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Ethik, interreligiös

(erstellt: Februar 2016)

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1. Ethik im Kontext interreligiösen Lernens – eine erste Annäherung

Wenn über → Ethik im Kontext des interreligiösen Dialogs oder im Kontext der → Interreligiöses Lernen nachgedacht wird, fehlt selten ein Verweis auf das von Hans Küng ins Leben gerufene Projekt → Weltethos (Küng, 2003). Ein wesentliches Ziel ethischen Lernens wird darin gesehen, das eigene ethische Handeln vor sich und anderen verantworten zu können. Es geht also um ein Lernen, das sowohl auf das lernende Subjekt selbst gerichtet ist als auch auf die Gesellschaft, in der es lebt und von der es geprägt ist. Dabei stellt sich ethisches Lernen dem Raum gesellschaftlicher Pluralität (Pfeifer, 2013, 37-39). Es geht darum, in Zeiten der Globalisierung „eine begründete wahrheitsfähige Urteilsbildung inmitten der verschiedenen, aus verschiedenen Weltanschauungen und Religionen gespeisten moralischen Selbstverständnisse zu erlangen“ (Grümme, 2015, 220; hierzu auch Benner/Brüggen, 2004, 698f.). Daraus wird vielfach die von religionspädagogischem Interesse geleitete Forderung aufgestellt, „die Rolle der Religionen etwa im Sinne von Küngs Projekt ‚Weltethos‘ im Religionsunterricht fruchtbar zu machen“ (Zimmermann, 2015a, 21; auch Baumann, 1998, 165; Lähnemann, 1995; Leimgruber, 2012, 28;201). Auf eine sehr kurze Formel gebracht, wird der religionsdidaktische Gewinn darin gesehen, in der sogenannten goldenen Regel, die in jeder der Weltreligionen zu finden ist, eine Basis für gemeinsames ethisches Handeln zu sehen, das Frieden unter den Religionen bewirken kann (Hasselmann, 2007, 270f.;278f.).

Seit der Aufklärung erscheint es evident, dass Ethik ohne Religion (→ ReligionReligiosität, Jugendliche) bedacht und gelebt werden kann, ja muss. So wichtig und richtig die Erkenntnis ist, dass Ethik autonom vom Einzelnen wie auch von einer Gesellschaft erarbeitet und reflektiert werden muss, so wichtig ist in einer von Pluralität geprägten → Lebenswelt die Erkenntnis, dass ethische Konzepte immer auch kulturell und weltanschaulich geprägt sind. So beeinflusst beispielsweise das verinnerlichte Menschenbild (→ Anthropologie) wesentlich die Antwort auf die Frage, was gendergerechtes Verhalten und Handeln (→ Gender) ausmacht (Grümme, 2012, 175-179). Aus diesem Grunde greifen auch Appelle, tolerant miteinander umzugehen (→ Toleranz), nur bedingt, denn es wäre ein Selbstwiderspruch, handelte man gegen die Logik der als richtig erkannten Überzeugungen (von Stosch, 2012, 301-316). Wenn also die dem Denken und Fühlen zugrunde liegende Weltdeutung das eigene Handeln und die verinnerlichten Haltungen ethisch begründet, ist zu fragen, ob und gegebenenfalls wie Prozesse ethischen Lernens im interreligiösen Kontext von der je eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugung ausgehen. Im Sinne des theologischen Wahrheitsanspruchs (→ Wahrheit) bedeutet das, den auf das Proprium der jeweiligen Religion bzw. Weltanschauung zurückzuführenden Ethikbegriff plausibel zu machen (Grümme, 2015, 221).

2. Religion und Ethik in pluralen Lebenswelten

2.1. Autonome Moral

Das Ethos einer jeden religiösen Tradition kann sich deutlich von dem einer anderen unterscheiden, ja dieser vielleicht sogar in einzelnen Aspekten widersprechen. Ethik kann, wenn sie Ethik einer bestimmten tradierten Religion ist, nicht von dem getrennt werden, was zu den Grundstücken der jeweiligen Religion gehört (Korff, 1995, 923f.). Deshalb muss auch interreligiöses Lernen, das sich ethischen Fragen stellen will, den Blick auf das Ethos richten, das gläubige Menschen leitet und das aus der Mitte ihrer Religion – und somit jeweils (moral-)theologisch begründet – erwächst. K. E. Nipkow spricht in diesem Zusammenhang vom „tragenden[n] religiöse[n] Wurzelboden des Ethischen“ (Nipkow, 1998, 432). Ethik ist nicht einfach eine Teilmenge von Religion. Aus der Perspektive der Religion(en) formuliert: Aus Religion erwächst eine der jeweiligen Tradition angemessene, zu ihren theologischen und weltanschaulichen Grundlagen passende Ethik. Das gilt es bei der Planung von religiös-ethischen Lehr- und Lernprozessen zu bedenken, mit den Lernenden zu besprechen und zu problematisieren. Eine solche Reflexion ist notwendig, wenn die mit dem jeweiligen Lebenskonzept verknüpfte Verpflichtung deutlich werden soll.

Wenn es um das Verhältnis autonomer Moral im Sinne I. Kants und einer dezidiert theologischen → Ethik geht, ist nach dem Proprium einer theologisch begründeten Ethik zu fragen, „das nicht nur in allgemeinen Grundhaltungen des Glaubens, sondern auch in konkreten ethischen Weisungen sichtbar wird“ (Schockenhoff, 2007, 21). Daher ist bei theologischen Begründungen ethischer Fragen immer zu unterscheiden, ob diese von einem offenbarungstheologischen Standpunkt aus argumentiert oder von einem, der sich für christliche Theologie unter dem Stichwort der anthropologischen Wende fassen lässt (Schockenhoff, 2007, 21f.). Heute sind die meisten der evangelischen wie katholischen Ethikentwürfe dem letztgenannten Ansatz verpflichtet, „der methodisch mit der Rückfrage des Menschen nach sich selbst einsetzt“ (Schockenhoff, 2007, 22; hierzu auch Ernst, 2009, 18-20). Dagegen argumentieren beispielsweise Entwürfe islamisch-theologischer Ethik weitgehend offenbarungstheologisch (hierzu auch Tautz, 2007, 232f.). Auch bei dieser Position spielt menschliches Urteilsvermögen eine wichtige Rolle. Die Kraft autonomer Vernunft wird jedoch insofern kritisch betrachtet, als darin die Endlichkeit des Menschen und seine damit verbundenen Schwächen auch und gerade in ethischen Fragen übersehen oder zu wenig beachtet werden. So betont der schiitisch-muslimische Theologe M. R. H. Beheshti: „Voraussetzung für die Befolgung von Gottes Geboten ist die vernünftige Erkenntnis oder zumindest die Einsicht der rationalen Widerspruchslosigkeit des Glaubens an sein Dasein, die für eine tiefere Überzeugung an Ihn Raum lässt, sowie die nachweisbare Authentizität seiner Offenbarung, die die Hauptquelle all seiner Gebote ist“ (Beheshti, 2014, 143). Es geht einerseits darum, den Gottesglauben rational begründen zu können, und andererseits darum, in Fragen der Ethik den Koran als die letztgültige → Offenbarung Gottes anzuerkennen. Allerdings bleibt auch für den anthropologischen Zugang zu theologischer Ethik zu betonen, dass Autonomie im Sinne einer theonomen Autonomie verstanden wird, das heißt: Gott selbst ist Urgrund menschlicher Vernunft. Darin unterscheidet sich diese Form der Urteilsbildung von einer säkularen Vernunft (Grümme, 2015, 218).

Wenn von autonomer Moral gesprochen wird, sei es im theonomen oder in einem säkularen Sinne, geht es keineswegs um eine vollkommen individualisierte und beliebige Form der Ethik, sondern im Sinne I. Kants und seines kategorischen Imperativs um eine vor dem Gemeinwohl verantwortete Ethik. Daher ist auch die Rede von einem moralischen Relativismus problematisch. K. Hilpert mahnt an, zwischen einem dogmatischen und einem verantworteten Relativismus (Pluralismus) zu unterscheiden. Ein dogmatischer Relativismus geht davon aus, dass die Wahrheitsfrage unlösbar und daher sinnlos sei. „Für den Pluralismus hingegen ist es kennzeichnend, dass er am Wahrheitsanspruch festhält, gleichzeitig aber bereit ist, andere (religiöse, weltanschauliche oder philosophisch begründete) ethische Standpunkte zur Kenntnis zu nehmen und sich mit ihnen ernsthaft auseinanderzusetzen“ (Hilpert, 2009, 242).

2.2. Werte und ethisches Handeln

Ethisches Lernen soll Werte vermitteln, soll Werthaltungen kritisch reflektieren, soll traditionelle Werte auf ihre Tragfähigkeit heute hin befragen. Im Sinne von „moralischen Überzeugungen“ (Ernst, 2009, 11) vermögen Werte allerdings „nur allgemeine, übergreifende, also gerade nicht situationsspezifische Orientierungen“ zu geben (Hilpert, 2009, 199). Werte sind Elemente einer gelebten Praxis, sie sind Teil des Selbstverständnisses von sozialen Gruppen mit einem gemeinsam vertretenen Weltverständnis. Werte spiegeln also unsere Weltdeutung, sie sagen etwas darüber aus, wie wir die Welt sehen. Das zeigt sich beispielsweise, wenn Werte als Bestandteil einer kulturellen oder religiösen Tradition an die nächste Generation weitergegeben werden, ohne dass sie explizit zum Thema gemacht werden (Hilpert, 2009, 203-207). Das ist für religiöse Lehr- und Lernprozesse, die sich mit ethischem Lernen befassen, wichtig. Denn damit ist auch gesagt, dass die Orientierung an Werten niemals allein ein Akt der Erkenntnis ist, sondern immer auch von Inkulturation und Sozialisation (→ Sozialisation, religiöse).

Um Orientierung für das eigene Handeln geben zu können, müssen Werte erfahrbar werden. Sie können nicht einfach bloß geistig konstituiert werden. Eine Voraussetzung für Werterfahrung und deren konstitutiver Bestand gleichermaßen ist das eigene emotionale Bedürfnis, weshalb Werterfahrung auch abhängig von der emotionalen Reife (→ Emotionale Bildung) der Persönlichkeit ist. Bestätigt werden diese Einsichten auch durch eine von Monika Keller erarbeiteten Längsschnittstudie an 7-, 9-, 12- und 15-Jährigen, die nachweisen konnte, dass mit zunehmendem Alter das moralische Urteil besser mit der präferierten Handlungsentscheidung übereinstimmt (Oster/Althof, 2002, 196-198). Solcher Art empirisch erfasste Daten legen es nahe, moralische Entwicklung als einen zweistufigen Lernprozess zu begreifen, bei dem zunächst das Wissen um moralische Regeln und ein angemessenes Verständnis ihrer intrinsischen Geltung erworben wird und darauf folgend in einer zweiten Lernphase moralische Motivation aufgebaut wird (Nunner-Winkler, 1999, 308-310). Um diesen doppelten Lernprozess auch bei intentionalen ethischen Lernprozessen anzubahnen,verweisen Oser und Althof trotz der kritischen Gegenstimmen auf Lernräume, in denen eine Art Zirkel von ethischem Handeln und Reflexion dieses Handelns lebendig sein kann: dem Konzept der just-community-schools (Oser/Althoff, 2001, 337-458; auch Steinebach, 2000, 142f.).

3. Ethisches Lernen im interreligiösen Kontext

3.1. Ethisches Lernen im interreligiösen Kontext – eine komplexe Herausforderung

So wie es zu vergleichenden Grundfragen der Ethik in den Religionen bisher kaum Forschungsergebnisse gibt (Beheshti, 2014), so gibt es auch für ethisches Lernen im Rahmen einer Didaktik der Religionen kein Modell ethischen Lernens, das sich spezifisch mit interreligiösen Lehr- und Lernprozessen befasst (zu Modellen ethischen Lernens allgemein: Ziebertz, 2010, 439-445; Oser/Althoff, 2001, 83-123; Pfeifer, 2013, 57-83). Dies dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass sowohl Prozesse ethischen als auch Prozesse interreligiösen Lernens sehr komplex sind und daher eine Reihe an entwicklungsbedingten Voraussetzungen (→ Entwicklungspsychologie) bedacht sein wollen, die nur schwer in einem Schema zu fassen sind. Wichtig ist in diesem Zusammenhang das sowohl für ethisches als auch für interreligiöses Lernen bedeutsame Zusammenwirken von Emotion und Kognition (→ kognitive Aktivierung; → Metakognition) (Tautz, 2007, 341-345). Nicht nur im Hinblick auf die moralische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, sondern auch mit Blick auf die bei Prozessen interreligiösen Miteinanders entscheidende Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf den Anderen im Gespräch wahrhaft einlassen zu können, ist die Frage nach Werterfahrung und prosozialem Verhalten (Tautz, 2007, 344f.) entscheidend.

Wenn ethisches Lernen im interreligiösen Kontext Glaubensentwicklung und moralische Entwicklung gleichermaßen fördern möchte, ist ein entsprechendes Umfeld wichtig. Die Bereitschaft zur Veränderung von moralischen Vor-Urteilen hin zu begründeten Urteilen, aber auch die Bereitschaft, das eigene Handeln neu auszurichten, wird dann gefördert und herausgefordert, wenn die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen direkt betroffen ist. Je mehr Glaubenseinsichten vom Heranwachsenden als hilfreiche Unterstützung bei der Bewältigung der Entwicklungsaufgaben als personale Ressource und Lebenshilfe wahrgenommen werden kön­nen, desto mehr dürften Motive und Normen ihres Selbstkonzepts angesprochen werden (Grom, 2005, 28). Ist es für ethisches Lernen allgemein wichtig, dass solche Lernprozesse auf Kontinuität hin angelegt sind, so sollte für den interreligiösen Rahmen der → Glaube als motivierende Mit-Erfahrung und transsoziale Unterstützung erlebbar sein. Auf diese Weise kann die schwierige Aufgabe eines Denkens in Komplementarität angegangen werden, das die Logik der eigenen religiösen Überzeugung für ethisches Handeln wahrnimmt und anerkennt sowie zugleich offen wird für das und den Andere(n) bzw. Fremde(n) (→ Fremdheit). Da sich emotional verankerte Vor-Urteile durch argumentative Überzeugungsarbeit nur schwer verändern lassen, stellt ein doppelpolig angelegtes Lernen, in dem Reflexion und Handeln zirkulär angeordnet sind, einen erfahrungsoffenen und reflektierenden Weg gleichermaßen dar. Das will an allen Lernorten (→ Lernorte religiöser Bildung), wenn auch in unterschiedlicher Intensität, beachtet sein.

3.2. Ethisches Lernen im interreligiösen Kontext – am Lernort Kindergarten

Erfahrungen von Pluralität gehören zum Alltag im Kindergarten (→ Kindertagesstätte). Auch Kindergärten in konfessioneller Trägerschaft müssen die Tatsache pluraler Weltdeutungs- und Lebenskonzepte für ihr religionspädagogisches Konzept beachten. Es geht um ein „interaktives Geschehen zwischen Beteiligten mit unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen“ (Schlesinger, 2014, 184). Die Aufgabe, damit umzugehen, wird von staatlicher Seite in zunehmendem Maße eingefordert. So sind beispielsweise in Nordrhein-Westfalen vom Familienministerium Bildungsgrundsätze für Kinder im Alter bis zu zehn Jahren erarbeitet worden, die einen eigenen „Bildungsbereich Religion und Ethik“ ausweisen. Darin heißt es: „Religiöse Bildung und ethische Orientierung sind miteinander verbunden und Teil der allgemeinen und ganzheitlichen Bildung. Religion und Glaube beantworten nicht nur die Grundfragen des Lebens, sondern begründen auch die Werte und Normen, an denen sich Menschen orientieren können. Religiöse Bildung ermöglicht die Entwicklung von ethischen Einstellungen und sozialen Haltungen. Ethische Orientierung erwächst aus einer mit Kindern geteilten Lebenspraxis. Der Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertebewusstsein und Handeln im Hinblick auf sinnstiftende Lebensdeutungen ist von grundlegender Bedeutung“ (Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport/Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2013, 53). Diese Feststellung ist insofern bemerkenswert, als Sozialwissenschaft und Familienpolitik diese Verknüpfung lange ignorierten. Geteilte Lebenspraxis bietet sich am Lernort Kindergarten an. „In der Begegnung mit Menschen anderer kultureller Herkunft lernen Kinder, Gemeinsamkeiten und Unterschiede wahrzunehmen, die eigene kulturelle Identität weiterzuentwickeln und sich mit anderen in Alltagssituationen zu verständigen“ (Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, 2013, 28). Wird also Pluralität bewusst wahrgenommen und in seiner vielgestaltigen Lebendigkeit schätzen gelernt, kann in der Begegnung mit Menschen anderer Kulturen (→ Interkulturalität) und Religionen, in der Begegnung mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Festen ein Bewusstsein der eigenen Zugehörigkeit entwickelt werden (Schlesinger, 2014, 186).

Für die vorschulische Erziehung ist dabei in besonderem Maße zu bedenken, dass Werte im Sinne ethisch-moralischer Prinzipien untrennbar an die religiösen bzw. weltanschaulichen Grundlagen der Familien gebunden sind (Schlesinger, 2014, 183). Aus diesem Grunde kann ein auf ethisches Lernen hin ausgerichtetes interreligiöses Lernen nicht ohne Einbinden der Eltern gelingen. Besonders in Fällen religionsverschiedener Eltern bedarf es eines sensiblen und religionskundigen Umgangs (Froese, 2005, 272f.).

3.3. Ethisches Lernen im interreligiösen Kontext – am Lernort Schule

Interreligiöses Lernen spielt im Religionsunterricht (→ Religionsunterricht, evangelisch; → Religionsunterricht, katholisch; → Religionsunterricht, orthodoxer) eine zunehmend wichtige Rolle. Neben religionskundlichen, über andere Religionen informierende Inhalte geht es dabei häufig auch um die ethische Haltung des Respekts oder der Achtsamkeit dem Anderen, dem Fremden gegenüber.Das belegt nicht zuletzt das zum interreligiösen Lernen allgemein bereits erstellte Unterrichtsmaterial (Bauer/Sommerhoff, 2014; Meyer, 2012, 305; Meyer, 2006; Zimmermann, 2015b). Allerdings ist vor allem für den Unterricht ab der Mittelstufe die Frage, inwieweit das angestrebte Ziel von Anerkennung des Anderen bei gleichzeitiger Wahrung der Differenzen mit Blick auf die Wahrheitsfrage in den Religionen, religionsdidaktisch noch nicht ausreichend geklärt ist (vgl. hierzu den Versuch einer fundamentalen und konkreten Didaktik des interreligiösen Lernens bei Tautz/Altmeyer, 2015).

Für den Primarbereich und die Unterstufe der weiterführenden Schulen sprechen entwicklungspsychologische Erkenntnisse dafür, nicht zu früh ethische Positionen ver­schiedener Religionen vergleichend und reflektierend zu thematisieren, weil sich die Fähigkeit, → Perspektivenwechsel einzunehmen, sich in die Welt des Gegenübers einzudenken, ohne die eigene Position aufzugeben, erst mit der Zeit entwickelt (Tautz, 2015). Demgegenüber darf und kann ein interreligiöses Lernen mit Schülerinnen und Schülern ab der Mittelstufe auf solche kritisch vergleichende Ansätze nicht verzichten und muss im Sinne einer Differenzierung der Niveaus kompetenzorientierten Arbeitens (→ Kompetenzorientierter Religionsunterricht) bis hin zur Sekundarstufe II aufgebaut sein. Dazu ist es notwendig, das die Religionen leitende Ethos an theologisch stimmig ausgewählten Beispielen in das Zentrum des Unterrichts zu rücken. Auf diese Weise kann aufleuchten, dass und inwiefern Religionen mit ihrem je eigenen Gottes-, Menschen- und Weltbild Ethik prägen.

3.4. Ethisches Lernen im interreligiösen Kontext – am Lernort Gemeinde

Was für interreligiöses Lernen am Lernort Gemeinde allgemein gilt, gilt auch für das Nachdenken über ethische Haltungen und ethisches Handeln: Die Entwicklung interreligiöser Kompetenz kann mit Stefan Leimgruber als eine der grundlegenden Vollzüge christlichen Glaubens in der → Katechese bezeichnet werden (Leimgruber, 2011). Dass interreligiöse Lernprozesse am Lernort Gemeinde allgemein sowie fokussiert auf Fragen der Ethik im Besonderen bisher kaum Beachtung finden, hat gute Gründe. Viele der in der Katechese Engagierten empfinden ein großes Unbehagen, nicht zuletzt weil sie sich selbst unsicher im Umgang mit nicht-christlichen Religionen fühlen. Dabei sind vor allem die Gottesfrage und die damit verbundenen ethischen Implikationen für die Gestaltung einer pluralen Gesellschaft ein nicht zu vernachlässigendes Feld religiöser → Erwachsenenbildung. So geht beispielsweise der Religionssoziologe Karl Gabriel davon aus, dass ein in der Öffentlichkeit diskursiv ausgetragener Suchprozess hinsichtlich des Gottesglaubens für eine plurale Öffentlichkeit, wie sie unsere Gesellschaft darstellt, notwendig ist (Gabriel, 2008, 266). Die Gottesfrage bietet sich für den Lernort Gemeinde an, um im Dialog mit Menschen einer anderen Religion über die Gottesfrage auch Fragen der Ethik zu reflektieren. Gemeinsam gestaltete Aktivitäten, wie beispielsweise die Betreuung Kranker aus den Gemeinden im Krankenhaus oder in Seniorenwohnheimen lebender Gemeindemitgliedern, können diesen theologischen Grundlagengesprächen dann ein Feld ethischer Praxis zur Seite stellen.

Eine in der Gemeindearbeit und der kirchlichen Erwachsenenbildung bisher kaum beachtete Herausforderung stellen „die besonderen theologischen und religionspädagogischen Anliegen einer religionsverschiedenen Familie“ (Froese, 2005, 277) dar. Wenn zwei Religionen im Alltag einer Familie gelebt werden, sind häufig Fragen der Ethik Auslöser für interreligiöse Gespräche, die nach den religionsspezifischen Wurzeln der jeweiligen Ethik fragen.

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