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(erstellt: Juli 2014)

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1. Allgemeines

1.1. Begriffserklärung

Die Amida („Stehgebet“) bezeichnet das Hauptgebet in der jüdischen Liturgie. Sie wird auch „Schmone Essre“, Achtzehn-(Bitten-)Gebet, genannt, wobei sie an Wochentagen neunzehn, am Schabbat und an Feiertagen sieben Bitten enthält. Da sie den Hauptteil von Morgen-, Nachmittags- und Abendgebet darstellt, wird sie im Talmud auch einfach „das Gebet“, ha-Tefila, genannt.

Man spricht die Amida nach innerer Sammlung, mit Andacht (Kavana), im Stehen, mit geschlossenen Beinen (Babylonischer Talmud, Traktat Berakhot 10b; Text Talmud), und keinesfalls von Reden unterbrochen. Das erstrebte Maß an innerer Konzentration sei, so der Talmud (Berakhot 30b.33a), derart hoch, dass man das Gebet selbst dann nicht unterbreche, wenn sich eine Schlange um seine Ferse windet.

1.2. Entstehung und Entwicklung

Zur Entstehung der Amida existieren mehrere Theorien. Im Tanach, der → Bibel, ist die Amida noch nicht erwähnt. Wenn später der Talmud davon spricht, dass „einhundertzwanzig Älteste, unter ihnen viele Propheten“ (Babylonischer Talmud, Traktat Megilla 17b) bzw. „einhundertzwanzig Männer, darunter achtzig Älteste und dreißig Propheten“ (Jerusalemer Talmud, Traktat Berakhot 2:4) die tägliche Rezitation der Amida eingesetzt haben (und der Midrasch [Sifre zu Dtn 34,3] gar die „frühen Propheten“ als deren Quelle nennt), so sagt das letztlich aus, dass die Amida wohl als sehr alt zu betrachten ist, ohne jedoch eine genaue Entstehungszeit festzuschreiben. Sicherlich haben sich auch die genaue Anzahl sowie Inhalt und Formulierung der jeweiligen Bitten erst im Lauf der Zeit entwickelt.

Als gesichert kann gelten, dass das Gebet, und hier im Besonderen die Amida, nach der Zerstörung des Zweiten Tempels den Opferdienst ersetzte. Nach traditioneller Auffassung erfolgte eine erste Redaktion der Amida am Ende des 1. Jh.s u.Z.; die Rolle des Redaktors wurde → Rabban Gamaliel II. zugeschrieben, einem der einflussreichsten Rabbinen in der Zeit, die auf die Zerstörung des Tempels folgte.

Während der Inhalt der Amida damit feststand, war der genaue Wortlaut offenbar noch über längere Zeit nicht festgelegt, und noch bis in das 4. Jh. u.Z. sind Abweichungen im Text überliefert.

Ob es auch Rabban Gamaliel war, der in Bezug auf Hillel mit der Bitte gegen die Häretiker (Birkat ha-Minim) die 19. Bitte in das Achtzehn-Gebet einfügte, wie Babylonischer Talmud, Traktat Berakhot 28b berichtet, oder ob die 19. Bitte durch eine Trennung der Bitte um den Wiederaufbau Jerusalems (Binjan Jeruschalajim) und die Wiederaufrichtung der davidischen Königsdynastie (Malchut bejt David) entstand, wie eine Textfassung aus der Kairoer Genisa nahelegt, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Der Begriff Achtzehn-Gebet (Schmone Essre) für die insgesamt neunzehn Bitten ist jedoch erhalten geblieben.

So, wie ein Jerusalemer / Palästinischer und ein Babylonischer Talmud existieren, gab es offenbar auch eine palästinische und eine babylonische Fassung der Amida. Dies ist aus einem Text ersichtlich, der sich in der Genisa zu Kairo befand. In der palästinischen Textfassung ist wohl das Thema der einzelnen Berakhot (Segenssprüche bzw. Bitten) identisch mit der allgemein üblichen (babylonisch beeinflussten) Fassung, jedoch weist der jeweilige Wortlaut deutliche Unterschiede auf. Insbesondere umfasst die palästinische Fassung nicht neunzehn, sondern achtzehn Berakhot: In ihr sind die 14. (Wiederaufbau von Jerusalem) und die 15. Berakha (Herrschaft des Königshauses David, bzw. Ankunft des Maschiach / Messias) zu einer Bitte zusammengefasst. Die heute übliche Fassung der Amida fußt auf der babylonischen Textfassung.

2. Struktur des Gebets

2.1. Werktagsamida

Der Aufbau der Amida ist dreiteilig: Am Beginn stehen drei Berakhot des Lobens (1.-3. Berakha), am Ende drei Berakhot des Dankens (17.-19. Berakha); dazwischen befindet sich ein Abschnitt mit dreizehn Bitten (4.-16. Berakha). Der Talmud vergleicht den Beter beim Sprechen der Amida mit einem Untertan, der zu seinem König kommt und zunächst den Gebieter mit Lobpreisungen ehrt, bevor er seine Bitten vorbringt und sich schließlich am Ende mit respektvollen Dankesbezeigungen verabschiedet. Dieses Stehen vor dem Ewigen als dem König der Welt wird auch dadurch symbolisiert, dass man sowohl zu Beginn des Gebets als auch am Ende der Amida jeweils drei Schritte zurückgeht und sich verbeugt. Im Morgengebet (Schacharit) und im Nachmittagsgebet (Mincha) in der Synagoge wird, bei Vorhandensein eines Minjan, d.h. zehn erwachsenen Juden, die Amida zunächst von jedem Beter leise für sich gesprochen. Anschließend erfolgt eine laute Wiederholung durch den Vorbeter, unter Einschaltung der so genannten Keduscha („Heiligung“), welche die Heiligkeit G’ttes betont. Im Abendgebet (Ma‘ariv) erfolgt keine laute Wiederholung im Gemeindegebet. Ebenso betet der Einzelne die Amida stets leise für sich, wenn er sein Gebet außerhalb der Gemeinde verrichtet.

Die Amida besteht aus den folgenden Berakhot :

1. Berakha: Avot / Stammväter: Der erste Teil der Amida ruft in Erinnerung, dass der Ewige der G’tt der Stammväter Avraham, Jitzchak und Ja‘akov ist, denen der Ewige stets Gutes erwiesen hat und um derentwillen auch deren Nachkommen in Liebe vom Ewigen bedacht werden.

2. Berakha: Gevurot / Macht: Der Ewige ist allmächtig, er ist auch Herr über Leben und Tod.

Ebenso ist Er auch der Herr über die Natur, und so bittet man an dieser Stelle im Winterhalbjahr um Regen, im Sommerhalbjahr um Tau, d.h. um Wasser für die Felder und für die Natur im Allgemeinen.

3. Berakha: Keduschat Ha-Schem / G’ttes Heiligkeit: Der Ewige ist heilig, und Sein Name ist heilig, von Anbeginn bis in Ewigkeit.

4. Berakha: Bina / Einsicht: Man bittet darum, dass einem der Ewige Einsicht und Verstand verleihen möge.

5. Berakha: Teschuva / Rückkehr: Man bittet den Ewigen darum, einen zu Ihm und Seinen Geboten zurückzuführen.

6. Berakha: Selicha / Verzeihung: Man bittet den Ewigen um Vergebung der Sünden.

Während dieser Berakha klopft man sich bei den Worten chatanu (wir haben gesündigt) und faschanu (wir haben gefrevelt) mit der rechten Hand auf die Brust, in Höhe des Herzens.

7. Berakha: Ge’ula / Erlösung: Man bittet den Ewigen um Israels Erlösung.

8. Berakha: Refu’a / Heilung: Man bittet um Heilung von Krankheit und Leiden für sich selbst und für alle Angehörigen des Volkes Israel, d.h. für alle Juden.

An dieser Stelle ist es üblich, im Stillgebet die Namen derer zu benennen, für die man um Genesung bittet.

Auch diese Berakha weist einen jahreszeitlich veränderlichen Wortlaut auf, mit der Bitte um „Segen“ im Sommerhalbjahr sowie um „Tau und Regen zum Segen“ während des Winterhalbjahrs.

10. Berakha: Kibutz Galujot / Sammlung der Zerstreuten: Man bittet den Ewigen um Zusammenführung der in der Diaspora verstreut lebenden Juden in ihr Land (d.h. Israel).

11. Berakha: Din / Gericht: Man bittet den Ewigen um gerechte Richter; dies kann auch verstanden werden als eine Bitte um Einsetzung einer eigenen jüdischen Legislative, d.h. um staatliche bzw. nationale Unabhängigkeit Israels.

12. Berakha: Birkat Haminim / Segen (oder vielmehr Fluch) gegen Häretiker: Man bittet den Ewigen, Er möge Verleumder vernichten und gegen einen gerichtete Übeltaten vereiteln.

13. Berakha: Zadikim / Segen für die Gerechten: Man bittet den Ewigen um Hilfe und Unterstützung für alle diejenigen, die in Seinen Geboten wandeln, seien sie nun Juden von Geburt oder durch Konversion.

14. Berakha: Binjan Jeruschalajim / Wiederaufbau von Jerusalem: Man bittet den Ewigen um die Rückkehr Seiner Schekhina (Seiner g’ttlichen Gegenwart) nach Jerusalem, um den Wiederaufbau der Stadt und die Wiedereinrichtung des davidischen Königsthrones.

15. Berakha: Malkhut Bejt David / Herrschaft des Hauses David: Man bittet den Ewigen um die Ankunft des Nachkommens aus dem davidischen Königsgeschlecht zur Hilfe und Erlösung, d.h. man bittet um die Ankunft des Maschiach (Messias).

16. Berakha: Kabalat Tefila / Erhörung des Gebets: Man bittet den Ewigen um eine wohlgefällige und gnädige Aufnahme der Gebete und um deren Erhörung.

17. Berakha: Avoda / Tempeldienst bzw. G’ttesdienst: Man bittet den Ewigen um Wiedereinrichtung des Tempeldienstes; dies schließt sowohl die Wiedererrichtung des Tempels als auch die Wiederherstellung des zentralen G’ttesdienstes in Jerusalem mit ein.

In diese Berakha wird am Neumondstag (Rosch Chodesch) und an den Zwischenfeiertagen von → Pessach und → Sukkot (→ Chol Ha-Mo’ed) eine besondere Bitte eingefügt („Ja‘ale we-javo“), in der wir uns dem Ewigen „in Erinnerung bringen“ und um Seine allgegenwärtige Hilfe bitten, und zwar sowohl dann, wenn der entsprechende Tag auf einen Werktag fällt, als auch, wenn er auf einen Schabbat fällt.

18. Berakha: Hoda’a / Dank: Dieser Abschnitt enthält den Dank an G’tt, für all das Gute, das Er den Menschen täglich erweist.

In diese Berakha erfolgt an Chanukka und an Purim jeweils eine Einschaltung zur Erinnerung an das jeweilige Fest sowie die wunderbare Errettung des Volkes Israel aus tödlichen Gefahren, welche beiden Festen zugrunde liegt.

Zudem wird bei der lauten Wiederholung der Amida am Ende der 18. Berakha der Priestersegen (Birkat Kohanim) durch den Vorbetenden angefügt.

19. Berakha: Schalom / Frieden: Man bittet den Ewigen, Er möge den Beter und „ganz Israel“ (d.h. allen Angehörigen des Volkes Israel, d.h. allen Juden) Frieden, Segen, Liebe und Barmherzigkeit zuteilwerden lassen.

Den Abschluss der (stillen) Amida bildet eine persönliche Meditation des Beters mit seinen ganz speziellen Bitten, oder die (im Gebetbuch festgeschriebene) Meditation nach Rav Mar ben Ravina, wie sie der Talmud überliefert (Berakhot 17a).

2.2. Schabbatamida

Auch die Schabbatamida ist dreiteilig aufgebaut, allerdings wird an diesem Tag das Achtzehn-Bitten-Gebet zu einem Sieben-Bitten-Gebet. Identisch mit der Werktagsamida sind der erste Teil mit seinen drei Berakhot des Lobens (entsprechend der 1.-3. Berakha am Werktag) und der dritte Teil mit den drei Berakhot des Dankens (entsprechend der 17.-19. Berakha am Werktag, die zur 5.-7. Berakha am Schabbat werden). Anstelle der dreizehn Bitten der Werkstagsamida steht im Mittelteil der Schabbatamida eine einzige Berakha, nämlich die Keduschat ha-Jom, die Heiligung des Schabbat, welche auf die 3. Berakha (der Verkündigung der Heiligkeit G’ttes) folgt.

Der Wortlaut dieser 4. Berakha differiert jeweils im Ma‘arivgebet (Abendgebet, am Freitag, zu Beginn des Schabbat), im Schabbat-Schacharitgebet (Morgengebet am Samstag) und im Minchagebet (Nachmittagsgebet am Samstag) des Schabbat.

Während am Freitagabend das Thema ein universalistisches ist und den Schabbat als den 7. Tag der Schöpfung preist, sind die Themen im Schacharit- und Minchagebet partikularistisch und betonen die Bedeutung des Schabbat als Bundeszeichen zwischen dem Ewigen und Seinem Volk Israel. In der Schacharitamida wird Bezug genommen auf die Übergabe der Gesetzestafeln am Sinai und das Schabbatgebot als Teil der Zehn Gebote. Das Minchagebet stellt die Einheit G’ttes und die → Erwählung Israels in den Vordergrund. Der letzte Absatz ist in allen drei Amidagebeten des Schabbat identisch und entspricht einer Bitte um G’ttes Beistand und die Erhaltung des heiligen Schabbattages.

Wie am Werktag, so wird auch die Amida im Gemeindegebet am Schabbat sowohl im Morgen- als auch im Nachmittagsgebet zunächst leise gebetet und anschließend laut vom Vorbeter wiederholt. Dabei wird die Keduscha, d.h. die Verkündigung von G’ttes Heiligkeit, eingefügt. Ebenso erfolgt darin der Einschluss der Birkat Ha-Kohanim, des Priestersegens.

Eine Besonderheit findet sich jedoch am Freitag-Abend. Nach Abschluss der stillen Amida folgt, im Gegensatz zum Werktag, doch eine Art Wiederholung der Amida durch den Vorbetenden. Diese hat die Form einer Zusammenfassung, eingebettet zwischen dem Zitat aus Gen 2,1-3 und dem letzten Abschnitt der Keduschat Ha-Jom. Diese Zusammenfassung der sieben Berakhot nennt man „Me‘ejn Scheva [Berakhot]“, was in der Regel mit „anstelle der sieben [Segenssprüche]“ übersetzt wird. Es kann aber auch als „Quelle des Segens“ [eigentlich: „Quelle der Segen“] gedeutet werden. Sie greift die wichtigsten Aspekte aus den Berakhot der Schabbatamida in jeweils einem zusammenfassenden Satz auf.

In der frühen Schabbatliturgie war die „Me‘ejn Scheva“ wohl zunächst nicht enthalten, wurde aber in der weiteren Entwicklung eingeführt, damit alle Beter der Synagogengemeinde zur gleichen Zeit ihr Gebet beenden konnten. Auch wer nicht von Anfang an im gemeinsamen Abendgebet mitbeten oder gar erst gegen Ende dazukommen konnte, war dadurch imstande, doch die Pflicht des Amidagebetes zu erfüllen. Der Sinn lag darin, dass alle Beter anschließend gemeinsam nach Hause zurückgehen konnten. In einer Zeit, in der die Synagogen nicht selten außerhalb lagen und die Umgebungsgesellschaft den Juden gegenüber oft feindselig eingestellt war, diente dies dem Schutz der Beter, zumal es nach Ende des Schabbatabendgebetes ja bereits Nacht ist. Niemand sollte alleine im Dunkeln zu seiner Wohnung zurückgehen müssen.

An den Werktagen erfolgte zur damaligen Zeit in der Regel kein gemeinsames Abendgebet in den Synagogen. Die Amida wurde zu Hause gesprochen, vor dem Schlafengehen.

Das Me‘ejn Scheva-Gebet weist keine auf Jahreszeit oder Festtage bezogenen Einschübe auf, sondern bleibt im Wortlaut stets unverändert.

2.3. Feiertags- und Mussafamida

Wie am Schabbat, so besteht auch die Amida an den biblischen Feiertagen, an → Rosch Haschana (Neujahrsfest), → Jom Kippur (Versöhnungstag) und an den jeweiligen Haupttagen der drei Wallfahrtsfeste → Pessach, → Schavuot (Wochenfest) und → Sukkot (Laubhüttenfest), aus dem Siebengebet, wobei die Keduschat Ha-Jom jeweils Bezug auf den entsprechenden Festtag nimmt.

An den Tagen zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur werden zusätzliche Einschübe in die Amida eingefügt. Diese – jeweils unterschiedlichen – Berakhot heben G’ttes Allmacht hervor und appellieren an Seine große Liebe und Barmherzigkeit. Ansonsten folgen die drei ersten und die drei letzten Berakhot an sämtlichen Feiertagen dem Wortlaut der Schabbatamida. Das Gleiche gilt für die Mussafamida, das Zusatzgebet am Schabbat sowie an den Fest- und den Neumondstagen, welches jeweils auf das Schacharitgebet folgt.

Unterschiedlich ist jedoch an allen diesen Tagen die 4. Berakha. Einst war das Mussafopfer im Tempel das zusätzliche Opfer für den Schabbat bzw. Festtag. So, wie die Gebete zu Ma‘ariv, Schacharit und Mincha sich an den früheren Opferzeiten im Tempel orientieren, repräsentiert auch das Mussafgebet als Ersatz das einstige Festtagsopfer. Anders als in den übrigen Berakhot der Amida ist jedoch in der mittleren Berakha des Mussafgebetes die wörtliche Erinnerung an das entsprechende Opfer zum jeweiligen Tag erhalten geblieben.

Besonders ausführlich beschreibt die Keduschat Ha-Jom-Berakha in der Mussafamida zu Jom Kippur den einstigen Tempeldienst des Hohepriesters an jenem Tag zur Tempelzeit, einschließlich des Rituals um den Sündenbock, den → Ziegenbock, welcher symbolisch mit den Sünden des ganzen Volkes beladen und in der Wüste einen Steilhang hinuntergestürzt wurde. Auch wird der Verlust des Tempels und seiner Pracht betrauert, des Weiteren sind die Selichot, Sequenzen von Bußgebeten, in diese erweiterte Berakha mit eingeschlossen. An Rosch Haschana enthält die 4. Berakha der Mussafamida, neben der Opfer-Beschreibung, die Huldigung G’ttes als König der Welt (Malchujot), Seiner Barmherzigkeit für alle Generationen (Sichronot) und Seiner Allmacht zusammen mit der Bitte um Erlösung (Schofarot).

An den Wallfahrtsfesten ist noch folgende Besonderheit zu erwähnen: Der erste Tag von Pessach gilt als Beginn des Sommerhalbjahres. Hier ist in die Mussafamida zusätzlich die Tefilat Ha-Tal, das Gebet um Tau (d.h. um genügend Wasser für das Land auch im heißen Sommer), eingeschlossen. Dagegen markiert Schemini Azeret, der Tag des Schlussfestes von Sukkot (Laubhüttenfest) den Beginn des Winterhalbjahres; daher enthält die Mussafamida an diesem Tag als Zusatz zur Opferbeschreibung die Tefilat Ha-Geschem, d.h. das Gebet um eine ergiebige Regenzeit.

3. Varianten des Gebets in den unterschiedlichen jüdischen Strömungen

Die bisher beschriebenen Inhalte folgen dem Ritus der orthodoxen Siddurim, d.h. Gebetbücher. Entsprechend der unterschiedlichen Auffassung zu bestimmten Aspekten innerhalb des jüdischen Glaubens finden sich charakteristische Unterschiede zum bisher Dargelegten in den liberalen Gebetbüchern. Hier werden in der 1. Berakha neben den Stammvätern auch die Stammmütter genannt, als Ausdruck der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Da das liberale Judentum auch einer tatsächlichen Wiedererrichtung des (irdischen) Tempels zu Jerusalem sowie einer Wiedereinrichtung des einstigen Opferdienstes ablehnend gegenübersteht, fehlen in der Amida die entsprechenden Erwähnungen, der Tempeldienst wird ersetzt durch die Bezeichnung G’ttesdienst, und anstelle der Opfer wird das Gebet genannt. Auch die differierende Auffassung von der Ankunft des Maschiach / Messias findet ihren Niederschlag im Wortlaut der Amida in Siddurim des liberalen Judentums, dergestalt, dass – wenn überhaupt erwähnt – vom messianischen Zeitalter die Rede ist anstatt von einem personifizierten Messias. Es ist also nicht von der Ankunft einer Person, sondern vom Eintreten des messianischen Heils und Friedens die Rede. Der reine „Wiederaufbau Jerusalems“ wird zu einer Errichtung der Stadt als einem Zentrum des Gebets, bzw. zu einer Stadt, deren Bewohner in Frieden leben. Damit wird dem bereits erfolgten Wiederaufbau der Stadt im modernen Staat Israel Rechnung getragen und um ein geistig-spirituelles Wiederaufrichten Jerusalems gebetet. David und das davidische Königshaus finden in der Regel keine Erwähnung mehr.

Entpersonifiziert wird auch die Birkat Ha-Minim, mit der Bitte um Vernichtung nicht des Verleumders bzw. des bösen Menschen, sondern um Auslöschung der Verleumdung bzw. der Bosheit; dies beinhaltet gleichzeitig den Gedanken der Teschuva, der Umkehr zu G’tt, die jedem Menschen bis zum Augenblick seines Todes offensteht.

Im Nürnberger Vorkriegsgebetbuch „Der Gottesdienst des Herzens“ ist die Birkat Ha-Minim sogar ersatzlos weggefallen, so dass das Achtzehn-Bitten-Gebet tatsächlich wieder aus 18 Bitten bestand. Dadurch wird die Bitte um den Wiederaufbau Jerusalems zur 13. Bitte, mit der Formulierung, G’tt möge sich Seiner Stadt wieder zuwenden und sie erstehen lassen „in unseren Tagen zu einer Stätte der Wahrheit und des ewigen Friedens, würdig der Lehre, die von ihr ausgegangen“, den politischen Gegebenheiten der damaligen Zeit entsprechend.

Besonders ausgeprägt sind die Unterschiede zwischen orthodoxen und liberalen Gebetbüchern in Bezug auf das Mussafgebet. Hier variieren auch die Wortlaute der liberalen Gebetbücher untereinander bisweilen deutlich. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sowohl in der Mussafamida am Schabbat als auch zu den drei Wallfahrtsfesten der Opferdienst fehlt. Dort, wo ein Sieben-Bitten-Gebet im Mussaf erhalten ist, spricht die 4. Berakha von der Heiligung des Tages als solchem, respektive vom G’ttesdienst als Gebet und Anerkennung von G’ttes Lehre. Manche liberalen Siddurim enthalten – als Alternative zusammen mit einem Sieben-Gebet in traditioneller Form oder anstatt des Sieben-Gebets – ein so genanntes Secher le-Mussaf, eine Erinnerung an das Mussafopfer. Im Secher le-Mussaf wird der Opferdienst als Teil vergangener Zeiten erwähnt und der Mensch ermahnt, stattdessen G’ttes Willen durch Einhaltung Seiner Gebote und damit durch einen ethischen Lebenswandel zu erfüllen.

Das Gleiche gilt für die Mussafgebete an Rosch Haschana und Jom Kippur. Hier bleiben wohl die Hauptgedanken von Malchujot (Königtum des Ewigen), Sichronot (G’ttes Barmherzigkeit) und Schofarot (Allmacht G’ttes und Erlösung) zu Rosch Haschana wie die Sühnegebete zu Jom Kippur erhalten. Der Opferdienst selbst kommt jedoch entweder gar nicht zur Darstellung, oder aber er wird lediglich erwähnt in seinem einstigen Zweck der Entsühnung, worauf dann der Bezug zur gegenwärtigen Zeit und den heutigen Möglichkeiten zur Sühne und Buße folgt.

Die Gebete um Regen und Tau (Tefilat Ha-Geschem und Tefilat Ha-Tal) werden zu einem großen Teil sehr verkürzt dargestellt. Eine Ausnahme bildet der israelische Reform-Siddur Avoda sche-ba-lev, in dem beiden Gebete zu Pessach bzw. Schemini Azeret ausführlich enthalten sind, sicherlich aufgrund der klimatischen Gegebenheiten im Land bzw. Staat Israel, die hier zum Tragen kommen und nicht nur die Erinnerung an das frühere Israel als einstiger Wohnstätte wachrufen sollen.

Konservative Siddurim unterscheiden sich im Wortlaut der Amida in der Regel nicht wesentlich von den orthodoxen Gebetbüchern, jedoch ist auch dort neben der Erwähnung der Stammväter die der Stammmütter zu finden.

Die Reconstructionist-Bewegung dagegen weist grundlegende Unterschiede im Gebet zu den übrigen Strömungen innerhalb des Judentums auf. Zwar ist sie den liberalen Formen dahingehend ähnlich, dass in der Amida Stammväter und Stammmütter erwähnt werden, dass Tempeldienst und Feueropfer sowie das Könighaus David nicht zu finden sind und dass anstelle des Maschiach die „messianische Hoffnung“ getreten ist. Gleichzeitig aber findet sich auch keine Erwähnung von Mosche / Moses und der Gabe des Gesetzes am Sinai, da dies als zu bildhaft empfunden wird und zudem ein „wörtlicher Glaube an den Sinai“ in dieser Strömung nicht besteht. Ebenso sind Tefilat Ha-Tal und Tefilat Ha-Geschem zwar als solche erhalten, im Wortlaut aber radikal modernisiert. Es kommt zum Ausdruck, dass die Menschen (nicht der Ewige), Israel wieder erbauen werden, dass aber der Ewige diese dahingehend inspirieren möge. Eine weitere Besonderheit ist, dass anstelle der jeweiligen Berakha auch eine Meditation zum jeweiligen Thema der Berakha gelesen werden kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die unterschiedlichen Auffassungen in den einzelnen Strömungen des Judentums jeweils in der Amida ihren Ausdruck finden; dennoch ist die Amida in allen diesen Strömungen weiterhin das Hauptgebet geblieben.

Literaturverzeichnis

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