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Weltreiche

(erstellt: Mai 2006)

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1. Weltreiche und Weltreichsukzession in der Antike

Weltreiche 01
In der Neuzeit ist es nicht außergewöhnlich, von „Weltwirtschaft“ und „Weltpolitik“, von „Weltreligion“ und „Weltliteratur“ zu sprechen und über alle politischen, kulturellen und religiösen Differenzierungen hinaus in den Kategorien einer „Weltgesellschaft“ zu denken. Bis zum Beginn der Neuzeit, also auch in der Antike, konnten „Großreiche“ bzw. – nach Maßgabe früherer Beurteilungsmaßstäbe – „Weltreiche“ durchaus nebeneinander bestehen. Wenn als Kriterien für ein Groß- bzw. Weltreich eine erhebliche geographische Ausdehnung über den eigentlichen Kernbereich und ein deutlicher Einfluss auf die politischen, kulturellen und religiösen Kräfte der unterworfenen Länder und Völker zu gelten haben, dann beginnt Großreichbildung im Alten Orient – nach Anfängen unter Sargon I. im 24./23. Jh. v. Chr. – in der zweiten Hälfte des 2. Jt.s v. Chr., mit wechselnden balance-of-power-Konstellationen: Ägypten und Mitanni, anschließend das Nebeneinander des ägyptischen, hethitischen und mittelassyrischen Reichs, schließlich Ägypten und Hethiter. Der gesamte Vordere Orient ist im 2. Jt. v. Chr. politisch vernetzt. Auch wenn die Machtzentren gelegentlich wechseln, ist der geographische Raum insgesamt stabil. Um 1200 v. Chr. bricht dieses System zusammen.

In der Zeit des Alten Testaments, also im 1. Jt. v. Chr., haben zunächst die → Assyrer durch Expansionen ein Großreich aufgebaut, das im 7. Jh. v. Chr. für kurze Zeit vom Süden Ägyptens bis zum persischen Golf und Kleinasien (dem heutigen Armenien) reichte. Dieses Gebilde kann mit Recht als Weltreich bezeichnet werden. Es wurde am Ende des 7. / Anfang des 6. Jh.s vom babylonischen Reich abgelöst (→ Babylonier). Ab der Mitte des 6. Jh.s haben die persischen Achämeniden-Könige → Kyros II., → Kambyses und → Darius I. ihr Reich ausgeweitet, das die Provinzen der babylonischen Expansionen übernahm und weitere Gebiete unterwarf, bis seine Ausdehnung von Ägypten bis zum heutigen Aral-See und vom südlichen Donau-Bereich bis nach Indien reichte (Est 1,1). Griechenland gehörte nicht dazu.

Erstmals hat dann Alexander der Große – nach der Historiae Philippicae des Pompeius Trogus – Europa (das Imperium Europae, Marcus Iunianus Iustinus 12,16,5; Text gr. und lat. Geschichtsschreiber) mit Asien (dem Imperium Asiae, Iustinus 11,14,6) verbunden und war damit nach Meinung der römischen Geschichtsschreiber der erste „König aller Länder und der Welt“ (rex terrarum omnium et mundi) (Iustinus 12,16,9).

Bevor sich seit Christoph Cellarius (1638-1707) die noch heute übliche Einteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit durchsetzte, galt die Abfolge von Weltreichen als Ordnungskategorie. Als einer der ersten unterteilte Herodotos (Historien I,95 und I,130; Text gr. und lat. Autoren) im 5. Jh. v. Chr. die Geschichte des Alten Orients anhand der Sukzession von drei „Weltreichen“: der Assyrer, Meder und Perser. Nach der Eroberung des Perserreiches durch Alexander den Großen (331-323 v. Chr.), wahrscheinlich aber erst unter seinen Nachfolgern, bildete sich ein Schema mit vier Gliedern heraus.

Im alttestamentlichen → Danielbuch (s.u. 5.) werden → Babylonier, → Meder, → Perser und Griechen / Makedonier (Alexander und seine Nachfolger) in zwei → Träumen durch Metalle mit abnehmendem Wert (Dan 2) bzw. durch mischgestaltige Tiere (Dan 7) symbolisiert. In diesem ersten Entwurf einer Weltgeschichte innerhalb der Bibel repräsentieren die Reiche eine dekadente Entwicklung, die in einer Katastrophe endet, auf die ein ewiges göttliches Reich unter einem Himmelsmenschen (→ „Menschensohn“) folgt (Dan 7,13f). Die Nachfolge des mazedonischen Reiches treten die Römer an, das Imperium Romanum wird fünftes Glied der Kette (Tacitus, Historiae 5,8; Text gr. und lat. Autoren). Rom wird caput orbis, Hauptstadt des Erdkreises (Iustinus 43,1,2; Text gr. und lat. Geschichtsschreiber). Das Schema konnte schließlich auf acht und mehr Glieder erweitert werden (3. Buch der Sibyllinischen Weissagungen, 158-161).

2. Altorientalische Großreichs- und Weltreichskonzepte

Es ist schwer, eine klare Grenze zwischen den Begriffen „Großreich“ und „Weltreich“ zu ziehen, weil Herrscheranspruch und politische Realität nicht übereinstimmen müssen und darüber hinaus oft unklar ist, was die Vorstellung einer „bewohnten Welt“ (Oikumene) jeweils konkret bedeutete. Die in Ägypten seit dem Alten Reich verbreitete königsideologische Überzeugung lässt den Pharao besonders eng mit der göttlichen Sphäre verbunden sein und sieht seine Aufgaben umfassend in Geschichte und Natur: Er zelebriert vor den Göttern immer wieder kultisches und politisches Geschehen, bewirkt und garantiert den Bestand und die Ordnung der Welt, führt Bauprojekte und Kriege durch, herrscht souverän über Ägypten und die Fremdländer (→ König / Königtum in Ägypten). Gleichwohl kommen konkrete Weltherrschaftsbezeichnungen erst im → Neuen Reich, in der zweiten Hälfte des 2. Jt.s v. Chr., vor, wenn der König „Herr aller Fremdländer“ (nb 3swt nbwt) genannt wird, „dessen Schrecken die Fremdländer unterwirft“ (dr hrjt.f 3swt).

Nach römischer Historiker-Meinung (Velleius Paterculus I,6,6) war Sargon I. (2340-2285 v. Chr.), der seine Territorialherrschaft zeitweise bis Syrien und Kleinasien ausdehnte, der erste vorderasiatische Weltherrscher. Sein Enkel Naram-Sin (2260-2224 v. Chr.) führte als erster die Bezeichnung „Herrscher der vier Bereiche der Welt“ (šar kibrāt arba’i(m) / erbetti(m)) ein. Sein Herrschaftsgebiet, das vom Tauros-Gebirge im Norden bis zum Persischen Golf im Süden und vom Mittelmeer im Westen bis zum Zagros-Gebirge im Osten reichte, entsprach zwar nicht der damals bekannten Welt, aber das traf noch weniger für seine Nachfolger zu, die jene Bezeichnung oder ähnliche Formulierungen übernahmen und sich als „Herrscher der Gesamtheit“ (šar kiššati(m)) und „Herrscher der Herrscher“ (šar šarrāni) bezeichneten. Vom 14. Jh. v. Chr. an, besonders unter den Bedingungen einer balance of power, wurde häufig die Bezeichnung „Großkönig“ bei ägyptischen, hethitischen, assyrischen und babylonischen Herrschern verwendet, um eine regionale Vormachtstellung zum Ausdruck zu bringen. Erst Assurnasirpal II. (884-859 v. Chr.) nahm erneut die Formulierung „Herrscher der vier (Welt-)Gegenden“ auf und verband damit militärische Expansionen, die Handelsrouten erschließen und für das rohstoffarme Mesopotamien Tribute (Holz, Metalle, kostbare Steine) erbringen sollten.

Der Perserkönig → Kyros II. (ca. 558-530 v. Chr.), der das babylonische Großreich eroberte, verstand sich selbst als Nachfolger des assyrischen Weltherrschers → Assurbanipal (669-631 v. Chr.). Gleichwohl sah er sich vom babylonischen Götterkönig → Marduk zur Weltherrschaft erwählt. Konsequent nannten sich die Nachfolger → Darius I. (522/21-486 v. Chr.), → Xerxes I. (486-465 v. Chr.) und → Artaxerxes II. (405/04-359/58 v. Chr.) „König der Erde“ (šar qaqqari(m)). Während die Achämeniden die Babylonier als Vorläufer ihres eigenen Reiches übergingen, werden sie im → Danielbuch als Weltmacht genannt. Sie finden sich dort in Gestalt → Nebukadnezars II. (605-562 v. Chr.) wieder, der in der Deutung seines Traums als „König der Könige“ (Dan 2,37) bezeichnet wird, den Gott „in der ganzen bewohnten Welt“ (Dan 2,38, in der griechischen Übersetzung: Oikumene) herrschen lässt. Auf die Perser spielt anschließend die Formulierung an, dass danach ein „ehernes Reich, das die ganze Welt beherrschen wird“ (Dan 2,39), folgen werde.

3. Groß- und Weltreiche in der alttestamentlichen Literatur

Weltreiche 3

Die Zeit um 1200 v. Chr. ist geprägt von einem Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Großmächten, die auf ihr jeweiliges Stammland beschränkt blieben. Ägypten verlor seine Oberhoheit über Syrien-Palästina. → Scheschonq I. (946/45-924 v. Chr.) unternahm wie einige Pharaonen des Neuen Reichs einen Feldzug nach Palästina (vgl. 1Kön 14,25-26), aber der blieb ohne nachhaltige Wirkung. Seit der Wende vom 12. zum 11. Jh. v. Chr. wurde allmählich eine assyrische Vormachtstellung aufgebaut. Tiglatpilesar I. (1115-1076 v. Chr.) erreichte als erster neuassyrischer Herrscher im Westen das Mittelmeer. Den ersten Kontakt mit der assyrischen Großmacht hatte das Nordreich Israel, als → Salmanassar III. (859-824 v. Chr.) 853 v. Chr. bei Qarqar gegen eine Koalition von zwölf syrischen Herrschern kämpfte, zu denen auch König → Ahab von Israel (871-852 v. Chr.) gehörte (→ Schlacht von Qarqar). Einen ersten Höhepunkt der Großreich-Bestrebungen erzielte → Tiglat-Pileser III. (745-727 v. Chr.), der ein System der stufenweisen Vernichtung von Kleinstaaten schuf, dem auch das Nordreich Israel zum Opfer fiel. 732 v. Chr. eroberte er Teile des Nordreichs, von dem nur das Gebirge Ephraim und die Hauptstadt → Samaria übrigblieben. 722 v. Chr. wurde auch dieser Rumpfstaat von → Salmanassar V. (727-722 v. Chr.) mit anschließenden Deportationen großer Teile der Bevölkerung erobert und zur assyrischen Provinz Samerīna gemacht. 701 v. Chr. wurde das Südreich Juda von → Sanherib (705-681 v. Chr.) eingenommen und verkleinert und ebenfalls mit Deportationen überzogen.

Weltreiche 4

Zur babylonischen Provinz erklärt wurde Juda von der nächsten Großmacht, die in Gestalt → Nebukadnezars II. (605-562 v. Chr.) Jerusalem 597 v. Chr. zum ersten Mal zerstörte und dann noch einmal 587/86 v. Chr. (→ Zerstörung Jerusalems). Wieder wurden Menschen deportiert. Die Zeit des babylonischen → Exils (586-539 v. Chr.) wird nach Darstellung des Alten Testaments durch ein Edikt des Perserkönigs → Kyros II. (ca. 558-530 v. Chr.) beendet, auf den die exilierten Judäer ihre Hoffnung setzten (Jes 44,28; Jes 45,1).

Weltreiche 5

Kyros soll die Erlaubnis zum Wiederaufbau des Tempels und – historisch eher fragwürdig – zur Rückkehr der Exulanten gegeben haben (vgl. Esr 1,1-4 mit Esr 6,3-5). Von militärischen Auseinandersetzungen zur Zeit des persischen Weltreichs (539-333 v. Chr.) berichtet das Alte Testament nichts.

Der Weltherrscher → Alexander der Große zog 332 v. Chr. durch Syrien-Palästina nach Ägypten, er selbst eroberte → Tyrus und → Gaza und überließ die Eroberung des syrisch-palästinischen Hinterlands seinem General.

Weltreiche 6

Territorial-politische Folgen hatte das nicht, auch nicht für Jerusalem. Jedoch wurden tiefgreifende Hellenisierungsprozesse in Gang gesetzt. Bevor mit den Römern die letzte Weltmacht zur Zeit des Alten Testaments die Oberhoheit über die Länder der biblischen Geschichte übernahm, setzten die Nachfolger Alexanders, die → Ptolemäer und → Seleukiden, ihre eigenen politischen Akzente. Der Seleukide → Antiochus IV. Epiphanes (175-164 v. Chr.) eroberte Jerusalem (169 und 167 v. Chr.), entweihte den Tempel in Jerusalem (167 v. Chr.) und entfachte damit den Beginn der makkabäischen Erhebung, der schließlich eine Neueinweihung des Tempels (164 v. Chr.) zu verdanken war. Das Buch → Daniel und die → Makkabäerbücher spiegeln deutlich die turbulente Zeit wider. Von den alttestamentlichen Schriften nicht mehr erfasst wird der Wechsel zur römischen Weltmacht, die seit etwa 200 v. Chr. im Vorderen Orient politisch aktiv wurde und in den sechziger Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts alle Kleinstaaten, auch das Seleukidenreich, auflöste. 63 v. Chr. erschien Pompeius in Syrien, nahm Jerusalem ein und machte Judäa zum römischen Vasallen. Das alles berichtet → Josephus (Antiquitates XIV, 3-16; Text gr. und lat. Autoren).

4. Weltreiche und Weltherrschaft im Urteil der Prophetenbücher des Alten Testaments

Die → Prophetenbücher sind von einer starken Geschichtsbezogenheit geprägt (→ Geschichte / Geschichtsschreibung). So ist es kein Zufall, dass der Anfang der Schriftprophetie (→ Prophetie) in der Mitte des 8. Jh.s v. Chr. (Amos, Hosea, Jesaja und Micha) in die Zeit der auch Israel und Juda betreffenden assyrischen Invasionen fällt und dass zur Zeit des Niedergangs des assyrischen Großreiches zum Ende des 7. Jh.s v. Chr. hin wieder zwei Propheten (Nahum und Zefanja) auftreten. Im 7. und 6. Jh. v. Chr. begleiten von neuem Propheten (u.a. Jeremia, Habakuk, Ezechiel und Deuterojesaja [Jes 40-55]) die Geschichte, die Juda jetzt mit dem Aufstieg und Niedergang des babylonischen Großreiches erlebte. Schließlich treten in der letzten Phase der Prophetie zwischen 520 und 450 v. Chr. Propheten (Haggai, Sacharja und Maleachi) auf, als ehemaliges Nord- und Südreich persische Provinzen geworden waren. Weil Israel und Juda in Geschichte, Religion und Kultur der altorientalischen Umwelt eingebunden waren, ist es erklärbar, dass in vielen Prophetenbüchern Worte stehen, die fremde Länder, allerdings nicht nur die Großreiche, berühren, und zwar in zusammenhängenden Komplexen (Jes 13-23; Jer 25,15-38; Jer 46-51; Ez 25-32; Ez 35,1-36,15; Ez 38-39; Am 1,3-2,16; Ob 2-21; Nah 1,19-3,19; Zef 2,3-15; Sach 9,1-8), aber auch verstreut (Jes 8,4.9f; Jes 10,5-19.24-34; Jes 25,10-12; Jes 34; Jes 47; Jes 63,1-6; Jer 9,24f; Jer 12,14-17; Jer 43,8-13; Ez 21,33-37).

4.1. Amos

Als → Amos, der früheste sog. Schriftprophet, auftrat, war Assyrien auf dem Weg, eine weltherrschaftsähnliche Vormachtstellung aufzubauen. Man mag mit → Julius Wellhausen die Propheten zu „Sturmvögeln der Weltgeschichte“ erklären, es ist aber zweifelhaft, ob sie eine Metatheorie zum Ablauf empirisch und transzendental vermittelter Geschichtsereignisse entwickelten und damit eine Metahistorie kreierten (gegen Koch, 3. Aufl. 1995, 21). Was die Propheten auszeichnet, ist eine besondere analytische Kraft, was die politische und religiöse Lage der Gesellschaft betrifft, und ein prognostisches Bewusstsein, das im Zusammenhang vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Entwicklungen die Pläne Gottes erkannte und mitteilte. Die Erkenntnis der individuellen und kollektiven Entsprechungen zwischen dem Handeln und seinen Folgen (sog. → Tun-Ergehen-Zusammenhang) machte sie zu Protagonisten einer politischen Theologie.

Seit Amos geriet stärker die internationale Politik in den Blick. Das Handeln (des nationalen) Gottes blieb nicht mehr auf das jeweilige Territorium beschränkt (Am 9,7f; vgl. Dtn 32,8-9). In den Völkersprüchen des Amosbuches (Am 1,3-2,16) werden neben Juda und Israel die Nachbarvölker (→ Philister, → Phönizier, → Edomiter, → Ammoniter und → Moabiter) genannt, denen wegen Verletzung des Völkerrechts der Untergang angekündigt wird. Das geschieht in einer gewissermaßen doppelten Kausalität: Gott ist das eigentliche Subjekt in der geschichtlichen Tiefenstruktur (Am 4,12; Am 7,8; Am 8,2), während eine militärische Großmacht mit ihren Aktionen gegen die Völker das von Gott beauftragte Subjekt im realpolitischen Raum ist. Amos sieht gegen bzw. über die Erfahrung um 760 v. Chr. hinaus in der Militärmacht, die Eroberungen und Deportationen durchführen werde, die Assyrer (vgl. Am 4,3; Am 5,27), die er jedoch namentlich nicht nennt. Das dient der Dramatisierung, die keine distanzierte Stellungnahme zur Ost-Politik Israels ist, sondern die transnationalen Entwicklungen und Katastrophen um Israel willen vor Augen führt.

4.2. Hosea

Weltreiche 3

Im etwa gleichzeitigen → Hoseabuch folgt aus der Unheilsgeschichte des Volkes gegen seinen Gott (z.B. Hos 7,1; Hos 9,10; Hos 10,1) gleichsam eine Aufhebung der bisherigen Geschichte: Das Volk soll noch einmal zurück nach Ägypten, dorthin, wo Gott sein Volk befreit hat (Hos 12,10; Hos 13,4), aber es muss andererseits auch ins Exil nach Assyrien (Hos 8,13; Hos 9,3.6; Hos 11,5). Hier liegt sicher keine Kohärenzstörung vor, sondern eine bewusste Geschichtsdialektik: Die bevorstehende Deportation nach Assyrien wird mit Hilfe der Ägyptenerfahrung interpretiert. Ägypten ist zwar der Ort der Sklaverei, aus der Gott Israel aber schließlich errettet und so ein neues Volk schafft. So wird es auch bei der assyrischen Eroberung wieder zugehen. 722 v. Chr. wurden die Ankündigungen Amos’ und Hoseas bittere Realität, als die Assyrer das Nordreich Israel eroberten und viele Menschen deportierten. In beiden Prophetenbüchern ist die Katastrophe aber nicht das letzte Wort. In die mit der Zeit fortgeschriebenen Bücher sind häufiger nach erfolgter Katastrophe Heilsaussichten integriert, die neue Hoffnungen für die Zukunft wecken sollten (Am 9,7-15; Hos 2,16-25; Hos 11,8-9).

4.3. Micha

Das Buch → Micha, das in seinem Grundbestand auf einen judäischen Propheten des 8. Jh.s v. Chr. zurückgeht, radikalisiert die Folge von Unheil und Heil. Auch hier folgt aus dem Unrecht der Untergang (Mi 1,5-7; Mi 2,1-5.6-11; Mi 3,5-8.9-12; Mi 6,9-16), der in Mi 1,10-16 durch einen Eroberer vollzogen wird, der von Norden kommt, durch zwölf Städte Judas zieht und die Bevölkerung Jerusalems ins Exil führt. In der Forschung ist umstritten, ob Micha selbst oder ein späterer Verfasser einen grandiosen Neuanfang in → Bethlehem – nicht in Jerusalem – gesucht hat (Mi 5,1-5). Es geht dabei um Wiederherstellung und Erneuerung, es geht um die Rückkehr von Deportierten und vor allem um die Erwartung eines Herrschers aus Bethlehem, der selbst als Weltherrscher auftritt (Mi 5,3; vgl. Ps 2; Ps 72 und Ps 110) und das Weltreich Assyrien in seine Schranken weist (Mi 5,4f). Er wird → „Schalom“, Heil im umfassendsten Sinn, sein (Mi 5,4), das Volk lebt dann in Sicherheit, denn „er wird sich als Großer erweisen bis an die Enden der Erde“ (Mi 5,3). Übertroffen wird diese Erwartung noch von der utopischen Hoffnung (Mi 4,1-3; vgl. Jes 4,2-4), Jerusalem werde „am Ende der Tage“ (Mi 4,1) zum Zentrum einer → #xWallfahrt vieler Völker#34263# werden, die Weisung vom Gott Israels erhalten werden (Mi 4,2), der auch die mächtigen Völker bis in die Ferne „zu-Recht-weisen“ werde (Mi 4,3): „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen“ (Mi 4,3; → Schwerter zu Pflugscharen). Danach soll es kein militärisches Weltreich mehr geben: „Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen und niemand wird sie schrecken“ (Mi 3,4).

Die Auflösung der politischen Weltreichsidee durch eine theologische – die Weltherrschaft Gottes als Friedensherrschaft – wurde in der folgenden Zeit kein dominantes Konzept, weil die Realpolitik und die Reaktionen darauf die Oberhand behielten.

4.4. Jesaja

Im → Jesajabuch, dessen Kapitel 1-39 im Grundbestand aus dem 8. Jh. v. Chr. stammen, kommen gleich mehrere Weltreiche vor. Wie das Amosbuch enthält es Worte über Völker (Jes 13-23), unter denen sich auch die Großmächte Babylon, Assyrien und Ägypten finden. Die Babylonier erschienen erst im 7. und 6. Jh. v. Chr. auf der politischen Weltbühne. Spätere Bearbeiter des Jesajabuchs, vermutlich aus der Zeit des babylonischen Exils, haben im Jesajabuch eine globale Synopse aufeinander folgender Reiche ermöglicht und dabei die Vorstellung des Untergangs der Welthauptstadt entwickelt, deren Namen nicht genannt wird, aber nur Babylon sein kann (Jes 24-27). 734-32 v. Chr. und 722 v. Chr. kämpften und deportierten die Assyrer im Nordreich Israel, 701 v. Chr. im südlichen Juda. Hart stehen in der vorliegenden Buchgestalt Aussagen nebeneinander, die in den Assyrern Medium (Jes 8,7f) und Opfer (Jes 14,24-26) göttlichen Strafhandelns sehen. Die Spannungen erklären sich am einfachsten aus den Erfahrungen mit der unmenschlichen Macht vom Euphrat, die Ziele, aber kein Maß kannte. So können beide Rollen im Handeln Gottes aufgehoben werden: „Das ist der Plan, der über die ganze Erde beschlossen ist, das ist die Hand, die ausgestreckt ist über alle Völker.“ (Jes 14,26)

Anders als im Michabuch (Mi 5,1-5) ist im Jesajabuch der zukünftige Herrscher über Israel Heilskönig, der vor allem eine gerechte Ordnung im Land aufrichtet (Jes 11,1-5) und für Frieden sorgt, nachdem Gott die assyrische Unterdrückung beendet hat (Jes 9,1-7; → Messias). Die Erwartung eines Heilsherrschers wurde zunächst durch die Politik der Großreiche gedämpft. Die Verschonung Jerusalems vor den Angriffen des Assyrers Sanherib 701 v. Chr. (Jes 37,33-36) blieb angesichts der folgenden Großmacht Babylonien (Jes 39,6f) nur eine Episode, die jedoch 150 Jahre später (Jes 40-55) mit neuem Leben erfüllt wurde, als alle Hoffnungen auf das persische Reich und seinen Herrscher Kyros II. (ca. 558-530 v. Chr.) gesetzt wurden (Jes 45,1; vgl. Jes 44,28). Zuvor aber bestimmte im 7. Jh. v. Chr. weiterhin Assyrien die Politik auf der syrisch-palästinischen Landbrücke. Das Nordreich Israel war seit 722 v. Chr. assyrische Provinz, das Südreich Juda seit 701 v. Chr. Vasall Assyriens.

Es ist durchaus möglich, dass assyrisches Weltherrschaftsdenken indirekt auch in anderen Textbereichen als der Prophetie begegnet, sofern man im 7. Jh. v. Chr. Texte der neuassyrischen Königsideologie subversiv rezipierte, indem Herrschaftsansprüche vom assyrischen König auf den Gott Israels umgebucht (Otto, 2000) oder in der Geschichte vom → Turmbau zu Babel (Gen 11,1-9) kritisch reflektiert (Uehlinger, 1990, 514-546) wurden.

4.5. Nahum und Zefanja

Die Einstellung zur assyrischen Großmacht änderte sich mit der wachsenden Erfahrung, die man mit ihr machte. Zwischen 671 und 655 v. Chr. weiteten die Assyrer ihre Herrschaft bis Unter- und Oberägypten aus. Kurz danach traten zwei weitere Propheten auf, → Nahum und Zefanja, die dem assyrischen Weltreich den Untergang vorhersagten, als sich dieses Reich in einem rasanten Niedergang wiederfand. Visionärer Kraft und geheimnisvoller Eingebungen Gottes bedurfte es eigentlich nicht mehr, um die Katastrophe kommen zu sehen. Nah 2,4-3,19 beschreibt in einer kräftigen poetisch-metaphorischen Sprache das Ende → Ninives, der Hauptstadt des Assyrerreiches. Dieser Untergang wird vorausgesagt, vielleicht ist er auch schon vollzogen (→ vaticinium post eventum). Er trifft die „Stadt voll Blutschuld“ (Nah 3,1), der Feind ist dabei JHWH selbst (Nah 2,4-14; Nah 3,1-7). Damit ist das Nahum-Buch, dessen Psalm am Anfang (Nah 1,2-8) die Macht JHWHs in Geschichte und Natur hymnisch preist, ein Paradigma für das Verhältnis Gottes zur Weltmacht. Es geht dabei um die Restitution einer umfassenden Rechtsordnung in der Welt. Der Widerstand gegen die unterdrückende Weltmacht findet sein positives Gegenstück im Freudenboten, der Frieden verkündet (Nah 2,1).

Viel zurückhaltender ist zur gleichen Zeit der Prophet → Zefanja, der beiläufig das Ende der Assyrer in Aussicht stellt (Zef 2,13), deren katastrophales Handeln im Zefanjabuch noch kräftig überschattet wird vom → „Tag JHWHs“ (Zef 1,14-18), einer zukünftigen Machtentfaltung Gottes, die allen Bewohnern der Erde gilt (vgl. auch Jo 4,2-3.9-13). Weil sich die Ankündigungen zum Weltreich der Assyrer erfüllten, wurden die prophetischen Texte weiter überliefert. Die unerfüllten Voraussagen des „Tages JHWHs“ dagegen konnten in anderer Gestalt in der späteren → Apokalyptik wieder aufgenommen werden.

4.6. Jeremia

Am Ende des 7. Jh.s v. Chr. beerbten die Babylonier die assyrische Großmacht auch auf der syrisch-palästinischen Landbrücke. In einer Vision (Jer 1,13f) sieht der Prophet → Jeremia Unheil voraus, das sich vom Norden her über das Land ergießt bzw. sich in Gestalt eines übermächtigen Heeres des Landes bemächtigt (Jer 4-6). Wie in der Prophetie des 8. Jh.s v. Chr. sind es vor allem soziale und kultische Vergehen, die katastrophale Folgen hervorrufen. Anders als jene Prophetenbücher wurde das Jeremiabuch nach der babylonischen Eroberung Jerusalems (587/86 v. Chr.) unter dem Aspekt der Möglichkeit zur Umkehr überarbeitet (Jer 18,11; Jer 25,5; Jer 26,3 u.a.). Erst in der Mitte des Buches wird der Eroberer mit Namen genannt und als „Knecht / Diener“ des Schöpfers (!) JHWH bezeichnet (Jer 27,4-6), so dass ein durch Gott gesicherter Schutz „seines“ Volkes aufgehoben, die weltgeschichtliche Bedeutung Gottes jedoch herausgehoben wird. Aufstieg und Niedergang der Babylonier werden im Jeremiabuch treffsicher charakterisiert. Mit der Weltmacht-Attitüde (Jer 43,8-13) – Nebukadnezar II. (605-562 v. Chr.) fiel 601 v. Chr. in Ägypten ein – kontrastiert die Ankündigung des Untergangs der Großmacht nach 70 Jahren (Jer 25,12-14). Mit der Übernahme Babylons durch die Perser 539 v. Chr. hat sich diese Sicht zeitlich recht genau bewahrheitet.

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Am Ende des Jeremiabuches, in der Spruchsammlung gegen fremde Völker (Jer 46-51), verschaffen sich in den Worten gegen Babylon (Jer 50-51), die in späterer Zeit in das Buch eingefügt wurden, die von der Großmacht Unterdrückten einen Ausdruck dafür, dass das Unrecht der Großmacht gegenüber anderen Völkern vor dem Gott Israels keinen Bestand hat. Zwar war Babel in der Hand JHWHs „ein goldener → Becher, der die ganze Erde berauschte“ (Jer 51,7), dieser Gott ist aber der Schöpfer des Himmels und der Erde (Jer 51,15-19), der über den Bestand einer gerechten Welt- und Lebensordnung wacht (Jer 50,29-32). An der universalen Befreiung hat auch Israel Anteil (Jer 50,4-7.17-20.33f u.a.), Israel steht aber nicht im Vordergrund.

4.7. Habakuk und Ezechiel

Auch das mit dem Jeremiabuch zeitgleiche → Habakukbuch zeigt in den verschiedenen Stadien des Buchwachstums unterschiedliche Bewertungen der jeweiligen Weltmacht. Der historische Prophet Habakuk sah in der angekündigten babylonischen Invasion die Antwort Gottes auf die sozialen Verfehlungen (Hab 1,2-11) in vorexilischer Zeit. Aber nach den Eroberungen von 597 und 587/86 v. Chr. wurde – von späteren Bearbeitern – Babylonien selbst wegen seiner Gewaltexzesse gegenüber anderen Völkern das Ende angekündigt (Hab 2,6-20) und noch später – vielleicht nach dem Exil, also nach 539/38 v. Chr. – die gesamte Welt unter die Weltherrschaft JHWHs gestellt (Hab 3,3-15).

Das in der Prophetie entworfene Bild von den Großmächten ändert sich mit dem Exil radikal. Der zu jener Zeit in Babylonien wirkende → Ezechiel sieht noch einmal die von Gott letztlich gebannte Gefahr eines Eroberers aus dem Norden (Ez 38f), gleichwohl existiert in den Völkerworten (Ez 25-32) kein Wort gegen die Babylonier, die unter Nebukadnezar sogar von JHWH gegen den Inselstaat Tyrus (Ez 26-28) und gegen die Großmacht Ägypten (Ez 29-32) in die Pflicht genommen werden.

4.8. Deuterojesaja

Weltreiche 5

Bei → Deuterojesaja (Jes 40-55), einer weiteren Exilsprophetie, die eine → Fortschreibung von Jes 1-39 darstellt, wird ebenfalls zunächst keine Stellungnahme gegen den babylonischen Unterdrücker abgegeben, aber dann wird doch in einer grandiosen und respektlosen Rede zugleich der Untergang Babylons und seiner Kultur zum Ausdruck gebracht (Jes 47) und eine weltgeschichtliche Wende angekündigt, nach der der Gott Israels als einziger Gott (Jes 43,10f; Jes 45,5) zum weltweiten Königsgott avanciert, der den Perserkönig → Kyros II. (ca. 558-530 v. Chr.) als seinen Hirten (Jes 44,28) zum Beauftragten seines Weltregiments (Jes 45,1-4) und zu seinem „Gesalbten“ (→ „Messias“) macht, der mit besonderer Kraft befähigt (Jes 45,1) und zur Hoffnung für Jerusalem und seinen Tempel wird (Jes 44,28). Kyros selbst hat in einer seiner Inschriften (sog. Kyros-Zylinder) seinen Erfolg mit Worten, die Jes 45,1ff ähnlich sind, auf göttliche Unterstützung zurückgeführt (TUAT I, 407-410; Text Hanson’s Documents). Die Gottheit heißt dort allerdings nicht JHWH, sondern → Marduk, der höchste babylonische Gott. Welche Hoffnungen auf das neue Weltreich gesetzt wurden, zeigt sich auch daran, dass es kein einziges kritisches Wort gegen das Perserreich im Alten Testament gibt, auch nicht aus Zeiten, in denen politische Turbulenzen instabile Verhältnisse beförderten (Donner, 3. Aufl. 2001, 391-420). Nach der biblischen Darstellung hat Kyros II. 538 v. Chr. die Rückkehr der Exilierten nach Jerusalem und den Wiederaufbau des Tempels per Edikt erlaubt (vgl. Esr 1,1-4 mit Esr 6,3-5).

4.9. Haggai und Sacharja

Als der Tempel gebaut wurde (520-515 v. Chr.), formulierte der nachexilische Prophet → Haggai am Ende seines kleinen Buches die Utopie einer Weltherrschaft des damaligen Statthalters und davidischen Prinzen → Serubbabel, der die Vernichtung des Krieges durch JHWH vorausgeht (Hag 2,20-23). Der zeitgleiche Prophet → Sacharja teilte die Erwartung einer künftigen Herrschaft Serubbabels, aber nicht die kriegerischen Voraussetzungen (Sach 4,7). Die Hoffnung erfüllte sich nicht, auch nicht die auf einen eschatologischen Hohenpriester (Hag 1,1; Hag 2,2). Gleichwohl schien die Zeit der Weltreiche scheinbar abgelaufen. In einer Vision sieht Sacharja vier große, Macht repräsentierende Hörner aus der Erde hervorragen. Ein deutender Engel spricht von vier Großreichen, die die Israeliten über die Welt zerstreut hätten. Ist hier von Ägypten, Assyrien, Babylonien und Persien die Rede? Es tauchen jedenfalls in der Vision übermenschlich wirkende Schmiede auf, um die → Hörner abzuschlagen (Sach 2,1-4). Einige Zeit später, vielleicht am Ende des 4. Jh.s v. Chr., also in hellenistischer Zeit, wird in dem zweiten Buchteil des Sacharjabuches, in Sach 9-11 (,Deuterosacharja“), eine vorher nur angedeutete Umkehrung des universalen Herrscherkonzepts vollzogen, sofern eine Umdeutung vom kriegerisch erfolgreichen Machtherrscher auf einen alle Kriegswaffen vernichtenden und der Hilfe bedürftigen Friedenskönig vorgenommen wird, der demütig ist, auf einem Esel reitet und ohne Machtmittel sein Friedenskonzept weltweit verwirklicht (Sach 9,9f). Damit sind die individuell-konkreten Erwartungen des Haggai und Sacharja in eine eschatologische Hoffnung transformiert.

5. Das Weltreichkonzept des Danielbuches

Weltreiche 6

Eine Sonderstellung nimmt eines der spätesten Bücher des Alten Testaments ein: das → Danielbuch, das einzige apokalyptische Buch des Alten Testaments. Nach katholischer und protestantischer Tradition gehört es zu den „Propheten“. In der hebräischen Bibel steht das Buch im dritten und letzten Teil („Schriften“), der in den deutschsprachigen Bibelübersetzungen den zweiten Teil (in der protestantischen Tradition: „Lehrbücher“) bildet. In der vorliegenden Form stammen die in die babylonische Zeit versetzten Kapitel Dan 1-12 aus den Jahren 167-164/63 v. Chr. (in katholischen Bibelübersetzungen mit den deuterokanonischen Zusätzen Dan 13 und Dan 14; → Kanon).

In den Kapiteln Dan 1-6 kommen Daniel und seine Freunde nach ihrer Deportation an den babylonischen Hof, wo Daniel zum Berater, vor allem in der Rolle des Traumdeuters, aufsteigt. Die Kapitel Dan 7-12 sind vor allem durch Visionen im Ich-Stil charakterisiert. In Spannung zu dieser Gliederung tritt eine andere, die den Sprachwechsel vom Hebräischen zum Aramäischen und umgekehrt berücksichtigt. Hebräische Buchteile umgeben den aramäischen Teil Dan 2,4b-7,28, in dem wiederum die Kapitel Dan 2 und Dan 7 eine Rahmenfunktion haben, sofern sie jeweils den Untergang von vier Weltreichen und die Aufrichtung der universalen Herrschaft Gottes thematisieren. Die → Visionen bzw. besser: → Träume(vgl. Dan 2,1; Dan 7,1) stellen die erste in der Bibel vorgelegte Konzeption der Weltgeschichte nach einem Dekadenz-Schema dar, das mit zunehmender Machtperversion und wachsender Beziehungslosigkeit zwischen Gott und Menschen rechnet.

In Dan 2 träumt → Nebukadnezar von einem „Koloss auf tönernen Füßen“. Anders als die Weisen des babylonischen Königs vermag Daniel den Traum von der Kolossalstatue, die aus verschiedenen Metallen zusammengesetzt ist, zu deuten. Es handelt sich um eine von Gott gewollte Folge von vier Fremdreichen, die Israel nach dessen staatlichem Ende (587/86 v. Chr.) beherrschten. Wahrscheinlich ist an Babylonien, Medien, Persien und Griechenland („Diadochen“) gedacht. Das letzte der Reiche, das als „eisern“, d.h. als gewalttätig gilt (Dan 2,33.40), wird von einem Stein zerstört, der das „ewige“ Reich Gottes am Ende der Weltzeit symbolisieren soll (Dan 2,34f.44f). In Dan 7 träumt Daniel selbst einen Traum, in dem vier mischgestaltige Tiere aus dem Meer aufsteigen. Bei diesen Tieren, die wiederum (die) vier Weltreiche verkörpern, steht das vierte mit seinen Verbrechen und seinem Geschick im Vordergrund (Dan 7,7ff). Aus dem vierten Reich wächst zum Schluss ein → „Horn“ hervor (Dan 7,8), das auf einen brutalen und widergöttlichen König bezogen wird (vgl. Dan 8), der ohne Zweifel → Antiochus IV. Epiphanes (170/69-164 v. Chr.) ist, dem die Entweihung des Jerusalemer Tempels 168 v. Chr. zuzuschreiben ist, die den → Makkabäeraufstand auslöste. Auf die Katastrophe folgt auch in Dan 7 das Reich Gottes, das hier unter dem → „Menschensohn“ (Dan 7,13f) eine weltweite und unaufhörliche, selbst die Tierwelt einschließende (Dan 2,38) Friedenszeit mit übernationaler Gerechtigkeit garantiert. In der weiteren Wirkungsgeschichte (Delgado u.a., 2003) erscheint innerhalb der römischen Historiographie Rom in der Weltreich-Kette als fünftes Glied, das schließlich im Mittelalter zur Legitimation des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation diente.

6. Die Weltreiche in der Prophetie – zur Bedeutung der Konzeptionen

Ein nicht geringer Teil der alttestamentlichen Prophetie sind Völkerworte, die auf die unmittelbaren Nachbarn, aber auch auf die weiter entfernt liegenden Groß- und Weltreiche bezogen sind (Huwyler, 1997, 3), in deren Geschichte Israel und Juda, in der Regel sehr leidvoll, verstrickt waren. Seit dem 19. Jh. n. Chr. (Schwally, 1888) wurden die Worte über andere Völker immer wieder den Propheten ganz oder teilweise abgesprochen, weil sie aufgrund ihrer vergeltungstheologischen Ansätze scheinbar dem hohen Ethos der Propheten widersprechen und weil die Unheilsworte für die Völker implizit Heilsworte für Israel seien, die Schriftpropheten aber ausschließlich als Unheilspropheten verstanden wurden. Aber auch umgekehrt konnten die Völkerworte und das indirekte Heil für Israel als ursprüngliche Prophetenworte verteidigt werden (Greßmann, 1905). Man suchte nach außerbiblischen Parallelen und glaubte in den Fluchformeln altorientalischer Verträge fündig geworden zu sein (Hillers, 1964). Den ursprünglichen „Sitz im Leben“ der prophetischen Völkerorakel meinte man bei Kultfeiern (Würthwein, 1949/50) und im Zusammenhang von Kriegsaufruf und Siegesverheißung (Bach, 1962) annehmen zu dürfen. „Oft wird mit dem Übergang der Völkerorakel von der kultischen zur klassischen Prophetie eine neue Akzentuierung der Gattung verbunden, die etwa als Loslösung von national-religiösen Interessen und damit als Ethisierung und Universalisierung zu charakterisieren ist“ (Huwyler, 1997, 29). Zum besseren Verständnis der Völkerworte werden bis in die neuere Zeit vor allem Kriegsorakel, Klagegottesdienste und internationale Verträge herangezogen (Hayes, 1964).

Ein Teil der Völkerworte kann auf die Propheten zurückgehen, deren Namen die Schriften tragen, und von ihnen mündlich in prophetisch-politischen Kreisen, vielleicht auch in der Öffentlichkeit, vorgetragen und später verschriftet worden sein. Ein anderer Teil dürfte später entstanden und aktualisierende literarische Prophetie sein, die in Zeiten der Bedrückung und im Rückblick darauf die Hoffnung äußert, dass der Gott Israels das eigentliche Subjekt der Geschichte und Geschichten ist. Die Texte sind von der Überzeugung getragen, dass Gott selbst hinter den militärischen Aktionen der Weltreiche gegen sein Volk steht, sich aber auch gegen die Reiche wendet, wenn Zerstörerisches ins Übermaß gerät. So wird letztlich die Gewalt menschlichem Zugriff entzogen. Das Ziel ist eine gerechte Weltordnung, die in einigen Texten von einem Zukunftsherrscher erwartet wird, der mit Macht, in der Spätzeit des Alten Testaments sogar ohne jedes Machtmittel, ganz angewiesen auf die Hilfe Gottes, dauernden Frieden ermöglicht und gewährt.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Der Neue Pauly, Stuttgart / Weimar 1996-2003

2. Weitere Literatur

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  • Delgado, M. / Koch, K. / Marsch, E. (Hgg.), 2003, Europa: Tausendjähriges Reich und Neue Welt. Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 1), Freiburg (Schweiz) / Stuttgart
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  • Donner, H., 3. Aufl. 2000, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 1: Von den Anfängen bis zur Staatenbildungszeit (Grundrisse zum Alten Testament Bd. 4/1), Göttingen
  • Donner, H., 3. Aufl. 2001, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen. Teil 2: Von der Königszeit bis zu Alexander dem Großen. Mit einem Ausblick auf die Geschichte des Judentums bis Bar Kochba (Grundrisse zum Alten Testament Bd. 4/2), Göttingen
  • Fechter, F., 1992, Bewältigung der Katastrophe. Untersuchungen zu ausgewählten Fremdvölkersprüchen im Ezechielbuch (BZAW 208), Berlin, New York
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  • Koch, K., 1997, Europa, Rom und der Kaiser vor dem Hintergrund von zwei Jahrtausenden Rezeption des Buches Daniel, Göttingen
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  • Uehlinger, C., 1990, Weltreich und „eine Rede“. Eine neue Deutung der sogenannten Turmbauerzählung (Gen 11,1-9) (OBO 101), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
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  • Wiesehöfer, J., 3. Aufl. 1998, Das antike Persien. Von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr., Zürich
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  • Würthwein, E., 1949/50, Amos-Studien, ZAW 62, 10-52

Abbildungsverzeichnis

  • Der assyrische König Asarhaddon (681-669 v. Chr.) als Sieger über Könige, die er an Kieferringen führt (Stele aus Sendschirli). © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Der Pharao packt die Feinde am Schopf und erschlägt sie (ptolemäischer Chnumtempel in Esna). © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2004)
  • Das assyrische Weltreich. Aus: J. Strange / J. Lange, Stuttgarter Bibelatlas. Historische Karten der biblischen Welt, Stuttgart 3. Aufl. 1998, Karte Nr. 18; © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Das neubabylonische Weltreich. Aus: J. Strange / J. Lange, Stuttgarter Bibelatlas. Historische Karten der biblischen Welt, Stuttgart 3. Aufl. 1998, Karte Nr. 19; © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Das persische Weltreich. Aus: J. Strange / J. Lange, Stuttgarter Bibelatlas. Historische Karten der biblischen Welt, Stuttgart 3. Aufl. 1998, Karte Nr. 20; © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Das Weltreich Alexanders des Großen. Aus: J. Strange / J. Lange, Stuttgarter Bibelatlas. Historische Karten der biblischen Welt, Stuttgart 3. Aufl. 1998, Karte Nr. 21; © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Das assyrische Weltreich. Aus: J. Strange / J. Lange, Stuttgarter Bibelatlas. Historische Karten der biblischen Welt, Stuttgart 3. Aufl. 1998, Karte Nr. 18; © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Das neubabylonische Weltreich. Aus: J. Strange / J. Lange, Stuttgarter Bibelatlas. Historische Karten der biblischen Welt, Stuttgart 3. Aufl. 1998, Karte Nr. 19; © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Das persische Weltreich. Aus: J. Strange / J. Lange, Stuttgarter Bibelatlas. Historische Karten der biblischen Welt, Stuttgart 3. Aufl. 1998, Karte Nr. 20; © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
  • Das Weltreich Alexanders des Großen. Aus: J. Strange / J. Lange, Stuttgarter Bibelatlas. Historische Karten der biblischen Welt, Stuttgart 3. Aufl. 1998, Karte Nr. 21; © Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

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