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Protevangelium des Jakobus

(erstellt: Oktober 2020)

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1. Textaufbau

Das sogenannte „Protevangelium des Jakobus“ lässt sich thematisch in drei größere Blöcke gliedern. Im ersten Teil (ProtevJac 1-16) wird von der Empfängnis und Geburt → Marias, von ihrem Aufwachsen im Tempel bis zu ihrer Verlobung mit → Josef und von ihrer Schwangerschaft erzählt (s.u. 4.1.-4.5.). Inhaltlich zentral ist hier vor allem die Darstellung der makellosen Reinheit Marias. In einem zweiten Teil thematisieren die Kapitel ProtevJac 17,1-22,2 ausführlich die Geburt Jesu in einer Höhle bei → Betlehem. Narrativ breit entfaltet wird hier vor allem, dass Maria auch nach der Geburt Jungfrau bleibt (s.u. 4.6.-4.7.). Es schließen sich der Besuch der Sterndeuter und die Bedrohung des Kindes durch die Mordanschläge des Königs → Herodes an (s.u. 4.8.). Zum Schluss (ProtevJac 22,3-24,4) verbindet sich in einem dritten Teil die Handlung mit der frühen Kindheitsgeschichte → Johannes’ des Täufers: Seine Mutter Elisabet will das Kind vor Herodes schützen, flieht deshalb in die Berge und erfährt eine wundersame Rettung. Währenddessen wird Johannesʼ Vater Zacharias beim Priesterdienst vor dem Altar getötet (s.u. 4.9.).

Ein Epilog (ProtevJac 25) präsentiert in der ersten Person Singular → Jakobus (gemeint ist offenbar der Herrenbruder) als den Autor der Geschichte (s.u. 4.10.). Der tatsächliche Verfasser ist, wie bei so vielen apokryphen Schriften, unbekannt.

2. Titel des Textes, Bezeugung und Datierung

Der heute im deutschsprachigen Raum übliche Titel „Protevangelium des Jakobus“ entstand erst im 16. Jahrhundert und geht auf den Humanisten Guillaume Postel (1510-1581) zurück. Postel nannte den Text Prot-Evangelium, weil er ihn für den verlorengegangenen Anfang des Markusevangeliums hielt, das im Gegensatz zu den anderen synoptischen Evangelien keine Geburtsgeschichte kennt, sondern direkt mit Johannes dem Täufer und der Taufe des erwachsenen Jesus einsetzt.

In ganz anderer Weise wird auch auf den Vers Gen 3,15 bisweilen als Prot(o)evangelium verwiesen (→ Protoevangelium). Der mit dem Titel „Protevangelium des Jakobus“ versehene Text sollte davon aber klar unterschieden werden.

In den vielen Handschriften, die den Text überliefern, finden sich dagegen sehr unterschiedliche Titel. So heißt er z.B. „Geburt Marias. Offenbarung des Jakobus“, „Erzählung und Geschichte, wie die hochheilige Gottesgebärerin für unsere Erlösung geboren wurde“ oder „Erzählung des heiligen Apostels Jakobus, Erzbischof von Jerusalem und Herrenbruder, über die Geburt der allheiligen Gottesgebärerin und Ewigjungfrau Maria“ (vgl. ausführlich Pellegrini, 906). → Origenes (ca. 185 bis ca. 254 n. Chr.) kennt das „Protevangelium des Jakobus“ offenbar unter dem Titel „Buch des Jakobus“ (Origenes, Commentarius in Matthäum X 17 zu Mt 13,53-58, s. Pellegrini, 906). Auch Clemens Alexandrinus (ca. 150 bis ca. 215 n. Chr.) scheint Informationen über spezifische Inhalte zu haben (Clemens Alexandrinus, Stromateis VII 16,93,7).

In der heutigen Forschung wird daher in aller Regel davon ausgegangen, dass das „Protevangelium des Jakobus“ um 200 bereits kursierte. In welcher Form Kirchenväter wie Clemens und Origenes die Schrift kannten, ist freilich umstritten, da sie inhaltliche und formale Brüche aufweist (s.u. 4.). Das lässt zumindest auf die Einarbeitung verschiedener Traditionen schließen. Hinzu kommt, dass die antiken Titelformulierungen sich häufig nur auf den ersten Teil zu beziehen scheinen, der die Geburt und das Aufwachsen Marias ins Zentrum stellt. Origenes kennt außerdem eine andere Überlieferung zum Tod des Zacharias (Origenes, Commentarius in Matthaeum XXV 2 zu Mt 23,29-36) als jene in ProtevJac 22-24. Vermutlich wurde also zumindest dieser dritte Teil, der in der Forschung auch als „Apokryphon Zachariae“ bezeichnet wird, erst später angefügt. Die handschriftliche Überlieferung des ProtevJac belegt jedoch auch in ihren ältesten Zeugen (aus dem 3. / 4. Jahrhundert) bereits die Zusammenstellung aller drei thematischen Blöcke zu einem Werk (vgl. Pellegrini, 907, und Hock, 11).

Deutlich früher, nämlich schon ins 1. Jahrhundert, datiert G.T. Zervos die ersten Stufen des Textes. Er geht von einer jüdisch-messianischen Grundschrift aus, die die Herkunft und das Aufwachsen Marias bis zur jungfräulichen Geburt Jesu thematisierte und noch im 1. Jahrhundert gravierend verändert und um Josefs-Material erweitert wurde (vgl. Zervos, 19f.158-169). Seine endgültige Form habe das „Protevangelium des Jakobus“ dann im 2. Jahrhundert durch einen Redaktor erhalten, der den Text im Sinne „rechtgläubiger“ Positionen umschrieb und Inhalte ergänzte, die den Geburtsgeschichten aus den kanonisch gewordenen Evangelien entsprachen (vgl. Zervos, 20).

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Einer der wichtigsten Textzeugen ist nicht nur wegen seines Alters (3. / 4. Jh.), sondern auch wegen seines guten Erhaltungszustandes Papyrus Bodmer V, der 1958 erstmals veröffentlicht wurde (Testuz). Auch wenn hier ProtevJac 18-21 in einer offenbar verkürzten Version überliefert wird, kommt jegliche neuere Beschäftigung mit der Überlieferung des „Protevangelium des Jakobus“ nicht an der Berücksichtigung dieses Textzeugen vorbei. Maßgeblich ist nach wie vor die Edition von E. de Strycker von 1961, die neben Papyrus Bodmer V und weiteren griechischen Textzeugen auch die breite Überlieferung des Textes in anderen Sprachen (Lateinisch, Syrisch, Georgisch, Koptisch, Äthiopisch u.a.) berücksichtigt. Eine Textausgabe, die sich eng an de Strycker anschließt, hat 1995 R. Hock vorgelegt. Eine neue Textedition, die sich von einigen einflussreich gewordenen Forschungspositionen de Stryckers kritisch absetzt, wird gerade von G.T. Zervos vorbereitet.

Die bis heute gebräuchliche Einteilung des Textes in 25 Kapitel wurde von J.A. Fabricius in seiner Edition des Textes von 1703 eingeführt.

3. Entstehungsort

Woher das „Protevangelium des Jakobus“ in lokaler Hinsicht stammt, lässt sich kaum konkret bestimmen. Dass der Entstehungsort aber zumindest außerhalb Palästinas zu suchen sei, wird in der Forschung zumeist mit den vage bleibenden Ortsangaben begründet, die nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen (siehe besonders ProtevJac 17 und ProtevJac 21,1; vgl. Hock, 12f.). Am häufigsten wird eine Entstehung in Ägypten (so z.B. de Strycker, 419-423) oder in Syrien angenommen (so z.B. Pellegrini, 909, und ausführlich Vuong, 193-239). Aber auch der palästinische Raum ist – ungeachtet der angedeuteten geographischen Ungereimtheiten – neuerdings von A. Toepel wieder ins Spiel gebracht worden (Toepel, 37f.).

Toepel gründet diese These vor allem auf die Jakobustradition, die durch die Verfasserfiktion aufgerufen werde. Fraglich ist allerdings, ob das Aufgreifen von Jakobustraditionen tatsächlich so eindeutig nur auf den palästinischen Raum verweist (und nicht z.B. auch nach Syrien deuten könnte). Abgesehen von der Verfasserfiktion in ProtevJac 25 zeigt der Text auch in seiner Endgestalt außerdem wenig Jakobus-Spezifisches. Die Vermutung liegt daher nahe, dass der Herrenbruder vor allem deshalb zum Autor stilisiert wird, weil er als Augenzeuge besonders nah am Geschehen ist (s.u. 4.10.). Die Herkunftsfrage des Textes lässt sich mit seiner Hilfe nicht lösen.

Auch Zervosʼ komplexes Modell der Textentstehung (s.o. 2.) geht für die früheste Stufe des Textes von einer Entstehung im Umfeld von Jerusalem aus (vgl. Zervos, 160).

4. Inhalt und theologische Schwerpunkte

Innerhalb der Sammlungen apokrypher Schriften wird das „Protevangelium des Jakobus“ in der Regel den sogenannten „Kindheitsevangelien“ zugeordnet. Es nimmt hier jedoch eine Sonderstellung ein, da es zwar von der Geburt Jesu berichtet, aber daran anschließend keine weiteren Begebenheiten aus der Kindheit Jesu schildert (wie etwa das → „Kindheitsevangelium nach Thomas“), sondern die Geburtsgeschichte Jesu vielmehr nur im Hinblick auf vorausgehende Ereignisse erweitert. Auch bei der Geburt selbst steht weniger Jesus im Zentrum als seine Mutter und ihre fortwährende Jungfräulichkeit.

Die folgenden Ausführungen zu Inhalt und Theologie beziehen sich auf die überlieferte Endgestalt des Textes (einschließlich kleinerer Abweichungen in der Textüberlieferung), nicht auf mögliche Vorfassungen.

4.1. Marias Eltern Anna und Joachim, Empfängnis und Geburt Marias (ProtevJac 1-5)

Den größten Raum des Textes, so wie er in Papyrus Bodmer V und anderen Textzeugen erhalten ist, nimmt die Geschichte Marias ein. Diese beginnt bereits vor ihrer Geburt mit der Erzählung von Marias Eltern Anna und Joachim. Joachim wird als reich und freigebig beschrieben (ProtevJac 1,1), ebenso erscheint auch seine Frau Anna als untadelig in ihrem Verhalten (ProtevJac 2,3). Dennoch haben beide kein Kind und empfinden diese Situation leidvoll als Schande. Mit dieser Schilderung knüpft die Erzählung deutlich an das alttestamentliche Motiv des gerechten, aber unfruchtbaren Paares an. Stärker noch als das ähnliche Schicksal der Erzeltern → Abraham und → Sara (vgl. die direkte Erwähnung Abrahams in ProtevJac 1,3 und Saras in ProtevJac 2,4) sind die Anklänge an die Geschichte → Samuels und dessen Eltern → Hanna und → Elkana.

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So wie Hanna auf der Wallfahrt zum Heiligtum in → Silo ihre → Kinderlosigkeit als besonders schmerzhaft und herabwürdigend erfährt (1Sam 1), wird auch Joachim beim gemeinsamen Opfer der Stämme Israels im Tempel gekränkt und zurückgewiesen, weil er keine Nachkommen in Israel gezeugt habe (ProtevJac 1,2). Ist es im Fall von Hanna und Elkana die unfruchtbare Frau, die durch das demütigende Verhalten der anderen Frau ihres Mannes getroffen wird, so muss im Fall von Anna und Joachim der kinderlose Mann unter der Zurückweisung der anderen Männer Israels leiden. Später findet sich eine weitere deutliche Parallele zur Samuel-Geschichte darin, dass die Eltern das jeweils so sehnlich erbetene Kind ganz dem Dienst Gottes weihen (ProtevJac 4,1 und 1Sam 1,22) und es noch als Kleinkind in den Tempel (ProtevJac 7) bzw. in das Heiligtum in Silo (1Sam 1,24-28) in die Obhut der Priester geben.

Neben den deutlichen alttestamentlichen Anknüpfungen lassen sich im Fortgang des Textes aber auch Anspielungen auf Motive aus der paganen hellenistischen Literatur feststellen. So ähnelt die Szene, in der Anna im Garten ihre Klage anstimmt (ProtevJac 2,4), dem Lamento des Daphnis im Garten (Longus, Daphnis et Chloe IV, 28, 2-3). Auch andere antike Romane beschreiben vergleichbare Klagen (vgl. Toepel, 70). Parallelen zum Anfang von Annas Weherufen in ProtevJac 3,1 finden sich aber ebenso in der Verfluchung des Tages der Geburt durch Hiob (Hiob 3,3) oder Jeremia (Jer 15,10; 20,14-18).

Motive, wie es sie ähnlich auch in dem antiken Roman Leucippe et Clitophon des Achilles Tatius gibt, lassen sich später im Text, in ProtevJac 13-16 (s.u. 4.5.), feststellen (vgl. Hock, 26), als Marias Schwangerschaft entdeckt wird und sich sowohl Josef mit dem Vorwurf der unrechtmäßigen sexuellen Annäherungen konfrontiert sieht als auch Marias Reinheit und Unschuld in Frage steht und beide das Prüfwasser trinken müssen.

Als Reaktion auf Annas kunstvolles Klagelied (ProtevJac 3) erscheint in ProtevJac 4,1 ein Engel und verkündigt ihr, dass sie ein Kind empfangen und gebären wird, von dem auf der ganzen Welt gesprochen werden wird. Zugleich erhält Joachim, der sich für 40 Tage zum Fasten in die Wüste zurückgezogen hatte (ProtevJac 1,4), eine entsprechende Engelsbotschaft. Hier ist allerdings nicht im Futur, sondern im Perfekt davon die Rede, dass „Anna in ihrem Leib empfangen hat“ (ProtevJac 4,2; vgl. ähnlich auch 4,4). Deutet der Text hier also an, dass die Empfängnis der Maria ohne Beteiligung Joachims vorzustellen sei? Die Forschung ist diesbezüglich uneins (positiv votieren u. a. Klauck, 91f., Hock, 39; Schneider, 103; negativ u.a. Toepel, 79, und Pellegrini, 913). Zumindest bietet der Text aber Raum für entsprechende Spekulationen.

Wäre dem Text daran gelegen, eine derart außergewöhnliche Empfängnis der Maria zu betonen, könnte man allerdings eine deutlichere Darstellung erwarten. Joachim etwa äußert keinerlei Zweifel an seiner Vaterschaft (anders als Josef bei Maria) und auch Anna ist bereits vor der Empfängnis der Maria keine Jungfrau mehr. Dass in späteren Zeiten die unbefleckte Empfängnis (immaculata conceptio) Marias dogmatisiert wird (s.u. 5.2.), schließt ebenfalls nicht notwendig eine natürliche Empfängnis aus, sondern beschreibt nur, dass Maria vom Moment der Empfängnis an vom Makel der Erbsünde unbefleckt blieb.

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Nach nur sechs Monaten Schwangerschaft wird Maria im siebenten Monat geboren (ProtevJac 5,2) und somit bereits von Anfang an als ein besonderes Kind hervorgehoben (vgl. Toepel, 88).

4.2. Marias Reinheit während ihrer Kindheit im Elternhaus und im Tempel (ProtevJac 6,1-8,1)

Für das heranwachsende Kind gestaltet Anna das Schlafzimmer in ein Heiligtum um, in dem die Reinheit Marias gewahrt wird, sie nichts Unreines zu essen bekommt und nur die „unbefleckten Töchter der Hebräer“ mit ihr spielen dürfen (ProtevJac 6,1). Der erste Geburtstag des Kindes wird zu einem großen Festmahl, zu dem alle von Rang und Namen in Jerusalem eingeladen sind, insbesondere die Priester, die das Kind mehrfach segnen (ProtevJac 6,2). Daraufhin stimmt Anna einen Lobpreis an (ProtevJac 6,3), der in Ansätzen an das → Danklied der Hanna (1Sam 2) und auch an Gen 21,1.7 (Saras Schwangerschaft und die Geburt Isaaks) erinnert.

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Mit 3 Jahren kommt Maria in den Tempel (ProtevJac 7,2-3). Auf dem Weg dorthin wird ihre Reinheit ebenso sorgfältig bewahrt, wie zuvor im häuslichen Heiligtum: Die fackeltragenden unbefleckten Töchter der Hebräer (s.o.) säumen den Weg, bis Maria im Tempel vom Priester in Empfang genommen und auf die dritte Stufe des Altars gesetzt wird. Im Heiligtum selbst wird sie „aus der Hand eines Engels“ ernährt (ProtevJac 8,1; vgl. 1Kön 19,5-7) und vom ganzen Haus Israel geliebt (ProtevJac 7,3).

Ein Vergleich dieser Kindheitsschilderung mit antiken Biographien ist aufschlussreich. Wenn solche Biographien überhaupt Kindheitsdarstellungen enthalten, was im Übrigen eher selten der Fall ist, dann lassen diese im Kind bereits die besonderen Fähigkeiten der erwachsenen Person aufscheinen, beschreiben es als besonders klug, stark oder wunderwirkend (vgl. Wiedemann, 49-51). Von Maria erfahren wir diesbezüglich allerdings nur, dass sie bereits mit sechs Monaten ihre ersten sieben Schritte geht (ProtevJac 6,1). Denn Marias Besonderheit besteht nicht in erster Linie in dem, was sie Außergewöhnliches tut, sondern in ihrer hervorragenden Reinheit. Diese Reinheit macht sie zur herausgehobenen und einzigen geeigneten menschlichen Figur, um den Sohn Gottes zu gebären (vgl. Foskett, 203). Es entspricht durchaus den Konventionen antiker Biographien, dass die Darstellung dieser Reinheit daher bereits die Kindheitsdarstellung der Maria in entscheidender Weise dominiert, weil sich hier bereits vorgeprägt findet, was auch für die erwachsene Person von höchster Bedeutung sein wird.

4.3. Maria kommt in Josefs Obhut (ProtevJac 8,2-10,2)

Mit 12 Jahren kommt Maria in das Alter der eintretenden Geschlechtsreife. Das im Hinblick auf die Reinheit der Maria problematische Thema wird in ProtevJac 8,2 allein aus der Perspektive der Priester und deren Sorge um die Reinhaltung des Tempels aufgegriffen. Maria bleibt dagegen, abgesehen von ihren ersten sieben Schritten (ProtevJac 6,1) und ihrem Tanz auf den Altarstufen (ProtevJac 7,3), vorerst völlig inaktiv und reines Objekt der Handlung. Damit bleibt auch in der Schwebe, ob die Geschlechtsreife bei Maria tatsächlich eintritt (vgl. dazu ausführlich Vuong, 119-147).

Erstmals tritt hier in ProtevJac 8,2-3 Zacharias auf und zwar – anders als in Lk 1,5 – nicht als einfacher Priester, sondern offensichtlich in höherer Position, und sucht himmlische Weisung, was mit Maria geschehen soll. Seine Einfügung an dieser Stelle wirkt nachträglich, ähnlich wie auch die kurze Notiz am Ende von ProtevJac 10,2 „Und zu jener Zeit wurde Zacharias stumm …“.

Beide Stellen zeigen deutlich, dass der Text in seiner Endgestalt Rezipienten voraussetzt, die mit den kanonischen Geburtsgeschichten (hier konkret mit Lk 1,5-25.57-64) vertraut sind. Denn ohne dieses Hintergrundwissen bliebe der Satz über das Verstummen des Zacharias völlig unverständlich.

Nachdem der Priester (Zacharias) bezüglich des weiteren Umgangs mit Maria himmlische Weisung empfangen hat, werden die Witwer des Volkes versammelt, unter ihnen Josef. Mit Hilfe eines Stab-Orakels (vgl. Num 17,17-24) wird er als derjenige bestimmt, der Maria aufnehmen soll (ProtevJac 8,3-9,1). Während es in den → Kindheitsgeschichten bei Mt und Lk keinerlei Angaben dazu gibt, wie die Verlobung Josefs mit Maria zustande kommt, noch etwas über das Alter oder den Familienstand Josefs mitgeteilt wird, gestaltet das „Protevangelium des Jakobus“ diese Punkte der Handlung breit aus. Die Darstellung dient wiederum vor allem dazu, die fortwährende Reinheit Marias zu begründen (wobei nun besonders ihre bleibende Jungfräulichkeit fokussiert wird; vgl. Vuong, 147). Dabei werden auch Fragen geklärt, die die kanonischen Berichte offenlassen: So wird z.B. deutlich, dass die Geschwister Jesu, die in den kanonischen Texten mehrfach ohne weitere Erläuterungen erwähnt werden (vgl. z.B. Mk 3,31-32 par. Mt 12,46-47; Lk 8,20 oder Mk 6,3 par. Mt 13,55-56), nicht Marias leibliche Kinder sind, sondern aus Josefs erster Ehe stammen (vgl. ProtevJac 9,2). Weggelassen wird im „Protevangelium des Jakobus“ hingegen jeglicher Hinweis auf die davidische Abstammung Josefs (vgl. Mt 1,1-17 par. Lk 3,23-38). Dafür wird kurz darauf, in ProtevJac 10,1, die Herkunft Marias aus dem Geschlecht → Davids festgestellt, die für die Genealogie Jesu ja auch von größerer Bedeutung ist als jene Josefs, der gerade nicht als leiblicher Vater Jesu verstanden werden soll.

Nachdem Josef Maria in sein Haus genommen hat (ProtevJac 9,3), verschwindet er vorerst aus dem Fokus der Handlung (narrativ motiviert durch seine Abwesenheit auf fernliegenden Baustellen) und erscheint erst wieder, als Maria bereits schwanger ist (s.u. 4.5.). Maria bleibt währenddessen in Kontakt mit dem Tempel und wird ausgewählt, neben anderen Jungfrauen davidischer Abstammung an der Herstellung eines Tempelvorhangs zu arbeiten (ProtevJac 10). Sie bekommt die Farben Purpur und Scharlachrot zugewiesen.

Zervos vermutet hinter dem Scharlachrot einen Hinweis auf die einsetzende Menstruation Marias (s. dazu oben 4.3.) im ursprünglichen Text, der durch weitere Überarbeitungsschichten aber weitgehend unkenntlich geworden ist (vgl. Zervos, 159). Auffällig ist auf jeden Fall, dass im Folgenden in unmotivierter Weise wechselnd von der einen oder der anderen Farbe die Rede ist, wobei Purpur als königliche Farbe ein Hinweis auf das königliche Kind sein könnte (ebd.).

4.4. Die Verkündigung und Marias Besuch bei Elisabet (ProtevJac 11-12)

Die folgenden Begebenheiten laufen inhaltlich in wesentlichen Zügen parallel zu dem in Lk 1,26-56 Geschilderten, zeigen zugleich aber auch signifikante Änderungen und einige Ungereimtheiten.

So spielt die ganze Handlung nicht in → Nazaret. Josefs Haus ist für das „Protevangelium des Jakobus“ offenbar ebenso wie das Haus von Anna und Joachim in Jerusalem verortet, denn alle Wege vom und zum Tempel scheinen kurz zu sein (auch der in ProtevJac 17 erzählte Aufbruch nach Betlehem [s. u. 4.6.] bestätigt diese Beobachtung, wenngleich die genauen Ortsverhältnisse letztlich undeutlich bleiben [s.o. 3.]). Des Weiteren verweist der namenlos bleibende Verkündigungsengel, der in ProtevJac 12,2 rückblickend dann doch → Gabriel genannt wird, Maria nicht auf die Schwangerschaft der Elisabet. Dennoch wird dieses Wissen bei den Rezipienten offenbar vorausgesetzt, denn warum Maria im Anschluss an die Verkündigungsszene die bislang im Text unerwähnt gebliebene Elisabet besuchen sollte (ProtevJac 12,2), lässt sich nur aus der Kenntnis von Lk 1,36 erschließen und ebenso, dass diese schwanger ist und mit wem. In die Engelsbotschaft eingefügt ist in ProtevJac 11,3 dagegen die Deutung des Namens Jesu aus Mt 1,21 („denn er wird sein Volk von ihren Sünden retten“). Sie stellt im Matthäusevangelium einen Teil der Engelsbotschaft an Josef dar und wird in ProtevJac 14,2 nochmals wortwörtlich – und dann tatsächlich auch an Josef gerichtet – wiederholt (s.u. 4.5.).

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Insgesamt ist die Verkündigungsszene im „Protevangelium des Jakobus“ mit der Arbeit Marias am Tempelvorhang verknüpft: Als der Engel ihr am Brunnen (vgl. z.B. auch Gen 16,7) erscheint, erschrickt Maria zuerst, geht zitternd ins Haus zurück und setzt sich erneut hin, um weiter den Purpur zu spinnen. Während Maria in der Kunstgeschichte in den meisten Verkündigungsdarstellungen mit einem Buch dargestellt ist, zeigt das in Abb. 5 abgebildete Mosaik aus Santa Maria Maggiore in Rom deutlich seine Abhängigkeit von der Schilderung im „Protevangelium des Jakobus“ und ist somit ein früher Beleg für die vielgestaltige Rezeption des Textes.

Nach der Verkündigungsszene liefert Maria ihre fertiggestellte Handarbeit im Tempel ab. Der Priester dort segnet sie mit Worten, die aus dem Magnifikat entlehnt sind und in Lk 1,48-49a von Maria selbst gesprochen werden. Auch wenn das „Protevangelium des Jakobus“ einen Schwerpunkt auf die Darstellung der Maria legt, bleibt sie selbst als Figur immer wieder ausgesprochen passiv (s. schon oben 4.3.).

Beim sich anschließenden Besuch Marias bei Elisabet wirft vor allem ProtevJac 12,3 Fragen auf. Hier wird das Alter Marias mit 16 Jahren angegeben. In die Obhut Josefs war sie mit 12 Jahren gegeben worden (vgl. ProtevJac 8,2-9,3). Nichts lässt jedoch erkennen, dass die anschließend in ProtevJac 10-12 erzählten Begebenheiten eine Zeitspanne von vier Jahren umfassen sollten. (Einige Textzeugen haben das Alter der Maria in ProtevJac 12,3 daher nach unten angepasst und das Problem somit vermieden.) Merkwürdig mutet auch die Reaktion Marias auf Elisabets lobpreisende Worte in ProtevJac 12,2 an, denn der Text betont ausdrücklich, dass Maria sich nicht mehr an die kurz zuvor geschilderte Verkündigung Gabriels erinnert. Vermutlich soll so das später folgende Urteil mit dem Prüfwasser (s.u. 4.5.) vorbereitet werden. Erzählerisch schlüssig wirkt dieses Vergessen Marias jedoch nicht.

4.5. Marias Schwangerschaft, Josefs Reaktion und die Anklage der Priester (ProtevJac 13-16)

In ProtevJac 13,1 kehrt Josef von seiner auswärtigen Arbeit zurück und findet Maria im sechsten Monat schwanger vor. Klagend fragt sich Josef, ob er wie → Adam von der Schlange hintergangen worden sei. Der Text zeigt hier deutlich den Einfluss frühjüdischer Traditionen, die in der Schlange zugleich den Verführer und Vater → Kains sehen (vgl. Bereschit Rabba 24,6; Pirqe de Rabbi Eliezer 21-22; Targum Ps-Jonathan zu Gen 4,1; slHen 31,6). Maria dagegen beteuert ihre Unschuld und betont erneut (s.o. ProtevJac 12,2 gegenüber Elisabet) ihr Unwissen, woher das Kind in ihr kommt (ProtevJac 13,3). Josef will sie daraufhin heimlich verlassen (vgl. ProtevJac 14,1 mit Mt 1,19) und erhält im Traum von einem Engel die aus Mt 1,20-21 bekannte Anweisung, bei Maria zu bleiben und das Kind Jesus zu nennen (ProtevJac 14,2; vgl. zur Namensfestlegung schon oben ProtevJac 11,3).

In ProtevJac 15 wird breit ausgestaltet, was in den kanonisch gewordenen Geburtsgeschichten im Matthäus- und Lukasevangelium fehlt, nämlich die Reaktion der jüdischen Umwelt auf Marias Schwangerschaft und auf Josefs scheinbar übergriffiges Verhalten. Beide werden im Tempel vor ein Gericht gestellt. Auf die förmliche Anklage durch den Hohenpriester im Tempel beschwört Maria ihre Reinheit: „So wahr Gott, der Herr, lebt, rein bin ich vor ihm“ (ProtevJac 15,3; vgl. auch Annas Schwur in ProtevJac 4,1 und außerdem 1Sam 1,26). Die ähnlich formulierte Eidformel Josefs ist darüber hinaus in einigen Textzeugen trinitarisch erweitert (vgl. Schneider, 122-123), was im Erzählverlauf freilich anachronistisch wirkt. Weder Maria noch Josef verweisen erstaunlicherweise auf den Inhalt der Engelbotschaften, die sie erhalten haben (vgl. zum ähnlichen Verhalten der Maria schon ProtevJac 12,2 und ProtevJac 13,3). Die sich anschließende Prüfung mit dem „Wasser des Beweises“, die vermutlich Num 5,11-31 aufgreift, (wo allerdings die Eifersucht eines Ehemannes das Verfahren in Gang setzt und nur die Frau der Prüfung unterzogen wird,) überstehen Maria und Josef unbeschadet. Das Fazit des Hohenpriesters: „Wenn der Herr, Gott, euer Vergehen nicht aufgedeckt hat, verurteile auch ich euch nicht“ (ProtevJac 16,3), erinnert an Joh 8,11. Josef kann Maria nach dieser bestandenen Prüfung wieder mit in sein Haus nehmen.

4.6. Der Weg nach Betlehem und die Geburt des Kindes (ProtevJac 17,1-19,2)

Der grobe Ablauf dieses Abschnitts mit dem von Kaiser → Augustus angeordneten Zensus, dem Weg nach Betlehem, der Geburt Jesu ohne ordentliche Herberge, dem Besuch der Sterndeuter und der Verfolgung des Kindes durch Herodes stellt eine Mischung der aus Lk 2 und Mt 2 bekannten Ereignisse dar. Dennoch bietet das „Protevangelium des Jakobus“ eine in vielem überraschend andere Ausgestaltung: Der weite Blick auf die ganze Welt, die sich laut Lk 2,1-3 in ihren Heimatorten registrieren lassen soll, ist in ProtevJac 17,1 vorerst auf die Bewohner Betlehems beschränkt. Nur für sie scheint die Aufforderung zu gelten (oder aus Sicht der Erzählung interessant zu sein). Josef macht sich offenbar von Jerusalem aus auf den Weg (s.o. 4.4.), wobei die Orts- und Entfernungsangaben vage bleiben. Deutlich ist aber, dass die schwangere Maria es nicht mehr bis Betlehem schafft (ProtevJac 17,3) und die Geburt deshalb in einer nahegelegenen Höhle stattfindet (ProtevJac 18,1; s.u. 5.3. zur Wirkungsgeschichte). Josef lässt Maria in der Obhut seiner Söhne zurück, die nur hier (und kurz bereits in ProtevJac 17,2) als Akteure überhaupt vorkommen (weiteres s.u. 4.10. zur Verfasserfiktion), und macht sich auf die Suche nach einer hebräischen Hebamme. Die Betonung auf „hebräisch“ stellt über Ex 1 eine Verbindung zur Mose-Geschichte her.

In ProtevJac 18,2-3 kommt schließlich doch noch die ganze Welt ins Spiel, aber völlig anders als in Lk 2,1. Denn Josef erlebt in einer Vision, wie vom Himmel bis auf die Erde plötzlich alles stillsteht und die ganze Schöpfung auf diese Weise die Bedeutsamkeit der Geburt Jesu betont. Dieser Abschnitt, in dem Josef plötzlich, aber einem Visionsbericht durchaus angemessen, zum Ich-Erzähler wird, fehlt in der Textfassung des Bodmer-Papyrus (s.o. 2.).

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Die Geburt selbst wird nicht berichtet, ist aber von mystisch anmutenden Zeichen umgeben, die sowohl an die Verklärungsgeschichte (Mk 9,7 parr. Mt 17,5; Lk 9,34-35) als auch an die Erscheinungen Gottes auf dem Sinai (Ex 19,16 u.ö.) erinnern: Eine finstere Wolke überschattet zuerst die Höhle, verzieht sich dann, und in einem großen Licht wird das Kind sichtbar, das sofort die Brust Marias sucht (ProtevJac 19,2). Der Hebamme fällt einzig die Funktion zu, dieses besondere Ereignis und den großen Tag zu preisen. Nicht die → Theophanie ist jedoch das Besondere und Außergewöhnliche, von dem die Hebamme zweimal als „Schauspiel“ (θέαμα / théama) spricht, sondern vielmehr: „Eine Jungfrau hat geboren, wozu ihre Natur doch nicht in der Lage ist“ (ProtevJac 19,3; vgl. Toepel, 215; Schneider, 130). Der Text bleibt somit auch in der Geburtsszene ganz auf Maria als seine Hauptperson bezogen, ohne dass ihr jedoch eine aktive Rolle beschieden wäre.

4.7. Salomes Zweifel an Marias Jungfräulichkeit (ProtevJac 19,3-20,4)

Dass Maria nicht nur bei der Empfängnis, sondern auch nach der Geburt jungfräulich unversehrt bleibt, beschreibt die sich anschließende Episode ProtevJac 19,3-20,4 in epischer Breite. Hier tritt mit → Salome eine neue Figur auf, die im Text nicht näher vorgestellt wird. Der Name ist vermutlich aus Mk 15,40 und Mk 16,1 entnommen, wo Salome zu den Frauen gehört, die der Kreuzigung aus der Ferne beiwohnen und am Ostermorgen zuerst zum Grab gehen. Im „Protevangelium des Jakobus“ kommt Salome ebenfalls die Rolle einer wichtigen Zeugin zu, jedoch erst, nachdem sie an den Worten der Hebamme gezweifelt und einen Beweis gefordert hat: „Wenn ich nicht …“ (ProtevJac 19,3). Anders als in Joh 20,25, wo der zweifelnde → Thomas mit einer fast identischen Formulierung einen Beweis für die Identität des auferstandenen Jesus mit dem gekreuzigten fordert, es in Joh 20,27-29 aber offenbleibt, ob Thomas seinen Finger tatsächlich in die Wunden Jesu legt, bereitet die Hebamme in ProtevJac 20,1 Maria für die von Salome geforderte Untersuchung vor und Salome überprüft die unverletzte Jungfräulichkeit Marias.

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Salomes anfänglicher Zweifel bleibt jedoch nicht ohne Folgen. Dass ihre Hand von Feuer verzehrt zu werden und abzufallen droht, ist die Strafe dafür, dass sie sich in unzulässiger Weise dem Göttlichen genähert hat (vgl. z.B. auch Lev 10,2). Als göttlich wird hier wiederum aber nicht das Kind, sondern Maria in ihrer bleibenden Jungfräulichkeit und Reinheit qualifiziert. Das Kind, dessen Name Jesus im Übrigen nur in ProtevJac 11,3 und ProtevJac 14,2 vorangekündigt wird, kommt erst danach kurz ins Spiel, als Salome es auf den Arm nimmt und dadurch geheilt wird (ProtevJac 20,4). Salome preist es als „König für Israel“ und leitet damit bereits zur nächsten Szene über, in der die Sterndeuter aus dem Osten kommen, um eben diesem König ihre Verehrung zu erweisen (ProtevJac 21,1).

4.8. Besuch der Weisen und Verfolgung durch Herodes (ProtevJac 21,1-22,2)

ProtevJac 21,1-4 schließt sich mit dem Auftreten der Sterndeuter und den Nachforschungen des Herodes insgesamt eng an Mt 2,1-12 an. Erst in ProtevJac 22,2 gibt es wieder eine signifikante Abweichung, denn um das Kind vor den Mordplänen des Herodes (vgl. ProtevJac 22,1 mit Mt 2,16) zu verbergen, wickelt Maria es in Windeln und legt es in eine „Ochsenkrippe“ (vgl. ProtevJac 22,2 mit Lk 2,7.12). Die Krippe dient also als Versteck und wird genauer als die eines Ochsen bezeichnet. Das „Protevangelium des Jakobus“ liefert damit vermutlich den frühesten Anhalt für die aus den Weihnachtstraditionen nicht mehr wegzudenkenden Ochs und Esel an der Krippe (zum Esel s. schon ProtevJac 17,2f.).

4.9. Das Schicksal des Johannes und seiner Eltern (ProtevJac 22,3-24,4)

In ProtevJac 22,3 werden Informationen aus #Lk 1# (Geburt des Johannes in zeitlicher Nähe zu Jesu Geburt) und Mt 2,16 kombiniert: Wenn die Mordpläne des Herodes alle Kinder unter zwei Jahren zum Ziel haben, dann muss auch das Kind Elisabets gefährdet sein, denn Maria und Elisabet treffen sich, als sie beide schwanger sind (vgl. die explizite Aussage in ProtevJac 12,3 gegenüber der reinen Rückkehrnotiz in Lk 1,56; vgl. auch Hock, 9). Dass es sich bei Elisabets Kind um Johannes, den späteren „Täufer“ handelt, setzt das „Protevangelium des Jakobus“ als vorhandenes Wissen voraus, denn sein Name begegnet in ProtevJac 22,3 erstmals ohne weitere Erläuterungen.

Während Elisabet und Johannes gerettet werden, indem sich im Gebirge in wundersamer Weise ein Berg auftut und sie in sich aufnimmt (ProtevJac 22,3), wendet sich Herodesʼ Verfolgung gegen Zacharias, seinen Vater, der Johannesʼ Aufenthaltsort preisgeben soll. Der in Mt 2,16 sehr allgemein gehaltene Befehl zur Tötung der Kinder wird im Schlussteil des „Protevangeliums des Jakobus“ zur gezielten Verfolgung des Johannes und seiner Familie ausgestaltet und zum eigenen Erzählschwerpunkt. Die ausführliche Schilderung von der gewaltsamen Tötung des Zacharias im Vorraum des Tempels (ProtevJac 23,3) greift vermutlich Mt 23,35 auf, wo aber tatsächlich auf das Schicksal eines anderen Zacharias angespielt wird (vgl. 2Chr 24,20-21). Im Folgenden rekurriert der Text dann stärker auf Motive aus Lk 1-2: Die Priester warten, weil Zacharias nicht herauskommt (Lk 1,21). Sein Blut wird beim Altar entdeckt, sein Leichnam aber nicht gefunden. Nach drei Tagen Trauer wird → Simeon (offensichtlich eine Anlehnung an Lk 2,25-26) zum Nachfolger von Zacharias gewählt. Damit endet die Erzählung. Zur Begegnung Simeons mit dem neugeborenen Jesus, wie sie Lk 2,27-35 beschreibt (ohne dass Simeon hier Priester wäre), kommt es nicht.

4.10. Epilog (ProtevJac 25)

Am Schluss bietet ProtevJac 25,1 eine klare Autorangabe: „Ich, Jakobus, der ich diese Geschichte aufgeschrieben habe, begab mich wegen des Aufruhrs in Jerusalem, der entstand, als Herodes starb, in die Wüste, bis der Aufruhr in Jerusalem endete. Und ich pries den Herrn, Gott, der mir die Weisheit gegeben hat, diese Geschichte zu schreiben.“ Vom Gang der Handlung her ist offenbar der Tod Herodes’ des Großen im Jahr 4 v. Chr. gemeint. Der Text wäre somit in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Ereignissen in der judäischen Wüste (vgl. Hock, 77) geschrieben worden, und zwar vom Herrenbruder Jakobus als einem Augenzeugen der Geschehnisse. Dies ist aber zweifellos als literarische Fiktion zu werten, die der Authentifizierung des Textes dient.

Als Augenzeuge wird Jakobus im Text im Übrigen kaum profiliert, obwohl es dafür Ansatzpunkte gegeben hätte: In ProtevJac 9,2 wird zuerst nur ganz allgemein erwähnt, dass Josef bereits Söhne hat, ohne Namen zu nennen oder sie weiter in die Handlung einzubeziehen. Ob sie noch im Haus Josefs leben, wie es z.B. in der apokryphen „Geschichte von Josef, dem Zimmermann“ konkret von dem „Kleinkind Jakobus“ gesagt wird (HistJos 4,4), bleibt offen. Bei dem durch die Volkszählung veranlassten Aufbruch (ProtevJac 17,1) wird dann zuerst ein Sohn erwähnt, der den Esel führt, auf dem Maria reitet (ProtevJac 17,2). In ProtevJac 18,1 sind es schließlich mehrere Söhne, die Josef, noch kurz vor der Geburt Jesu, bei Maria in der Höhle stehenlässt, um eine Hebamme zu suchen. Dort werden sie im Fortgang der Erzählung dann auch buchstäblich stehengelassen, denn in der folgenden Handlung spielen sie keine Rolle mehr.

5. Wirkungen des Textes

5.1. Unterschiedliche Verbreitung des Textes in der West- und Ostkirche

Im Westen des Römischen Reiches fand das „Protevangelium des Jakobus“ anfangs keine positive Aufnahme. Die römische Kirche bekämpfte seine Verbreitung zusammen mit verschiedenen anderen apokryphen Büchern unter anderem im sogenannten Decretum Gelasianum, das in einer Überlieferung aus dem 6. Jahrhundert vorliegt, in einzelnen Teilen vermutlich aber bereits bis ins 4. Jahrhundert n. Chr. zurückreicht. Unter den Büchern, die zu meiden seien, befindet sich sowohl ein „Evangelium unter dem Namen des Jakobus des Jüngeren“ als auch ein „Buch über die Geburt des Erlösers und über Maria oder die Hebamme“ (vgl. Markschies, 133-137). Hinter dem ersten Titel verbirgt sich vermutlich das „Protevangelium des Jakobus“, während der zweite Titel ein verwandtes Werk meint (vgl. Pellegrini, 909).

Gegenüber dieser Ablehnung, die das Protevangelium im Westen erfuhr, erfreute es sich im Osten großer Beliebtheit, wie sich in der breiten handschriftlichen Überlieferung zeigt und in verschiedenen Hinweisen auf den Text bei den Kirchenvätern. Auch im Westen wird der Stoff aber vor allem in Gestalt lateinischer Überarbeitungen verbreitet. Von größerem Einfluss sind hier das sog. → „Pseudo-Matthäusevangelium“ (vermutlich aus dem 8. Jh.) und das „Buch über die Geburt der heiligen Maria“ (Liber de nativitate sanctae Mariae).

In den mittelalterlichen Handschriften folgt diesen Texten oft die lateinische Bearbeitung der ebenfalls apokryphen Kindheitsgeschichten Jesu (→ Kindheitsevangelium nach Thomas). Da die Stoffe chronologisch aufeinander folgen, ist nicht immer deutlich, ob es sich dabei um verschiedene Schriften oder Teile der gleichen Schrift handelt. So bietet die einflussreiche Edition des Pseudo-Matthäusevangeliums durch K. von Tischendorf einen zweigeteilten Text, der im ersten Teil eine lateinische Überarbeitung des Protevangeliums enthält und in der pars altera Kindheitsgeschichten Jesu und der lange Zeit in diesem Umfang als Pseudo-Matthäus rezipiert wurde. Die neuere Forschung trennt die Teile dagegen als ursprünglich nicht zusammengehörig (vgl. Gijsel, 39f.). Allerdings gibt es auch innerhalb der griechischen Textüberlieferung bei manchen Textzeugen Indizien dafür, dass eine Zusammenstellung der Geburts- und Kindheitsgeschichten Marias und Jesu durchaus intendiert war (vgl. Kaiser, 941f.).

Besondere Wirkung zeigt aber die Aufnahme von Stoffen aus dem „Protevangelium des Jakobus“ und seinen Folgewerken in der Legenda aurea des Jakobus de Voragine aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, einem Werk, das als Volksbuch über lange Zeit weite Verbreitung fand. In der bildenden Kunst dagegen (s.u. 5.3.) lässt sich noch viel früher – etwa in den Bildzyklen der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom (s.o. Abb. 5) – die Bekanntheit und Beliebtheit von Inhalten des „Protevangeliums des Jakobus“ auch im Westen belegen.

5.2. Marienverehrung

Im Zentrum des „Protevangeliums des Jakobus“ steht deutlich die Figur der Maria. Auch die Schilderung der Geburt Jesu geschieht auf sie bezogen und thematisiert vor allem ihre bleibende Jungfräulichkeit. Entsprechend spielte der Text eine große Rolle in der Entwicklung der Marienverehrung und Marienfrömmigkeit und ist selbst ein Ausdruck dieser Entwicklung. Wichtige dogmengeschichtliche Entscheidungen, die sicherlich einen Einfluss auf die Verbreitung des Textes hatten, fallen auf dem Konzil von Ephesus im Jahr 431, das Maria das Prädikat der Gottesgebärerin (theotokos) zuerkennt, und auf dem 2. Konzil von Konstantinopel 553, das die immerwährende Jungfräulichkeit Marias festhält. Bereits seit dem frühen Mittelalter ist ein Fest der unbefleckten Empfängnis Marias durch Anna zumindest in der Ostkirche nachzuweisen (zu den besonderen Umständen dieser Empfängnis in ProtevJac 4,2 und ProtevJac 4,4 s.o. 4.1.). Im Westen blieb die Frage, ob Maria von ihrer Empfängnis im Leib der Anna an von der Erbsünde frei war oder in einem besonderen Akt der Heiligung von ihr gereinigt wurde, dagegen lange Zeit unentschieden. Erst 1854 dogmatisierte die römisch-katholische Kirche die unbefleckte Empfängnis Mariens (immaculata conceptio).

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Die zunehmende Marienverehrung zeigte auch deutliche Auswirkungen auf die Verehrung der Mutter der Gottesgebärerin, auf Anna. Seit dem Mittelalter wird Anna im Westen als Heilige verehrt. Im Osten jedoch lässt sich ihre Verehrung bereits ab dem 6. Jh. greifen (vgl. Zender, 753; s. auch Abb. 7). In dieser Zeit entwickelte sich unter anderem das Fest Mariä Geburt, das bis heute in der katholischen und anglikanischen Kirche und in den orthodoxen Kirchen am 8. September begangen wird. Im Mittelalter nimmt mit der Marienverehrung auch die Annenverehrung deutlich zu und zeigt sich nicht nur im theologischen Denken, in Schriften und Liturgie, sondern auch in der Kunst (s.u. 5.3.).

5.3. Motive aus dem „Protevangelium des Jakobus“ in der bildenden Kunst

Einige Motive in der bildenden Kunst – insbesondere im Zusammenhang mit der Mariendarstellung – sind allein aus den kanonischen Evangelien und ohne Kenntnis des „Protevangeliums des Jakobus“ (bzw. der Einarbeitung seiner Stoffe in spätere Texte) nicht denkbar. Dazu gehört unter anderem die Lokalisierung der Geburt Jesu in einer Höhle (ProtevJac 18-19), von der in den kanonischen Texten nicht die Rede ist. Ähnliches gilt auch für Ochs und Esel, die trotz ihrer Nichterwähnung im Lukas- und Matthäusevangelium bei kaum einer Geburtsdarstellung fehlen. Beide Tiere sind im „Protevangelium des Jakobus“ noch eher beiläufig erwähnt (der Esel als Marias Reittier in ProtevJac 17,2-3 und der Ochse nur in Form der Ochsenkrippe in ProtevJac 22,2), werden in der Weiterverarbeitung des Stoffes im Pseudo-Matthäusevangelium (s.o. 5.1.) dann aber ausdrücklich an der Krippe platziert und beten das Kind mit gebeugten Knien an (vgl. PsMt 14,1).

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Insgesamt bedienen sich sämtliche Darstellungen des Marienlebens angesichts knapper Informationen in den kanonischen Evangelien gern der ausführlicheren Schilderungen des Protevangeliums. Dazu gehören Szenen aus der Vorgeschichte Marias, die Anna und Joachim abbilden (s o. Abb. 2), Marias Geburt (s.o. Abb. 3), ihr Gang zum Tempel (s.o. Abb. 4) oder das Staborakel Josefs, aber auch die weitere Ausschmückung von kanonisch berichteten Ereignissen, wie der Geburt Jesu (s.o. Abb. 6 und 8) oder der Verkündigung an Maria (s.o. Abb. 5). Nicht direkt an eine Geschichte aus dem Protevangelium, aber an die wichtigen Figuren im Text knüpfen die besonders im Mittelalter weit verbreiteten Anna-Selbdritt-Darstellungen an (Anna mit Maria und dem Jesuskind; s. Abb. 9).

Literaturverzeichnis

1. Textausgaben und Übersetzungen

  • Fabricius, J. A., Codex apocryphus Novi Testamenti, Hamburg 1703, Bd. 1, 39-126
  • Gijsel, J., Libri de nativitate Mariae. Pseudo-Matthaei Evangelium. Textus et commentarius (CCSA 9), Turnhout 1997
  • Hock, R. F., The Infancy Gospels of James and Thomas: With Introduction, Notes, and Original Text Featuring the New Scholars Version Translation, Santa Rosa, CA 1995, 1-81
  • Pellegrini, S., Das Protevangelium des Jakobus, in: C. Markschies / J. Schröter (Hgg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Band: Evangelien und Verwandtes. Teilband 2, Tübingen 2012, 903-929
  • Schneider, G., Evangelia infantiae apocrypha. Apokryphe Kindheitsevangelien (FC 18), Freiburg i. Br. 1995
  • Strycker, É. de, La forme la plus ancienne du Protévangile de Jacques. Recherches sur le Papyrus Bodmer 5 avec une édition critique du texte grec et une traduction annotée. En appendice les versions arméniennes traduites en latin par H. Quecke (SHG 33), Brüssel 1961
  • Testuz, M., Papyrus Bodmer V. Nativité de Marie (BBod), Köln/Genf 1958
  • Zervos, G. T., The Protevangelium of James. Greek Text, English Translation, Critical Introduction: Volume 1 (Jewish and Christian Texts in Contexts and Related Studies 17), London 2019

2. Weitere Literatur

  • Foskett, M. F., The Child Mary In the Protevangelium of James, in: L. M. McDonald / J. H. Charlesworth (Hgg.), “Non-Canonical” Religious Texts In Early Judaism and Early Christianity (Jewish and Christian Texts In Context and Related Studies 14), London 2012, 195-204
  • Kaiser, U. U., Die Kindheitserzählung des Thomas. Einleitung, in: C. Markschies / J. Schröter (Hgg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Band: Evangelien und Verwandtes. Teilband 2, Tübingen 2012, 930-942
  • Klauck, H.-J., Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, Stuttgart 22005
  • McLachlan Wilson, R., Art. Apokryphen II. Apokryphen des Neuen Testaments, in: TRE 3 (1978) 316-362 (333-334 zu ProtevJac)
  • Markschies, C., Haupteinleitung, in: C. Markschies / J. Schröter (Hgg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, I. Band: Evangelien und Verwandtes. Teilband 1, Tübingen 2012, 1-180
  • Toepel, A., Das Protevangelium des Jakobus. Ein Beitrag zur neueren Diskussion um Herkunft, Auslegung und theologische Einordnung (FTS 71), München 2014
  • Vuong, L. C., Gender and Purity in the Protevangelium of James (WUNT II/358), Tübingen 2013
  • Wiedemann, T. E., Adults and Children in the Roman Empire, London 1989
  • Zender, M., Art. Anna, Heilige, in: TRE 2 (1978) 752-755

Abbildungsverzeichnis

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