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Chronistisches Geschichtswerk (ChrG)

(erstellt: April 2007)

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1. Die These

Seit Zunz (1832) war die Forschung der Meinung, dass die beiden Bücher der → Chronik und die beiden Schriften → Esra und Nehemia ein gemeinsames literarisches Korpus darstellen, dessen Autor „der Chronist“ genannt wurde. Später spricht man vom „chronistischen Werk“ (von Rad, 1930) bzw. vom „chronistischen Geschichtswerk“ (Noth, 1943, in Analogie zum „deuteronomistischen Geschichtswerk“). Die These gründet sich auf auffällige Gemeinsamkeiten in Theologie und Sprache zwischen der Chronik und Esr/Neh, denen aber auf der anderen Seite auch Unterschiede gegenüber stehen.

2. Gemeinsamkeiten zwischen Chronik und Esra / Nehemia

An Gemeinsamkeiten werden im Wesentlichen folgende Punkte angeführt, die jedoch kritisch zu prüfen sind.

(1) Das Ende der Chronik in 2Chr 36,22-23 hat eine Dublette in Esr 1,1-2. Die Chronik endet mit der Ansage der Herrschaft des Perserkönigs → Kyros II. (559-530 v. Chr.) zum Wohl des Tempels in Jerusalem und der Bevölkerung, während für das Esra(-Nehemia)-Buch seine Regierungszeit den Anfangspunkt der Darstellung bildet (Esr 1,1-2; vgl. auch das sog. Kyrosedikt in Esr 1,3; Esr 6,3-5, das die Wiederaufrichtung des Jerusalemer Tempels und seine Wiederinstandsetzung und Benutzung zum Inhalt hat; die Historizität des Erlasses ist umstritten). Die Erwähnung des Perserkönigs hat also unterschiedliche Funktionen in der jeweiligen Geschichtsschreibung.

(2) Sowohl in der Chronik als auch in Esr/Neh spielen → Leviten eine bedeutende Rolle. Dies bezieht sich aber allein auf den statistischen Befund, nicht jedoch auf die Darstellung der Leviten und des Kultpersonals im Einzelnen (s.u.). So zeigt sich, dass in Esr/Neh die Leviten dem hierarchischen priesterschriftlichen bzw. priesterlichen System entsprechend dargestellt werden, während sie in der Chronik umfangreichere Funktionen wahrnehmen und nicht strikt den Priestern untergeben sind.

(3) Sowohl in Esra/Nehemia als auch in der Chronik wird von Festen erzählt, und zwar an Schnittstellen der Geschichtsdarstellung. Während diese Festnotizen in der Theologie der Chronik fest verankert sind, stellen sie in Esra/Nehemia eine Randerscheinung dar (vgl. Esr 3,8b-11.12b; Esr 6,19-22; Neh 12,27-43), die im übrigen Text keinen Rückhalt hat.

3. Differenzen zwischen Chronik und Esra / Nehemia

Den Gemeinsamkeiten stehen Differenzen gegenüber.

(1) Es gibt sprachliche Unterschiede, die in der Forschung in mehreren Studien untersucht worden sind (Japhet, 1968; Japhet, 1991; Braun, 1979; Williamson, 1977, 37-70; siehe auch Sæbø, 1981, 80-83; Knoppers, 2003, 73-89).

(2) Theologische Differenzen betreffen vor allem die Darstellung und Bedeutung des Tempels (vgl. Williamson, 2004b, 160). In Esr/Neh hat der Tempel nicht die zentrale Stellung inne, die ihm in der Chronik zukommt.

(3) Ferner ist auf Differenzen im Gesellschaftsporträt der Werke zu verweisen. In Esr/Neh sind die Ältesten und Vornehmen (חרים chorîm; z.B. Neh 2,16) einflussreich, in der Chronik dagegen bedeutungslos. Umgekehrt treten in der Chronik mehrfach Propheten auf, deren Botschaft und Handeln in den Geschichtsentwurf einbezogen sind, während sie in Esr/Neh keine Funktion haben (vgl. Willi, 1972, 216; Schniedewind, 1995, 250).

(4) Differenzen sind auch in der Aufgliederung des Kultpersonals zu finden. In Esr/Neh werden die Leviten wie das Kultpersonal entsprechend dem hierarchischen priesterschriftlichen bzw. priesterlichen System dargestellt. Als niederer Klerus sind sie den Priestern als höherem Klerus strikt untergeben. Die weiteren in der Chronik erwähnten umfangreichen Funktionen der Leviten sind in Esr/Neh nicht zu finden. Ferner werden sowohl die Sänger / Musiker als auch die Torhüter durchgehend als eigenständige Gruppe betrachtet (vgl. Esr 2,40-43; Esr 2,70; Esr 7,7; Esr 7,24; Neh 7,1; Neh 7,43-46; Neh 7,72; Neh 10,29; Neh 12,44-47; s.a. Neh 12,22-26; Neh 13,5), während sie später in der Chronik zu den Leviten gezählt werden. Ferner treten in Esr/Neh mehrfach Tempeldiener bzw. Tempelsklaven als unterste soziale Gruppie­rung der Tempel­bediensteten auf (Esr 2,40-43; Esr 2,70; Esr 7,7; Esr 7,24; Esr 8,20; Neh 3,26; Neh 7,43-46; Neh 7,72; Neh 10,29; Neh 11,21; s. auch davon abhängig in der LXX hierodouloi „Tempeldiener“ in 1Esdr 5,29; 5,35; 8,48; vgl. Josephus, Antiquitates 11,70; Text gr. und lat. Autoren), während die Chronik sie nur in 1Chr 9,2 erwähnt, was sich aber als redaktionelle Angleichung erklären lässt (s.u.).

(5) Ferner sind Modifikationen in der erzählten Geographie auszumachen: Dies betrifft vor allem die Lage des Ophels, den die Chronik als „das Tempel und Palast umfassende nördliche Viertel der Stadt“ (Welten, 1973, 46) betrachtet (vgl. 2Chr 27,3; 2Chr 33,14), während in Esr/Neh mit dem Begriff der Südabhang des Tempelberges gemeint ist (Neh 3,26-27; Neh 11,21).

(6) Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die ethnische Identität unterschiedlich gewichtet wird. In der Chronik findet sich ein relativ offenes und integratives Konzept, das Fremde auch genealogisch in das Volk einbindet und damit die Grenzen Judas überschreitet (vgl. Labahn / Ben Zvi, 2003). Demgegenüber sind Esr/Neh binnenorientiert und auf Abgrenzung gegenüber Andersstämmigen bedacht (vgl. die in Neh 13 verhandelte Mischehenproblematik). Die Identität Judas und seiner Bewohner wird vor allem in der sog. Nehemia-Denkschrift in den Terminus היהודים (hajjəhûdîm „die Juden“) gefasst (vgl. Karrer, 2001, 147-161; Schweitzer, 2003, 144f.148-151), der in der Chronik nicht begegnet.

Betrachtet man die Gemeinsamkeiten zwischen der Chronik und Esr/Neh genauer, so stehen die Differenzen in thematischen, theologischen und soziologischen Unterschieden der Schriften der Annahme eines gemeinsamen Ursprungs der Korpora im Wege. Die beiden Werke sind im Detail besehen zu unterschiedlich, als dass man einen gemeinsamen Ursprung oder Verfasser bzw. Verfasserkreis annehmen kann. Diese Differenzen, die Auswirkungen auf die unterschiedlichen Geschichtsentwürfe haben, weisen auf einen abweichenden historischen und soziologischen Hintergrund, der gegen die Annahme spricht, dass beide Schriften gemeinsam entstanden sind.

4. Gemeinsamkeiten als redaktionelle Angleichung

Die Gemeinsamkeiten sind demgegenüber auf einen sekundären Prozess der literarischen Aneinanderreihung und Verbindung der beiden Schriften zurückzuführen. In einem späten Überlieferungsstadium wurden die zunächst selbstständig entstandenen und tradierten Schriften Chronik und Esr/Neh miteinander verbunden. Dabei wurden an wenigen Stellen dezente Angleichungen an die jeweils andere Schrift vorgenommen. Auf dieser nach-chronistischen redaktionsgeschichtlichen Endstufe wuchs einerseits 2Chr 36,22-23 als Duplikat von Esr 1,1-2 hinzu. Andererseits wurden in die Chronik Verknüpfungen mit Inhalten aus Esr/Neh eingearbeitet, zu denen etwa die Hinweise auf das Exil (vgl. vor allem 1Chr 9,1; 2Chr 36,20) sowie die Erwähnung der Tempelsklaven (הנתינים hannətînîm; 1Chr 9,2) zählen, die in der Chronik ansonsten nicht weiter begegnen. Diese nach-chronistische redaktionelle Zusammenfügung hat ebenso in Esr/Neh ihre Spuren hinterlassen. Hier sind die Festnotizen über die Feier des → Passa- und Mazzotfestes (Esr 6,19-22), über die Festfreude angesichts des Tempelneubaus (Esr 3,8b-11.12b) und anlässlich der Feier zur Einweihung der Stadtmauer (Neh 12,27-43) hinzugewachsen. In diesen nach-chronistischen Ergänzungen sind chronistische Deutungen in Esr/Neh eingetragen worden, die zentrale Inhalte der Chronik nunmehr auch auf Esr/Neh applizieren, mit denen die in Esr/Neh berichteten kultischen Reformen neu bewertet werden. Ferner wurde in diesem Prozess auch die Rolle der Leviten in Esr/Neh entsprechend der Chronik neu gestaltet.

So hat in letzter Zeit aus guten Gründen die Überzeugung Boden gewonnen, die die These eines sog. Chronistischen Geschichtswerks ablehnt (vgl. z.B. Japhet, 1968; Willi, 1972, 182-184.216; Williamson, 1977, 37-70; Braun, 1979; Kleinig, 1992; Sæbø, 1981, 80-83; Schniedewind, 1995, 249f; 22; Jones, 1999, 13f; Schaper, 2000, 58 u.ö.; Karrer, 2001, 49-57; Knoppers, 2003, 89; Levin, 2003, 240f.244; Min, 2004, 6-22). Dennoch halten sich Stimmen, die nach wie vor von einem Chronistischen Geschichtswerk ausgehen (vgl. älteren Datums: von Rad, 1971, 249; Curtis / Madsen, 1994/1910, 2-5; neueren Datums: Blenkinsopp, 1988, 47-54; Pohlmann, 1991, 145-148; Kratz, 1995, 281-282 u.ö.; Kratz, 2000, 92-98; Tuell, 2001, 8-11; Schmitt, 2005, 268-274), wobei sie mit unterschiedlichen Stadien einer gemeinsamen literarischen Tradierung rechnen. Dass es eine gemeinsame Tradierung gegeben hat, ist aufgrund der Gemeinsamkeiten wahrscheinlich, doch gilt diese Gemeinsamkeit nicht für die Anfänge der Entstehung der beiden Schriften.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992

2. Weitere Literatur

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  • Zunz, L., 1832, Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden historisch entwickelt, Berlin (Nachdruck: Hildesheim 1966)

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