische Fokussierungen wieder, die ihren Ausgangspunkt bei Facetten der biblischen Maria nehmen. Drei wesentliche Themenkreise sollen hier benannt werden.

1. Maria als konflikt- und leidgeprüfte Mutter des Gottessohnes

Maria ist zunächst die Mutter, die den Gottessohn auf die Welt bringt. Maria öffnet sich für Gott und die Kraft des göttlichen Geistes. Wie das geschieht, bleibt auch ihr selbst ein Geheimnis. Sie ist begnadet, heißt es bei Lukas (1,28).

Maria ist eine jüdische Mutter. Was in den Geburtsgeschichten und in alten Traditionen wie beispielsweise dem Fest zu Mariä Lichtmess wie selbstverständlich dazugehört, ist im Laufe der Kirchengeschichte viel zu häufig in Vergessenheit geraten.

Viele Textstellen legen nahe, dass die Beziehung zwischen Mutter und Sohn nicht einfach war. Wie lebt es sich mit einem derart besonderen Kind? Von Unverständnis, zurückgewiesener Nähe und von Mutterliebe erzählen die Geschichten. Marias Sohn verrückt die Maßstäbe, die neue Gemeinschaft der Gottesgeschwister ist weiter und anders als die vertrauten Strukturen.

Maria ist eine Mutter, die trotz allem selbst im Sterben die Nähe zu ihrem Kind aushält, die ihren Sohn verliert. Gottes Menschwerdung ist ein schmerzhafter Prozess, der Gottesmutter wird fast Übermenschliches abverlangt. Am Ende findet Maria ihren Platz im Leben, in der ersten Gemeinde und im Gedächtnis der Christinnen und Christen.

2. Maria als Vorbild des Glaubens

„Glückselig bist du, denn du hast geglaubt, dass in Erfüllung geht, was dir der Herr versprochen hat“ (Lk 1,45). Elisabeths Seligpreisung könnte programmatisch über Marias Biografie im Lukasevangelium stehen. Maria ist offen für Gottes Möglichkeiten trotz allem Rätselhaften. Sie lässt sich auf Gottes Kraft ein. Lukas beschreibt sie als eine Frau, die sich ganz auf Gottes Gnade einlässt und zugleich aktiv ihren Platz in Gottes Geschichte ausfüllt. „Die Maria der Bibel … hat nicht nur ,Fiat‘ gesagt, sondern auch ,magnificat anima mea dominum‘“ (Sölle, 2004, 132). Maria ist sich bewusst, dass sie zu den Niedrigen gehört und dass sie allein durch Gottes Kraft ihre große Aufgabe mit Leben füllen kann. Sie kann sich selbst als Teil der heilvollen Geschichte Gottes mit den Menschen begreifen. Eng verbunden damit ist das Bild von:

3. Maria als prophetischer Verkündigerin des Reiches Gottes

Was Maria im Magnifikat sagt, geschieht ihr am eigenen Leib: Gott segnet, Gott teilt Stärke mit, aus einer unbedeutenden Frau wird eine mutige Persönlichkeit. Was Maria selbst erlebt hat, sagt sie nun für die ganze Welt aus. Barmherzigkeit wird sich in barmherzigen Lebensordnungen ausdrücken. Ungerechte Strukturen wird Gott durchbrechen (Wartenberg-Potter, 2016, 4).

Das Magnifikat entfaltet prophetische Kraft, gibt einen Anstoß zur Hoffnung angesichts ungerechter Verhältnisse, zur Utopie einer Gesellschaft ohne oben und unten.

In diesen gemeinsamen biblischen Bezügen liegt auch die Chance ökumenischer Beschäftigung mit Maria.

5.2. Maria in der Tradition der katholischen Kirche – Lernmöglichkeiten für heute (Mirjam Schambeck sf)

In der Tradition der katholischen Kirche haben sich fünf dogmatische Lehrsätze über Maria herausgebildet (vgl. zum Folgenden: Beinert/Petri, 1984, 232-314):

  1. 1.Maria ist die Mutter Gottes, definiert auf dem Konzil von Ephesus 431.
  2. 2.Maria ist immerwährende Jungfrau, erstmals dogmatisiert in den Lehraussagen des Zweiten Konzils von Konstantinopel, 553.
  3. 3.Maria ist die unbefleckt Empfangene, definiert von Papst Pius IX. im Jahr 1854.
  4. 4.Maria ist mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden, definiert von Pius XII. 1950.
  5. 5.Maria hat in ihrem Leben nicht gesündigt. Der letzte Satz ist nie in den Rang eines Dogmas erhoben worden.

Insgesamt zeigt sich, dass die ersten beiden Lehrsätze christologisch zugespitzt sind, Lehrsatz 3 und 4 in ihrer christologischen Fundierung auch und insbesondere anthropologische Aussagen transportieren. Das christologische Zeugnis der Marienaussagen teilt die katholische Kirche mit den Kirchen der Reformation. Auch die eng biologistische Lesart der immerwährenden Jungfräulichkeit Marias ließ die katholische Tradition zugunsten einer theologischen und spirituellen Interpretation hinter sich, die darauf abhebt, Maria als Typos der wahren Jüngerinnen und Jünger Jesu aufzuzeigen, die im Sinne der Seligpreisungen ein reines, unverstelltes Herz haben sollen, wie Maria es hatte (Mt 5,8). Von daher sollen im Folgenden die Dogmen näher ausgeleuchtet werden, die einseitig vom katholischen Lehramt definiert wurden.

Auch wenn der evangelisch-lutherischen Tradition das Theologumenon von der unbefleckten Empfängnis nicht fremd und die Rede von der Aufnahme Marias in den Himmel mit Leib und Seele bekannt ist, sind die Dogmatisierungen dieser Aussagen ohne jedes Gespür für die evangelischen Schwesterkirchen getätigt worden. In den letzten Jahrzehnten theologischer Reflexion wurde deshalb viel Arbeit darauf verwendet, den Gehalt der dogmatischen Aussagen für heute und in ökumenischer Dialogizität zu formulieren. Ohne den verästelten Diskurs im Einzelnen nachzeichnen zu können, soll deren Ertrag festgehalten werden. Dieser zeigt sich darin, dass beide Dogmen, sowohl das von 1854 als auch jenes von 1950, darüber Aussagen machen, dass die Menschwerdung Jesu Christi und Gottes Heilshandeln in Jesus die gesamte Schöpfung aufgerichtet, erneuert und neu fähig gemacht haben, heil zu werden.

Dass dies nicht nur ein verheißungsvolles Wort ist, dass diese Zusage Gottes an die Schöpfung und damit alle Menschen nicht einfach heute gesprochen ist und morgen nicht mehr gilt, hat einen personalen Ausdruck in Maria gefunden. Mit anderen Worten zeigt sich an Maria, was der Mensch ist, und wozu er von Gott gedacht ist. Maria ist sozusagen die Aktualisierung und Verwirklichung der erlösten Welt und damit auch Hoffnungspunkt für alle anderen Menschen. Was an ihr schon Gestalt gefunden hat, das ist nicht auf sie beschränkt. Die Dogmen zeigen vielmehr auf, dass die Zusage Gottes, dass der Mensch und die Schöpfung mit ihm ganz und gar (siehe Dogma von 1854), von Anfang bis zum Ende (siehe Dogma von 1950) auf das Glück hin angelegt ist, und dass dies an Maria verwirklicht ist und für alle gilt.

Damit aber wird deutlich, dass die mariologischen Aussagen im Grunde anthropologische sind. Es werden Bilder vom glücklichen, heilvollen Menschen skizziert, die anstacheln, die eigenen Menschenbilder zu überprüfen und das eigene Leben auf solche positiven Vorstellungen hin zu orientieren. Auf diesem Verstehenshintergrund ergeben sich vielfältige Lernmöglichkeiten auch für heute.

6. Unterrichtspraktische Ideen für den Primarbereich und die Sekundarstufe

6.1. Unterrichtspraktische Ideen für den Primarbereich (Kirsti Greier)

Die Vielgestaltigkeit der Marienbilder im biblischen Zeugnis sollte sich ebenso wie die enge Anbindung der Marientexte an Jesus Christus im religionspädagogischen Umgang mit dem Thema wiederspiegeln (Schweitzer/Biesinger, 2002, 150).

6.1.1. Was für eine Mutter!

Ausgehend von einer Maria-Krippenfigur, die auch außerhalb der Weihnachtszeit ausgepackt werden kann, lässt sich die Frage nach der Besonderheit dieser Mutter und der Beziehung zu ihrem Kind bearbeiten. Nach einer einführenden Erzählung zu Lukas 1,5-2,20 werden im Sinne eines Stationenwegs unterschiedliche Marientexte angeboten, wie beispielsweise die Darstellung im Tempel, der 12-Jährige, der in Jerusalem zurückbleibt (Lk 2,41-51), die schroffe Zurückweisung (Mk 3,31-35), die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-12), die Anwesenheit unter dem Kreuz (Joh 19,25-27) und in der ersten Gemeinde (Apg 1,13f.).

An jeder Station stehen Figuren bereit (Maria, Josef, Jesus, Jüngerinnen und Jünger), mit denen Nähe und Distanz sichtbar gemacht und photographisch dokumentiert werden können. Der entstehende Weg zeigt Höhen und Tiefen dieser besonderen Mutter im Verhältnis zu ihrem Kind. Vor allem bei Lukas wird immer wieder gesagt, dass Maria die Worte über ihr Kind bewahrt. Von da aus kann über die Frage nach der Bedeutung des Vertrauens auf Gott und sein Wort nachgedacht werden – für Maria auf ihrem Weg und möglicherweise für viele gläubige Menschen als Vorbild im Glauben.

6.1.2. Die vielen Namen der Maria

Bereits in den biblischen Zeugnissen wird Maria als Mutter Jesu unterschiedlich akzentuiert. Im Laufe der Zeit erfährt die Gestalt der Maria immer wieder Veränderungen und Erweiterungen ihrer Bedeutung. Diese Vielfalt lässt sich über den Zugang über ihren Namen und die Beinamen erschließen. Bereits die unterschiedlichen Herleitungsversuche des Namens weisen auf die unterschiedlichen Sichtweisen Marias hin. So deuten befreiungstheologisch orientierte Theologinnen, wie z.B. Bärbel Wartenberg-Potter den Namen vom hebräischen mara her eher als „Die Aufbegehrende“ (Wartenberg-Potter, 2016, 2), während andere eher mit „Die Betrübte“ übersetzen, wieder andere sprechen von „Die von Gott Geliebte“. Titel wie Himmelskönigin, Mater dolorosa, Madonna, Himmelsmutter, Gottesgebärerin, Unsere Liebe Frau etc. erweitern die Bandbreite.

In kleinen Gruppen können Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Marienprofile erarbeiten, die in einer szenischen Aufstellung durch je ein Gruppenmitglied in einer Reihe hintereinander die eine Frau mit vielen Facetten abbilden und im Auseinandertreten die je eigene Rolle zu Wort kommen lassen. Die „Marias“ können miteinander ins Gespräch kommen und von der übrigen Gruppe befragt werden. Die Reflexion, wer wohl Maria warum wie darstellt, führt zur eigenen Überlegung, welche Aspekte der Maria für die einzelnen Schülerinnen und Schüler bedeutsam sein können.

6.2. Unterrichtspraktische Ideen für die Sekundarstufe (Mirjam Schambeck sf)

Im Folgenden werden unterrichtspraktische Ideen vorgestellt, die die theologischen Deutungen, die sich aus den exegetischen Vergewisserungen und den kirchlichen Traditionen ergeben haben, zum religiösen Lerngegenstand zu machen.

6.2.1. Krippendarstellungen als Lernwege

Um die theologische Aussage, dass Maria Jesu wahres Menschsein unterstreicht, auch zur biblischen Lernmöglichkeit für heute zu machen, können Krippendarstellungen ein guter Weg sein. Deren Vielfalt durch die Jahrhunderte hindurch seit der ersten Krippeninszenierung durch Franz von Assisi im Bergdorf von Greccio im Jahr 1223, deren Ausstaffierung mit unterschiedlichsten Personengruppen und Tieren kann zum Anlass werden, darüber nachzudenken, was es bedeutet, einen Menschen, der noch dazu verletzbar ist wie ein kleines Kind, in das Zentrum des Glaubens zu rücken. Über die Menschen- und Tierkonstellationen kann ferner die Frage bedacht werden, wer die „richtigen“ Augen hat, um zu erkennen, wer dieser Jesus von Nazaret ist. Indem Krippen nachgestellt, inszeniert, in zeitgenössisches Ambiente übertragen werden (vgl. dazu die ikonographisch inspirierten und provokant aktualisierten Darstellungen von Serge Bramly und Bettina Reihms), wird deutlich, dass die Geburt Jesu nicht einfach eine idyllische Geschichte von irgendwann ist, sondern herausfordert, Stellung zu beziehen, was es bedeutet, dass Gott sich im Menschen, und zwar im verletzlichen Menschen finden lässt.

6.2.2. Textcollagen als Lernwege

Das Verständnis, dass die neutestamentlichen Schriften mit Maria auch den Typos für die wahren Jüngerinnen und Jünger Jesu entwerfen, kann veranschaulicht werden, indem Lerngruppen unterschiedlichste neutestamentliche Textstellen zusammentragen und wie in einer Collage deren Aussagen ineinanderlesen. Damit wird der Facettenreichtum der Jüngerinnen- und Jüngerschaft Jesu deutlich. Dies hilft zugleich darauf hinzuweisen, dass heutige Jüngerinnen- und Jüngerschaft Jesu sehr vielfältig aussehen kann, auch wenn die Grundgrammatik gleich bleibt, nämlich von Tod und Auferstehung Jesu geprägt zu sein.

6.2.3. Das Magnifikat als Befreiungslied aktualisieren

Das Magnifikat, das im katholischen Abendgebet Tag für Tag gebetet wird, wurde während der Diktaturen in Lateinamerika am Ende des letzten Jahrhunderts verboten. Diktatoren fürchteten, dass dieses Lied, das den Menschen die subversive und revolutionäre Kraft Gottes Zeile für Zeile in Erinnerung ruft, anspornt, sich gegen Unrecht und Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Auch → Dietrich Bonhoeffer hat diese Lesart des Magnifikat gekannt und von ihr gelebt.

Die exegetische Erschließung des Magnifikat einerseits und seine Übersetzung in Kontexte, in denen Menschen unterdrückt sind, andererseits kann zum Anstoß werden, Gott nicht nur eine wohlige Ecke irgendwo zuzugestehen, sondern Gott als Instanz kennenzulernen, die Menschen Kraft gibt, sich gegen Unrecht und Ungerechtigkeit zu wehren. Die prophetische und solidarische Frau Maria kann mit dem Magnifikat damit zum Inbegriff von Courage und dem Engagement für Gerechtigkeit werden.

6.2.4. Kirchenbilder deuten

Die Funktion, die Lukas Maria für die Deutung von Kirche zuschreibt, kann eingeholt werden, indem unterschiedliche Kirchenbilder auf ihre Botschaften untersucht werden. Sowohl Kirchenbauten unterschiedlichster Jahrhunderte als auch Sprachbilder von Kirche wie Volk Gottes auf dem Weg, Communio – Gemeinschaft etc. können in der Lerngruppe darauf befragt werden, was sie an Inhalten transportieren, was davon besonders anspricht, eher abstößt, was an Wünschen da ist und wie Kirche dem gerecht wird und wozu Kirche gedacht ist: Werkzeug für Gott und nicht um ihrer selbst willen da zu sein.

6.2.5. Marienbilder als Anthropologie lesen

In der Kunstgeschichte gibt es bis heute unzählig viele und unterschiedlich akzentuierte Marienbilder. Sie reichen von Mariendarstellungen noch vor dem Bilderstreit in Form von Sarkophagplastiken. Die ältesten Marienbilder der Kunstgeschichte sind bis dato auf Fresken der Priscilla-Katakombe aus der 1. Hälfte des 3. Jh. zu finden, von Epiphanierdarstellungen mit der Anbetung der Magier und der Geburt Christi etc. bis zu zeitgenössischen Bildern, die die Superfrau Maria genauso ins Bild setzen wie die leidende oder schöne Frau (Burrichter/Gärtner, 2014).

Aufgabe in einer Lerngruppe kann es sein, Marienbilder ganz unterschiedlicher Epochen und Zuschnitte in einer Art Galerie aufzuhängen, um deren Aussagen über den Menschen und speziell deren Frauenverständnis zu erkunden und mit den Entstehungskontexten abzugleichen. Damit kann deutlich werden, dass Mariendarstellungen emanzipatorische Impulse gesetzt haben und dass sie Aussagen transportierten vom idealen Menschen. Mit anderen Worten sind die Marienbilder immer auch Anthropologien gewesen und haben auf ihre Art und Weise die Genderfrage zum Thema gemacht und geprägt. Mittels der Mariendarstellungen kann damit die Frage verhandelt werden, was heute als anzuzielendes Verständnis vom Menschen gelten kann und soll, was Frausein bedeutet und als Frau Gesellschaft und Kirche zu gestalten.

Literaturverzeichnis

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  • Bramly, Serge/Rheims, Bettina, I.N.R.I., New York 1999.
  • Burrichter, Rita/Gärtner, Claudia, Mit Bildern lernen. Eine Bilddidaktik für den Religionsunterricht, München 2014.
  • Hagemann, Ludwig, Maria, in: Khoury, Adel T./Hagermann, Ludwig/Heine, Peter, Islam-Lexikon. Geschichte, Ideen, Gestalten, Freiburg i. Br. 1991, 491-500.
  • Hofmann, Renate, Maria – Vorbild oder Himmelskönigin?, in: Loccumer Pelikan 4 (2007), 160-166.
  • Klauck, Hans-Josef, Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, Stuttgart 3. Aufl. 2008.
  • Oberlinner, Lorenz, Historische Überlieferung und christologische Aussage. Zur Frage der Brüder Jesu in der Synopse, Stuttgart 1975.
  • Rupp, Hartmut (Hg.), Handbuch der Kirchenpädagogik, Stuttgart 2. Aufl. 2008.
  • Schambeck, Mirjam, Biblische Facetten. 20 Schlüsseltexte für Schule und Gemeinde, Ostfildern 2017.
  • Schmeller, Thomas, Der erste Korintherbrief, in: Ebner, Martin/Schreiber, Stefan (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2. Aufl. 2013, 308-330.
  • Schweitzer, Friedrich/Biesinger, Albert (Hg.), Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht, Gütersloh 2002.
  • Sölle, Dorothee, Meine Seele sucht das Land der Freiheit, in: Haag, Herbert/Kirchberger, Joe H./Sölle, Dorothee, Maria. Die Gottesmutter in Glauben, Brauchtum und Kunst, Freiburg i. Br. 2004.
  • Theobald, Michael, Der Galaterbrief, in: Ebner, Martin/Schreiber, Stefan (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2. Aufl. 2013, 353-370.
  • Wartenberg-Potter, Bärbel, Die Frau mit dem aufrechten Gang. Predigt am Reformationstag 2016 in Nürtingen. Online unter: https://www.baerbel-wartenberg-potter.de/meine-texte/, abgerufen am 05.08.2018.
  • Wenzel, Knut, Die Wucht des Undarstellbaren. Bildkulturen des Christentums, Freiburg i. Br. 2018.
  • Wilckens, Ulrich, Maria, die Mutter des Herrn in evangelischer Sicht, in: Kießig, Manfred (Hg.), Maria, die Mutter unseres Herrn, Kempten 1991, 109-120.

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