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(erstellt: Dezember 2013)

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1. Grundsätzliches

Dieser Artikel thematisiert Riten bzw. Rituale in der Hebräischen Bibel, die Menschen aufgrund von Reue bzw. als Ausdruck innerer Umkehr zum Zweck der Buße durchführen. Folgende Definitionen werden hier vorausgesetzt: Riten bzw. Rituale unterscheiden sich von sonstiger sozialer Interaktion durch feststehende und charakteristische Handlungssequenzen mit hohem Symbolgehalt, die von bestimmten stereotypen Wortformeln begleitet sein können. In der Hebräischen Bibel begegnen Riten und Rituale in religiösen und säkularen Kontexten. Buße als konkreter, äußerlich erkennbarer Akt der → Umkehr / Reue (Wurzeln שׁוב šwb qal „wenden / zurück-, umkehren / sich bekehren“ und נחם nḥm nif. „bereuen / sich etwas leid sein lassen“; → Septuaginta: ἀναστρέφω „um-, zurückkehren“; ἀποστρέφω „ab-, umkehren“) bezeichnet vorwiegend einen aus der Bewusstwerdung einer gestörten Gottesbeziehung resultierenden Vorgang, der im weiteren Sinne eine Zuwendung zu Gott impliziert und in der Regel die Änderung der Lebensführung initiiert, um Gottes → Segen zu erwirken (1Kön 8,33-34). Gottes → Gnade und Güte sind Voraussetzung für Buße (Jer 3,12; Hos 3,5; Jo 2,13).

Zu beachten ist erstens, dass sich in der Hebräischen Bibel noch kein Terminus technicus für Buße herausgebildet hat; das Substantiv תְּשׁוּבָה təšûvāh „Umkehr“ findet sich nur im nachbiblischen und rabbinischen Schrifttum (Jacobs, 439). Auch das Verbum שׁוב šwb qal begegnet weitgehend erst in der deuteronomistischen und chronistischen Literatur (exilisch / nachexilisch; → Deuteronomismus; → Chronistisches Geschichtswerk) mit der spezifisch theologischen Bedeutung „umkehren / Buße tun“; es umfasst dabei u.U. eine konkrete physische Hinwendung zum Tempel in der individuellen oder kollektiven Gebetspraxis (z.B. 1Kön 8,22-53; Welten, 434-438). Schließlich bezeichnet der Begriff „(be)reuen“ (Wurzel נחם nḥm nif.; Septuaginta: μεταμελέομαι / μεταμέλομαι; μετανοέω) primär einen Gesinnungswandel Gottes den Menschen gegenüber (Jeremias, 99f.). Insofern sich solche Reue nicht in Bußritualen manifestiert, wird dieser Aspekt im Folgenden nicht berücksichtigt.

2. Bußriten in der Hebräischen Bibel

In der Hebräischen Bibel werden private und öffentliche sowie unkultische und kultische Bußriten erwähnt; allerdings sind diese Kategorien nicht stets eindeutig voneinander abgrenzbar. Viele dieser Praktiken kommen auch in der Totenklage vor und gehören zu den sog. Selbstminderungsriten (Kutsch; → Trauer).

a) Bußpsalmen (Ps 6; Ps 32; Ps 38; Ps 51; Ps 102; Ps 130; Ps 143) bringen u.a. zum Ausdruck, dass Voraussetzung von Vergebung ein Schuldbekenntnis bzw. eine demütige innere Einstellung ist. Auch das Volksklagelied in Bar 1,15–3,8 ist ein Bußpsalm, in dem die im Exil lebenden Menschen Gott u.a. bitten, ihr Schicksal zu wenden. Im öffentlichen Rahmen konnten ferner kollektive Bußliturgien verwendet werden (Jes 63,7-64,11; Jer 14,7-9; Jer 19-22; Dan 9). Vermutlich wurden solche Bußpsalmen und Liturgien bei der Darbringung bestimmter kultischer Opfer am Tempel gesungen und gebetet (Brueggemann, 667; siehe dazu auch im Folgenden).

b) Fasten (meist צום ṣwm; → Fasten) bringt allgemein Selbstdemütigung und Unterwerfung zum Ausdruck; es kann bei Kriegsgefahr oder Naturkatastrophen auch öffentlich angeordnet werden (Jo 1,14; Jo 2,12.15; Jon 3,5; zum Ablauf solcher öffentlichen Feiern siehe Neh 9; 2Chr 20). Regelmäßige Fastentage begegnen erstmals in Sach 7,1-3; Sach 8,19. Als Bestandteil des nachexilischen Großen Sühnetages (→ Jom Kippur) bringen kollektive Fastenriten Israels Bußwillen zum Ausdruck (Lev 16,29.31; Lev 23,27.29; Num 29,7). Die Tatsache, dass Fasten und andere Bußriten manchmal ohne die gebotene innere Einstellung durchgeführt wurden, konnte gelegentlich kritisiert werden (Jes 58,3-12).

c) Das Raufen, Abschneiden oder Verhüllen des Bartes (זָקָן zāqān; → Bart) war eine charakteristische Handlung, um Buße oder Trauer sinnfällig zu machen (Jes 15,2; Jer 41,5; Ez 24,17). Diese Praxis ist darin begründet, dass der Bart in Israel – anders als etwa in Ägypten – als männliches Statussymbol galt und deshalb in der Regel lang getragen, kunstvoll geflochtenen und mit Öl gepflegt wurde (Ps 133,2; siehe dazu später noch Babylonischer Talmud, Traktat Schabbat 152a; Text Talmud). Wer jemandem den Bart abschnitt oder ausriss, schändete ihn (2Sam 10,4f.; Jes 50,6; Seow, 651-653). Das Scheren (Jes 22,12; Hi 1,20) sowie das Ausraufen des Haupthaares (Esr 9,3) drückten ebenfalls Buße oder Trauer aus.

d) Auch Kleidung (→ Kleidung) gehörte zu den Statussymbolen, speziell prachtvolle Obergewänder (Ez 23,12; Ez 38,4). Das Ablegen oder Zerreißen von Kleidern (Gen 37,29; 2Sam 3,31; 1Kön 21,27-29; Hi 1,20) war deshalb ein von anderen nicht zu verkennender Gestus der Selbstminderung und wurde aufgrund von Buße oder Trauer vorgenommen. Dem entspricht das Anlegen von Säcken (2Sam 3,31; 2Kön 19,1; Jes 22,12; Jer 48,37; → Kleidung), da diese im Gegensatz zu feinen Gewändern aus geringwertigem, grobem Tuch hergestellt wurden. Das Tragen von Säcken wird häufig in Verbindung mit dem Streuen von Asche oder Erde auf das eigene Haupt erwähnt (Jon 3,5-10; Dan 9,3; Neh 9,1).

f) Das Streuen von Asche (אֵפֶר ’efær) bzw. Erde (אֲדָמָה ’ădāmāh) auf das eigene Haupt (1Sam 4,12; 2Sam 13,19; Est 4,1), das Sich-Wälzen in Asche bzw. → Staub (עָפָר ‘āfār; Jer 6,26) oder das Schlafen auf dem Boden (2Sam 12,16) bzw. im Staub (Jes 58,5) machten auf andere Weise Selbstminderung sinnfällig. Da Reinlichkeit Ausdruck von sozialem Status war, vermittelte der bewusste Kontakt mit Asche und Erde Statusverzicht. Außerdem konnten Trauer- bzw. Bußriten sinnbildlich eine Annäherung an den Bereich des Todes inszenieren. So evozierten Asche und Staub einerseits Bedeutungslosigkeit und Geringfügigkeit (Gen 18,27), andererseits auch Sterblichkeit (Gen 3,19; Hi 10,9; Pred 3,20; Ps 30,10) und konnten Zerstörung symbolisieren (Ez 28,18; Mal 3,21).

g) Bestimmte rituelle Opfer (→ Opfer), so vor allem das Sündopfer (חַטָּאת ḥaṭṭā’t) und das Schuldopfer (אָשָׁם ’āšām), waren im Falle von individuellen oder kollektiven Sünden vorgeschrieben (Lev 4,2f.13f.22f.; Lev 5,1-5; Watts, 296-303.356-361). Sie können daher als äußerliche Bußakte im kultischen Rahmen gelten und wurden manchmal vermutlich durch das Singen von Bußpsalmen begleitet. Blutapplikations- und Verbrennungsriten bewirken → Sühne (Wurzel כפר kpr) und Vergebung (Lev 4,20; Lev 4,26; Lev 4,35). Am Großen Sühnetag (Lev 16; → Jom Kippur; in der Hebräischen Bibel allerdings stets יוֹם הַכִּפֻּרִים jôm hakkippurîm „Tag der Sühnungen“) wurden einerseits Brandopfer und Sündopfer dargebracht und andererseits das → Sündenbock-Ritual (Bouzard, 178-180) durchgeführt; außerdem sollte das Volk fasten und keine Arbeit verrichten. Zu berücksichtigen ist, dass an diesem Tag sowohl Menschen als auch das Heiligtum und sein Inventar von Sünden und Unreinheiten gereinigt wurden (Lev 16,16; Lev 16,33).

Da kultische Opfer zum → Tempel, dem „Haus Gottes“, hin- und dort darzubringen waren (→ Qorban), vermittelten sie in ganz eigener Weise die im Rahmen von Reue und Umkehr vollzogene menschliche Zuwendung zu Gott. Allerdings wurden bekanntlich auch Opfer häufig ohne die gebotene innere Einstellung dargebracht (1Sam 15,22; Jes 1,10-17; Am 5,21-22; Ps 51,18).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
  • Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1957-1965
  • Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Stuttgart u.a. 1973ff
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • The Anchor Bible Dictionary, New York 1992
  • Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1992
  • Encyclopedia of the Bible and Its Reception, Berlin / New York, 2009ff

2. Weitere Literatur

  • Boda, M.J. / Falk, D.K. / Werline, R.A. (Hgg.), 2006, Seeking the Favor of God, Bd. 1: The Origin of Penitential Prayer in Second Temple Judaism (Society of Biblical Literature Early Judaism and Its Literature 21), Atlanta / Leiden
  • Bouzard, W.C., 2011, Art. Azazel, I. Hebrew Bible / Old Testament, in: Encyclopedia of the Bible and its Reception, Bd. 3, Berlin / Boston, 178-180
  • Brueggemann, W., 1997, Theology of the Old Testament. Testimony, Dispute, Advocacy, Minneapolis
  • Jacobs, L., 1981, Art. Buße, III. Judentum, in: TRE 7, Berlin / New York, 439-446
  • Jeremias, J., 1998, Art. Reue, I. Biblisch, in: TRE 29, Berlin / New York, 99-101
  • Kutsch, E., 1965, „Trauerbräuche“ und „Selbstminderungsriten“ im Alten Testament, in: K. Lüthi / ders. / W. Dantine, Drei Wiener Antrittsreden (ThSt 78), Zürich, 23-42
  • Morrow, W., 1986, Consolation, Rejection, and Repentance in Job 42:6, JBL 105, 211-225
  • Seow, C.L., 2011, Art. Beard, in: Encyclopedia of the Bible and its Reception, Bd. 3, Berlin / Boston, 651-656
  • Watts, J.W., 2013, Leviticus 1-10 (Historical Commentary on the Old Testament), Leuven u.a.
  • Welten, P., 1981, Art. Buße, II. Altes Testament, in: TRE 7, Berlin / New York, 433-439

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