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Theodoret von Cyrus

(erstellt: März 2013)

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Theodoret ist der Schriftsteller der alten Kirche, von dem die meisten exegetischen Werke erhalten sind. Er steht am Schnittpunkt zwischen der großen Zeit der Bibelkommentare und der Zeit der Rezeption dieser Auslegungen in den Katenen. Trotz seiner Verurteilung aufgrund dogmatischer Fragen wurde seine Bibelauslegung weiterhin geschätzt, was die intensive Verwendung in den Katenensammlungen bezeugt. In manchen Fällen sind seine Kommentare der Ausgangspunkt und Hauptteil der Katenen. Aber auch die Kommentare selbst wurden überliefert. Grund für die Hochschätzung ist vor allem seine ausgewogene Position zwischen wörtlicher und allegorischer Interpretation ebenso wie die maßvolle Länge der Kommentare sowie ihr klarer und gut lesbarer Stil.

1. Leben

Theodoret wurde um 393 n. Chr. als einziger Sohn eines reichen christlichen Ehepaares in Antiochien geboren. Von klein auf erhielt er religiöse und theologische Bildung, aber auch eine hervorragende klassische Ausbildung. Er wurde zunächst zum Lektor geweiht und zog sich nach dem Tod der Eltern 416 in ein Kloster bei Nikertai (nahe Apamea, Syrien) zurück, wo er sich mit der Bibel und exegetischen Kommentaren befasste. 423 wurde er Bischof von Cyrus (östlich von Antiochien) und war dort in den ersten Jahren intensiv mit Auseinandersetzungen mit der paganen Philosophie und verschiedenen Häretikern beschäftigt. Daneben kümmerte er sich um die Verbesserung der Infrastruktur der armen, am Rande des römischen Reiches gelegenen Stadt.

428 brachen die nestorianischen Streitigkeiten aus, in denen Theodoret zum großen Gegenspieler des alexandrinischen Bischofs Cyrill und zum hauptsächlichen Vertreter der antiochenischen Christologie bis zum Konzil von Chalkedon (451 n. Chr.) wurde. Im Auftrag des Bischofs Johannes I. von Antiochien bekämpfte Theodoret vor allem die monophysitischen Tendenzen in Cyrills Theologie. Auf dem Konzil von Ephesus lehnte er mit der antiochenischen Delegation die Verurteilung des Nestorius ab. 433 kam es zu einer Einigung zwischen Johannes und Cyrill, der Theodoret 436 zustimmte. Die Unionsformel wurde wahrscheinlich von Theodoret verfasst bzw. mitverfasst. 438 schrieb er eine Verteidigung für Diodor von Tarsus und Theodor von Mopsuestia, die von Cyrill als Vorläufer des Nestorianismus diffamiert wurden. Einige Jahre konnte sich Theodoret der Sorge um seine Diözese in Ruhe widmen, bis es nach dem Tod Cyrills zu Streitigkeiten um den Presbyter Eutyches kam, der von Cyrills Nachfolger Dioskur unterstützt wurde und dessen Monophysitismus Theodoret zurückwies. 449 verurteilte die sog. „Räubersynode“ Theodoret, der sich daraufhin in sein Kloster nach Nikertai zurückzog. Er appellierte an Papst Leo I., beteuerte seine Rechtgläubigkeit und wurde auf dem Konzil von Chalkedon rehabilitiert. Er musste allerdings Nestorius verurteilen, dem er dennoch nie die persönliche Freundschaft aufkündigte. Die folgenden Jahre in seiner Diözese widmete er der pastoralen und schriftstellerischen Tätigkeit. Theodoret starb um 460 oder 466.

Seine Verurteilung auf dem 2. Konzil von Konstantinopel (553) wegen der gegen Cyrill gerichteten Werke bewirkte einen Verlust vieler seiner dogmatischen und apologetischen Werke. Diese Verurteilung erfolgte aufgrund von Kriterien, die erst nach dem Tod Theodorets festgelegt wurden, und gilt daher als unzulässig. Nach dem Diskussionsstand seiner eigenen Zeit ist er als rechtgläubig anzusehen.

2. Werk

2.1. Literarisches Schaffen: Überblick

Theodoret hatte eine gediegene klassische Schulbildung erhalten, die sich in seinem sehr guten attischen Griechisch sowie in zahlreichen Zitaten aus Werken nichtchristlicher Schriftsteller zeigt. Sein Stil ist einfach, klar und sachlich. Seine Muttersprache war Syrisch. 450 erwähnt er in einem Brief (ep. 146), dass er 35 Werke verfasst habe. Ein Großteil davon ist verloren. In den ersten Jahren als Bischof verfasste er vor allem Schriften im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Irrlehren (gegen Arianer, Makedonianer, Markioniten, Apollinaristen, die „persischen Magier“) und der griechischen Philosophie (Graecarum affectionum curatio). Die Widerlegung der Anathematismen Cyrills ist nur in dessen Antwort erhalten, ebenso wurden dogmatische Schriften teils unter anderen Namen überliefert. Sein wichtigstes theologisches Werk ist Eranistes seu Polymorphus („Der Bettler oder der Vielgestaltige“) gegen den Monophysitismus des Eutyches.

Theodorets historische Werke umfassen eine Geschichte der Mönche Syriens, eine Kirchengeschichte, die allerdings stark polemisch ist und oftmals historische Zuverlässigkeit vermissen lässt, sowie eine Darstellung aller Häresien bis Eutyches (Haereticarum fabularum compendium). 232 Briefe, dazu 36 in Konzilsakten, sind erhalten, allerdings wenig von seinen Reden.

2.2. Exegese

2.2.1. Hermeneutik und Methode

Die Schriftauslegung stellt einen bedeutenden Teil von Theodorets literarischem Werk dar. Er war der wichtigste Exeget der antiochenischen Tradition, sowohl hinsichtlich Quantität als auch Qualität. Seine exegetischen Schriften sind vollständig überliefert.

Er steht in der antiochenischen Tradition einer Interpretation nach dem Literalsinn, die überwiegend historisch orientiert ist. Diese Hermeneutik geht von einer Inkarnationstheologie aus, die die Schriftauslegung ebenso wie die Christologie prägt: Das göttliche Wort findet sich im menschlichen Wort der Heiligen Schrift. Theodoret integriert aber auch typologische und allegorische Deutung in angemessenem Maß, wobei der entsprechende Terminus τροπικῶς tropikōs verschiedene Formen der Interpretation beinhaltet, von metaphorischer bis zu moralischer Auslegung. Er vermeidet Extreme und greift auf die Auslegungen seiner Vorgänger kritisch zurück.

Vielerorts besteht die Interpretation in einer erläuternden Paraphrase des Bibeltextes. Stets betont er die Klarheit, die er mit seiner Auslegung anstrebt, um dunkle Stellen der Bibel verständlich zu machen. Typisch antiochenisch ist das Prinzip der ἀκρίβεια akribeia, der „Genauigkeit“, in der Behandlung des Bibeltextes, die auch dazu dient, die Harmonie und Widerspruchslosigkeit der Schrift darzustellen. Immer wieder stellt er traditionelle Auslegungen zusammen und ergänzt sie um seine eigene.

Wenngleich Theodoret in einer bereits langen exegetischen Tradition steht, so ist seine Bezeichnung als bloßer Kompilator unangemessen. Wichtig ist er auch als Hauptzeuge der antiochenischen Bibelauslegung, da durch seine Werke die Exegese Diodors von Tarsus und Theodors von Mopsuestia bekannt ist, von denen selbst wenig erhalten ist. Weitere wichtige Quellen für seine Bibelauslegung sind → Josephus Flavius, → Origenes und → Eusebius von Caesarea.

Theodoret betrachtete die Heilige Schrift, mit der er seit Kindheit vertraut war, als wichtigste Glaubensquelle. Seine Schriftauslegung entsteht primär aus einer pastoralen und gewissermaßen auch apologetischen Intention, den Gläubigen seiner Diözese (und seinen Gegnern) die rechte Lehre nahezubringen, besonders angesichts paganer und häretischer Aktivitäten. Er selbst betrachtet seine Bibelauslegung als Ausweis seiner eigenen Rechtgläubigkeit (ep. 82, 113, 116, 146). Im Mittelpunkt steht sein Bestreben, die Bedeutung (διάνοια) des Textes verständlich zu machen. Dabei arbeitet er eng am Text; moralische Auslegungen oder Hinweise auf seine Adressaten und Adressatinnen bzw. zeitgeschichtliche Ereignisse sind rar.

Basis seiner Bibelauslegung ist eine antiochenische Version der → Septuaginta, die er als inspiriert betrachtet. Theodoret räumt aber auch der Textkritik einen wichtigen Platz ein. Der hebräische Bibeltext dürfte ihm über die Hexapla und die Peschitta (Syrisch war seine Muttersprache) in beschränktem Maß zugänglich gewesen sein.

2.2.2. Exegetische Werke

Theodoret begann seine ersten Bibelkommentare nach dem Konzil von Ephesus zu schreiben: Im Hoheliedkommentar (→ Hoheslied) verteidigt er die Notwendigkeit einer spirituellen Interpretation (aufgrund des lyrischen und nicht historischen Charakters des Hohelieds) und folgt dem Vorbild des Origenes. Der folgende Danielkommentar (→ Daniel) verteidigt das christliche Verständnis Daniels als Prophet, wobei Theodoret Prophetie als Vorhersage künftiger Ereignisse versteht und sich polemisch von einer jüdischen Auslegung abgrenzt. Grundsätzlich deutet er Daniel christologisch, allerdings wird dies nicht durchgehend explizit durchgeführt. Fundament seiner Auslegung ist eine akribische historische Einordnung. Auf Daniel folgen Kommentare zu → Ezechiel und den → Zwölf Propheten.

Zwischen 441 und 447 verfasste er einen Psalmenkommentar (→ Psalmen), der wieder stärker den übertragenen Sinn in den Blick nimmt, sowie Kommentare zu → Jesaja, → Jeremia und allen Paulusbriefen (→ Paulus). Theodoret akzeptierte in seinen Prophetenkommentaren weitaus mehr christologische bzw. ekklesiologische oder eschatologische Weissagungen als Theodor. Besonders durch die Prophetenkommentare versuchte Theodoret, das biblische Fundament seiner Christologie zu verdeutlichen.

In seinen letzten Lebensjahren (ab 453) legte er in Form von quaestiones et responsiones (Fragen und Antworten) den Oktateuch (→ Genesis, → Exodus, → Leviticus, → Numeri, → Deuteronomium, → Josua, → Richter, → Rut), die → Samuel- und → Königsbücher sowie die → Chronikbücher aus. Als Antwort auf explizite Fragen werden dabei ausgewählte Textstellen interpretiert, wobei aber oftmals die Antworten die Auslegung am Bibeltext entlang weiterführen. Hier dominiert die Auslegung nach dem Literalsinn.

2.3. Auslegung des Alten Testaments und Judentum

Eine Schrift Adversus Iudaeos wird erwähnt, ist aber nicht greifbar (vielleicht enthalten in der Graecarum affectionum curatio). Theodorets Auseinandersetzung mit dem Judentum findet in seiner Bibelauslegung statt. Auch in dieser Frage legt er einen moderaten Ton an den Tag. Er reproduziert die in der christlichen Exegese zu seiner Zeit bereits traditionellen Stereotypen über „die Juden“, wobei er undifferenziert das Israel des Alten Testaments, die im Neuen Testament genannten „Juden“ und die Juden seiner eigenen Zeit in eins setzt und ihnen Unglauben vorwirft, aber auch eine dem „Irdischen“ verhaftete Haltung, Verstockung, Gottesmord und anderes mehr. In den Kommentaren zu den Prophetenbüchern richtet sich seine Polemik insbesondere gegen eine jüdische bzw. „judaisierende“ Auslegung, die die Propheten (selbstverständlich) nicht christologisch interpretiert. Hier dürften weniger Juden als vielmehr die Exegese Theodors von Mopsuestia angezielt sein, die Theodoret zu wenig christlich erscheint.

Literaturverzeichnis

1. Werke

  • Theodoreti Cyrensis Quaestiones in Reges et Paralipomena: Editio critica (hg. v. N. Fernández Marcos / J.R. Busto Saiz; Textos y estudios „Cardenal Cisneros“), Madrid 1984.
  • Theodoreti Cyrensis Quaestiones in Octateuchum: Editio critica (hg. v. N. Fernández Marcos / A. Sáenz-Badillos; Textos y estudios „Cardenal Cisneros“), Madrid 1979.
  • Commentaire sur Isaïe I-II (hg. v. J.-N. Guinot; SC 276, 295, 315), Paris 1980-1984 (griechischer Text + frz. Übersetzung).
  • Explanatio in Canticum Canticorum (Migne, PG 81), Paris 1864, 27-214.
  • Theodoret of Cyrus, Commentary on the Song of Songs (hg. v. R.C. Hill, Early Christian Studies 2), Strathfield 2001 (engl. Übersetzung).
  • Explanatio in Jeremiam (Migne, PG 81), Paris 1864, 495-806.
  • Explanatio in Ezechielem (Migne, PG 81), Paris 1864, 807-1256.
  • Explanatio in Danielem (Migne, PG 81), Paris 1864, 1255-1546.
  • Theodoret of Cyrus, Commentary on Daniel (hg. v. R.C. Hill, Writings from the Greco-Roman World 7), Leiden / Boston 2006 (griech. Text + engl. Übersetzung).
  • Explanatio in XII prophetas (Migne, PG 81), Paris 1864, 1545-1988.
  • Interpretatio in Psalmos (Migne, PG 80), Paris 1860, 857-1998.
  • Theodoret of Cyrus, Commentary on the Psalms (hg. v. R.C. Hill, Fathers of the Church 101-102), Washington 2000-2001 (engl. Übersetzung).
  • Commentarius in omni sancti Pauli epistolas (Migne, PG 82), Paris 1864, 31-878.
  • Theodoret of Cyrus, Commentary on the letters of St. Paul (hg. v. R.C. Hill), Brookline 2001 (engl. Übersetzung).
  • Teodoreto di Cirro, Commentario alla lettera ai Romani, Rom 1998 (ital. Übersetzung).

2. Lexikonartikel

  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004.
  • Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Freiburg i.Br. u.a. 1993-2001.
  • Handbook of Patristic Exegesis. The Bible in Ancient Christianity, Leiden / Boston 2004.

3. Weitere Literatur

  • Ashby, G.W., 1972, Theodoret of Cyrrhus as exegete of the Old Testament, Grahamstown.
  • Fernández Marcos, N., 1978, Theodoret’s Biblical Text in the Octateuch, Bulletin of the International Organization for the Septuagint and Cognate Studies 11, 27-43.
  • Fernández Marcos, N., 1987, Teodoreto de Ciro y la lengua hebrea, Henoch 9, 39-54.
  • Guinot, J.-N., 1984, L’importance de la dette de Théodoret de Cyr à l’égard de l’exégèse de Théodore de Mopsueste, Orpheus 5, 68-109.
  • Guinot, J.-N., 1984, Théodoret a-t-il lu les homélies d’Origène sur l’Ancien Testament?, VetChr 21, 285-312.
  • Guinot, J.-N., 1987, Théodoret imitateur d’Eusèbe: l’exégèse de la prophétie des ‚soixante-dix semaines’ (Dan 9,24-27), Orpheus 8, 283-309.
  • Guinot, J.-N., 1993, L’In Psalmos de Théodoret: une relecture critique du commentaire de Diodore de Tarse, CaBiPa 4, 97-134.
  • Guinot, J.-N., 1993, Les sources de l’exégèse de Théodoret de Cyr, StPatr 25, 72-94.
  • Guinot, J.-N., 1995, L’exégèse de Théodoret de Cyr, Paris.
  • Guinot, J.-N., 1997, Les fondements scripturaires de la polémique entre Juifs et Chrétiens dans les commentaires de Théodoret de Cyr, ASE 14/1, 153-178.
  • Ha, S.-S., 1997, Der Hoheliedkommentar Theodorets von Kyros als Beitrag zum Verständnis der antiochenischen Theologie, Freiburg (Diss.).
  • Hill, R.C., 2000, Theodoret. Commentator of the Psalms, Ephemerides theologicae Lovanienses 76, 88-104.
  • Mitchell, M., 1999, Ruth at Antioch. An English Translation of Theodoret’s „Quaestiones in Ruth“, with a brief commentary, Realia Dei, 195-214.
  • Petit, F., 1979, La tradition de Théodoret de Cyr dans les chaînes sur la Genèse, Le Muséon 92, 281-286.
  • Simonetti, M., 1986, La tecnica esegetica di Teodoreto nel Commento ai Salmi, VetChr 23, 81-116.
  • Simonetti, M., 1988, Le Quaestiones di Teodoreto su Genesi e Esodo, ASE 5, 39-56.
  • Siquans, A., 2002, Der Deuteronomiumkommentar des Theodoret von Kyros (ÖBS 19), Frankfurt.
  • Siquans, A., 2008, Antijüdisch? Theodorets ‚Quaestiones in Deuteronomium’ und seine perspektivische Bibellektüre, BZ 52, 19-39.

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