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(erstellt: November 2020)

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1. Allgemein

Das Vergessen ist eine Funktion des → Gedächtnisses und als solche dem Erinnern zunächst nicht entgegengesetzt, sondern beide Prozesse und Fähigkeiten des menschlichen Gehirns sind komplementär aufeinander bezogen (vgl. Abbt 2019, 20), was sich bis hin zu dem Punkt weiterdenken lässt, an dem Vergessen und Erinnern als so stark ineinander verschränkt verstanden werden, dass ihre klare Abgrenzung voneinander überhaupt infrage zu stellen ist (Ricoeur).

Eine bemerkenswerte Leistung menschlicher Erkenntnisfähigkeit, vielleicht sogar eine entscheidende Voraussetzung kritischen Denkens (Abbt 2016 und 2019) liegt darin, sich seines eigenen Vergessens bewusst werden zu können. Auch das Alte Testament reflektiert über das Vergessen. Der Großteil der Belege verweist auf ein Bedeutungsspektrum, das weit über das (Nicht-)Abrufen von Informationen hinausreicht, sondern eher im Bereich des Handelns anzusiedeln ist und (wie auch das „Erinnern“, vgl. Neumann) eine deutliche Beziehungskomponente hat. Die alttestamentliche „Theorie des Vergessens“ (wenn auch nirgends explizit entwickelt) reiht sich in dieser Fokussierung auf Intentionalität, Handeln und Beziehung in der überwiegenden Zahl der Belege (s.u.) in Zusammenhänge von Respekt und Anerkennung ein. Mit Gadi Algazi lässt sich dann auch für das Alte Testament festhalten: „the most useful short translation for memoria in this context is not memory but honor, and ‘forgetting’ actually means disfiguring and dishonoring” (Algazi, 31). Ist die Beziehungsebene als wesentlicher „Ort” des alttestamentlichen Redens vom Vergessen erkannt, so lassen sich auch Aussagen über das Vergessen Gottes (mit Gott als Subjekt) einordnen, die in der dogmatisch-systematischen Reflexion herausfordern. Hier mag es sich anbieten, Vergessen im Kontext von Vergebung zu verstehen (von Sass / Zachhuber).

Neben den aktiven, intentionalen und beziehungsorientierten Formen des Vergessens begegnet im Alten Testament auch verschiedentlich das Vergessen als ganz alltäglicher kognitiver Vorgang (nicht [mehr] denken an; nicht erinnern). Im Sinne einer Systematisierung lässt sich daher mit Aleida Assmann zwischen „aktiven“ und „passiven“ Formen des Vergessens unterscheiden. Passives Vergessen ist dabei eher mit unabsichtlichem Verlust assoziiert, aktives Vergessen hingegen wird durch absichtliche Löschung herbeigeführt bzw. angestrebt. Im Blick auf das Alte Testament ist auf Grundlage der Verteilung der Belege ferner eine Unterscheidung zwischen theologischen (s.u. 3.1.2.) und nicht-theologischen (s.u. 3.1.1.) Verwendungsweisen gewinnbringend.

Ein eigener rezenter Forschungszweig der alttestamentlichen Wissenschaft beschäftigt sich unter Hinzuziehung sozio-anthropologischer Herangehensweisen mit der Frage, wie Funktionen des kulturellen bzw. sozialen oder kollektiven → Gedächtnisses („Social Memory“) sich auf die Schriftproduktion im antiken Juda ausgewirkt haben (oft genannte Beispiele sind Smith 2004; Davies 2008; Ben Zvi u.a. 2012; Ben Zvi / Edelmann 2013; Wilson 2013; Pioske 2015; Wilson 2017; Ben Zvi 2019; für Überlegungen zum „kulturellen Gedächtnis“ [Assmann etc.] → Gedächtnis; vgl. außerdem den stark an der Schreiberkultur und Schreiberausbildung interessierten Ansatz bei Carr). Diesem Forschungszweig geht es u.a. um die Frage, wie und mit welchem Ziel für die Gegenwarts- und Identitätsbildung eine Tradentengemeinschaft (tatsächliche oder konstruierte) Ereignisse ihrer Geschichte überlieferte und gestaltete (Ben Zvi 2019, 6 et passim). Diese Tätigkeit umschließt neben der kreativen Gestaltung der überlieferten Tradition auch die Möglichkeit, Traditionselemente auszuschließen, ein Mechanismus, der in der Erinnerungskultur einer Gemeinschaft ebenso wichtige identitätsbildende Funktionen einnehmen kann wie die explizit erinnerten, durch Erzählungen, Rituale etc. im gesellschaftlichen Leben wachgehaltenen Inhalte (Wilson, 133; Schwedler, 12.21; Ben Zvi 2019, 9). Im Blick auf einen in einer Gesellschaft tradierten Grundbestand an gemeinsamen Überlieferungen, Texten und Traditionselementen („sites of memory“, Ben Zvi) gibt es also Filterprozesse, die das gemeinschaftliche Vergessen bestimmter Traditionen befördern, wie es etwa Jörg Jeremias für die vergessene, da nicht tradierte „falsche“ Prophetie der vorexilischen Zeit konstatiert.

2. Begriffe und Verwendungsweisen

Der übliche Terminus für „vergessen“ ist im Hebräischen שָׁכַח šākhaḥ. Damit hat das Hebräische eine eigenständige Wurzel für „vergessen“ ausgebildet, die im semitischen Sprachraum sonst nicht bezeugt ist (vgl. Berger, 5).

Im Aramäischen wird שָׁכַח šākhaḥ (wie auch im Ugaritischen, vgl. Berger, 18-21) in der Regel in der Bedeutung „finden“ (in verschiedenen Bedeutungsnuancen) verwendet (vgl. Esr 4,14-15.19; Esr 7,16; Dan 2,25; Dan 5,11f; Dan 5,14; Dan 5,27; Dan 6,12; Dan 6,23; 1QGenAp 22,7).

Die Textausgabe der Biblica Hebraica Stuttgartensia zählt 104 Belege für שָׁכַח šākhaḥ (verteilt auf 97 Verse). Daneben gibt es den im Alten Testament seltener belegten, bedeutungsgleichen (vgl. Berger 1968, 28) Begriff נָשָׁה nāšāh (vgl. Gen 41,51; Hi 11,6; Hi 39,17; Jes 44,21; Jer 23,39; Ps 88,13; Klgl 3,17). Von נָשָׁה nāšāh herzuleiten ist wohl auch die ungewöhnliche, im Masoretischen Text als תֶּשִׁי tæšî (von einem Verb שָׁיָה šājāh) vokalisierte Form in Dtn 32,18, die in paralleler Verwendung mit שָׁכַח šākhaḥ steht (Otto, 2149). Der gängigste Kontrastbegriff zum Vergessen ist זָכַר zākhar „erinnern / gedenken“, wie die häufige gemeinsame Verwendung der beiden Wurzeln illustriert (Gen 40,23; Dtn 9,7; Ri 8,34; 1Sam 1,11; Jes 17,10; Jes 54,4; Jer 31,34; Hi 24,20; Ps 6,6; Ps 9,13; Spr 31,7; Pred 2,16). Daneben begegnet in kontrastiver Verwendung zu שָׁכַח šākhaḥ aber z.B. auch נָצַר nāṣar „bewahren“ (Ps 78,7; Spr 3,1).

„Vergessen“ und „Erinnern“ bezeichnen auf das Gros der alttestamentlichen Belege gesehen keine rein kognitiven Funktionen (im Sinne von „an etwas [nicht] denken“), sondern sind als weit aktivere Tätigkeiten zu verstehen. Das „Erinnern“ deckt (neben der alltäglichen Bedeutung „denken an“) ein Bedeutungsspektrum ab, das von der „gefühlsbetonten Anteilnahme“ bis hin zum „tathaften Verhalten“ reicht (Schottroff). Auch die Bedeutungsmöglichkeiten des „Vergessens“ reichen (neben der alltäglichen Bedeutung „nicht [mehr] denken an“) vom absichtlichen Ignorieren bis hin zum tätigen Verwerfen oder Verlassen (vgl. Ri 3,7; Spr 2,17; Jes 49,14; Jer 23,39; Klgl 5,20). Letzteres illustrieren die Belege, die „vergessen“ zusammen oder parallel mit den Handlungen „verschmähen“ (נָאַץ in Klgl 2,6), „übertreten“ [von Geboten] (עָבַר in Dtn 26,13), „verlassen“ (עָזָב in Jes 49,14; Jes 65,11; Klgl 5,20; Spr 2,17; Hi 9,27) oder „betrügen“ (שׁקר in Ps 44,18) verwenden.

Konzeptionell verwandt ist dem Vergessen aufgrund seiner aktiven Komponente auch z.B. das „Auslöschen“ (מָחָה) des Gedächtnisses bzw. der Erinnerung an etwas / jemanden / eine Größe (vgl. Ex 17,14; Dtn 25,19; Neh 13,14; Jes 43,25) bzw. das Auslöschen des Namens, das einem aktiven Herbeiführen des (kollektiven) Vergessens gleichkommt (vgl. Dtn 9,14; Ps 9,6; in Negativformulierung Dtn 25,6 und 2Kön 14,27).

Ist Gott das Subjekt des Vergessens, so kann dieses Geschehen auch so umschrieben werden, dass er sein Angesicht verbirgt (vgl. Ps 10,11; Ps 13,2; Ps 44,25). Dementsprechend meint זָכַר zākhar „erinnern“ als Gegenbegriff zu „vergessen“ in theologischer Verwendung häufig die gnadenhafte (Wieder-)Zuwendung Gottes. Insbesondere die priesterliche Tradition bedient sich häufig des Bildes, dass Gott seines Volkes bzw. seines Bundes gedenkt (Gen 8,1; Gen 9,15; Gen 19,29; Gen 30,22; Ex 2,24; Lev 26,42.45; vgl. Verhey, 667).

Die Septuaginta gibt שָׁכַח šākhaḥ „vergessen“ in der Regel mit ἐπιλανθάνομαι „vergessen“ wieder, aber auch zweimal mit καταλείπω „zurücklassen“ (Jes 17,10; Jes 23,15).

3. Belege und Kontexte

Subjekte des Vergessens können Menschen oder Gott sein, das Konzept kann aber auch auf Tiere angewendet werden (vgl. Hi 39,15).

Mögliche Verwendungskontexte sind sowohl profane als auch theologische Aussagen. Objekte können dementsprechend Dinge, Widerfahrnisse, Menschen und Gott, spezieller auch Gottes → Bund, seine → Tora und sein Handeln in der Geschichte sein. In den Schriften aus → Qumran dominieren bei gleichem Bedeutungsspektrum die Belege in theologischer Verwendung (vgl. für die Einzelbelege den Eintrag im Theologischen Wörterbuch zu den Qumrantexten).

Die o.g. Begriffe (2.) sind in allen Kanonbereichen belegt. Eine gewisse Kumulation der Belege findet sich aber in der deuteronomisch-deuteronomistischen Literatur (und von dort her beeinflussten Texten, dazu s.u. 3.1.2.; → Deuteronomismus) und im → Psalter.

3.1. Menschliches Gedächtnis

In der allgemeinen altorientalischen Anthropologie ist der „Sitz“ des Vergessens wie des Erinnerns nicht das Gehirn, sondern das → Herz (vgl. Spr 3,1; Jes 47,7; Jes 57,11; Jes 65,17; Jer 3,16; in 4QBarkc 1.15 parallel dazu auch die → Nieren), das gleichermaßen als Sitz menschlichen Fühlens, Denkens und Wollens verstanden wird (vgl. Janowski, 148-155). So kann das Vergessen in Dtn 4,9 auch umschrieben werden mit „aus dem Herzen weichen“ (סוּר מִלֵּב), wobei das Herz hier auch Speichermedium von Sinneseindrücken ist (die Heilstaten, die die Augen gesehen haben). In Ägypten wusste man zu sagen: „das Herz ist vergesslich“ (Lehre des Ptahhotep, vgl. TUAT.AF III, 197, Z. 16) oder auch: „die Kunst Gottes ist es, die Herzen vergessen zu lassen“ (Grabinschrift des Petosiris, vgl. TUAT.AF II, 531). Hier reiht sich auch der in Ägypten gängige Terminus smḫ jb, „das Herz (die Sorge) vergessen lassen“ als Bezeichnung für Liebeslieder ein (vgl. TUAT.AF II, 833.900).

3.1.1. In Bezug auf Menschen, Dinge und Umstände

Der Begriff שָׁכַח šākhaḥ (wie auch das seltenere נָשָׁה nāšāh) bezeichnet zunächst das allgemein menschliche Phänomen des Vergessens in all seinen Schattierungen: So kann aus Unachtsamkeit ein Gegenstand vergessen werden (die bei der Ernte auf dem Feld vergessene Garbe, vgl. Dtn 24,19). Auch können Menschen einander vergessen, z.B. indem sie sich gegenseitig fremd werden (vgl. Hi 19,14) oder weil das Gegenüber nicht mehr vor Augen ist, wie etwa der Mundschenk des Pharaos → Josef vergisst, sobald er rehabilitiert ist (vgl. Gen 40,23).

Fast ironisch ist die Art und Weise, auf die das Begriffspaar זָכַר zākhar „erinnern“ und שָׁכַח šākhaḥ „vergessen“ diesen Teil der Josefsgeschichte durchzieht: zunächst steht das Vergessen des Mundschenks im Kontrast zu der vorherigen Bitte Josefs, der Mundschenk möge sich an ihn erinnern (זכר Qal), wenn er rehabilitiert ist, und ihn beim Pharao erwähnen (זכר Hif.): Gen 40,14. Als Josef dem Mundschenk schließlich wieder einfällt, beginnt er seine Ansprache an den Pharao mit der Wendung „ich erinnere (זכר Hif.) heute an meine Sünde“, d.h. an die Umstände, die ihn in die Gegenwart Josefs brachten (Gen 41,9).

Desgleichen können auch weit entfernte Orte potenziell vergessen werden (vgl. Ps 137,5; vgl. auch Hi 28,4: die „vergessenen“, weil außer Augen seienden Bergleute). Neben der Entfernung ist insbesondere die verstreichende Zeit ein vergessensfördernder Faktor (vgl. Gen 27,45).

Vergessen werden können neben entfernten Menschen oder Dingen sowohl positive als auch negative Ereignisse und Erfahrungen, wenn sich die Zeiten und Umstände ändern: In der Josefserzählung heißt es, dass mit Beginn der sieben Hungersnotjahre in Ägypten aller vorheriger Überfluss vergessen sein wird (Gen 41,30). Die alttestamentliche Vorstellung vom Vergessen ist also vertraut mit der Tatsache, dass die menschliche Erinnerung sowohl gute als auch schlechte Widerfahrnisse leichter verdrängt, wenn sich die Umstände ändern (vgl. auch z.B. Jes 54,4; Jes 65,16). Hi 9,27; Hi 11,16 thematisieren die Hoffnung darauf, ein negatives Geschick vergessen zu dürfen.

Dieselbe psychologische Konstellation ist auch von einigen Texten v.a. im → Jeremiabuch vorausgesetzt, wo es jeweils heißt: „Tage kommen, […] da wird man nicht mehr sagen…“: es folgt eine Beschreibung (derzeit noch) geltender theologischer Grundsätze. Diese werden in den angekündigten kommenden Tagen abgelöst sein durch andere, neue Grundsätze. Christoph Levin (2012) findet den Ursprung dieser Ausdrucksweise in Jer 31,27-30.31-34 und Jer 16,14-16, Texten, die nach seiner Analyse unmittelbar nach dem Untergang des Staates Juda die kollektive Unheilserfahrung verarbeiten und die Hoffnung darauf zum Ausdruck bringen, dass eines Tages die Erfahrungen dieser Tage vergessen sein werden.

Ps 102,5 rechnet mit der Möglichkeit, aufgrund widriger äußerer und innerer Umstände (hier: Noterfahrung) wichtige Lebensvollzüge wie das Essen von Brot zu vergessen.

Spr 31,5.7 thematisiert die vergessensfördernde Wirkung des Alkoholgenusses: einem Elenden mag der Alkohol helfen, sein Elend zu vergessen (Spr 31,7); wer aber ein hohes Amt bekleidet, soll sich des Alkohols enthalten, um nicht Recht und Gesetz zu vergessen (Spr 31,5).

Ein eigener Themenbereich ist das Vergessenwerden, das den Verstorbenen droht. So kann die Unterwelt als „Land des Vergessens“ (vgl. Ps 88,13) bezeichnet werden und Ps 31,13 zieht für das Elend des Beters den Vergleich heran, er sei vergessen worden „wie ein Toter aus dem Herzen“.

Insbesondere in den Zeugnissen der (jüngeren) → Weisheit finden sich Reflexionen darüber, dass der einzelne Mensch nach seinem Tod recht bald dem Vergessen anheimfällt (vgl. Pred 2,16; Pred 9,5) – das Vergessen wird hier als Gegenstück zum Andenken thematisiert (vgl. auch Hi 18,17; Hi 24,20; Ps 6,6), wobei Letzterem eine höchstens vorübergehende Kraft zuerkannt wird. Die hinter dieser Memento-mori-Theologie der jüngeren Weisheit stehende Grundeinsicht ist freilich nicht neu, vielmehr ist die Angst vor dem Vergessen-Werden ein verbreiteter Topos in den altorientalischen Kulturen (s.u. 4.).

Mehrere Texte des Alten Testaments überliefern den Auftrag, Israel solle ganze andere Völker bzw. deren Taten vergessen, was auf den ersten Blick zu dem überlieferungstechnischen Paradox führt, dass die schriftlich tradierte Aufforderung zum Vergessen dieses effektiv unmöglich macht. Die entsprechenden Textstellen sind aber im Kontext einer kulturübergreifenden antiken Praxis zu sehen (besonders prominent ist die damnatio memoriae der römischen Zeit), die gerade nicht auf das tatsächliche Vergessen, sondern auf die öffentliche Diskreditierung zielte (vgl. Rathmann; Ben Zvi 2019, 9 Anm. 13). Anschaulich zeigt sich dies in der Praxis des Ausmeißelns der Gesichter ungeliebter Herrscher aus bildlichen Darstellungen, die in der Regel dennoch weiterhin grundsätzlich erkennbar blieben. Aus Ägypten z.B. ist das Verfahren für die ägyptische Herrscherin Hatschepsut und die Pharaonen der Amarnazeit belegt (Brunner-Traut). Ebenfalls auf die Sichtbarmachung der Auslöschung zielten ägyptische Feindvernichtungsrituale (→ Ächtungstexte) und rituelle Praktiken, die an sog. „Fremdvölkerlisten“ oder „Feindlisten“ vollzogen wurden. An den spätzeitlichen Tempelwänden in Kom Ombo beispielsweise finden sich Listen mit Darstellungen von Feinden, bei denen systematisch und ausschließlich die Gesichter ausgemeißelt wurden (vgl. Kockelmann / Rickert, 117-126). Hier lassen sich die biblischen Belege ideologisch anschließen, die das „Vergessen“ fremder Völker fordern:

Zum Gegenstand kollektiven Vergessens werden im Alten Testament konkret → Ammon (Ez 25,8-11), → Tyrus (jedoch „nur“ für 70 Jahre; Jes 23,15-16) und prominenter Weise → Amalek (Ex 17,14; Dtn 25,17-19). Mindestens für den Fall Amalek ist zu bedenken, dass dieses Nachbarvolk zur Zeit der Abfassung des Textes in Dtn 25 keine real existierende Größe mehr war – es ist vielmehr „Chiffre für den Feind, der das Volk Israel vernichten will“ (Ebach 2009, 281, kursiv im Original).

3.1.2. In Bezug auf Gott

Neben diesen Verwendungsweisen, die das Vergessen von Objekten, Menschen oder Erfahrungen betreffen, begegnet das Vergessen im Alten Testament vor allem und in der Mehrzahl der Belege als theologisch aufgeladener Topos.

Verwerflich und unheilbringend ist es, Gott bzw. seine Gebote und Gnadenerweise zu vergessen (vgl. Ps 50,22; Ps 119,139; Spr 2,17; Jes 17,10; Jes 51,13; Jes 65,11; Jer 3,21f; Jer 13,25; Jer 18,15; Ez 22,12; Ez 23,35; Hos 2,15; Hos 4,6; Hos 8,14; Hos 13,6). Hier erfährt das Bedeutungsspektrum des Vergessens als intentionales Sich-Abwenden seine volle Entfaltung; in diesem Sinne kann z.B. Jer 23,27 Fremdgötterdienst als Vergessen JHWHs deklarieren. Gutes bzw. frommes Verhalten zeichnet sich hingegen ausdrücklich dadurch aus, dass es JHWH Gebote nicht vergisst (das heißt sie – aktiv – einhält, vgl. Dtn 26,13; Ps 103,2) bzw. JHWHs gedenkt (זָכַר zākhar, Ps 20,8 u.ö.). Nach dem klassischen → Tun-Ergehen-Zusammenhang zieht das Vergessen Gottes ein negatives Geschick nach sich (Hi 8,13f). Den Sündern wiederum ist beschert, dass sie selbst vergessen werden (Hi 24,19f).

Dem Vergessen entgegen wirken Mechanismen und Hilfsmittel, die die Erinnerung unterstützen, etwa Texte (Ex 17,14) oder Lieder (vgl. Dtn 31,21; Ps 70,1; auch 1Chr 16), die → Quasten an den Gewändern (Num 15,39-40), vor allem aber das rituelle Gedenken / Erinnern im Rahmen von → Festen (Ex 13,3; Dtn 5,15; Dtn 16,3.12; Est 9,28, vgl. auch Janowski, 390; Weber; Eising, 591-593), das in der Erinnerungskultur Israels einen sehr zentralen Platz einnahm. Im → Dekalog des Exodusbuches erhält diese Praxis insofern eine neue Ebene, als nicht nur an einem Fest bestimmter Taten Gottes gedacht wird, sondern das Erinnern an das Halten des Festtages selbst gefordert wird („denk an den Sabbat!“ Ex 20,8). Das Erinnern an den Sabbat erhält auf diese Weise eine kosmologische Dimension, insofern es auf die durch den Sabbat begründete „Zeitstruktur“ rekurriert (Dohmen, 119).

Insbesondere in der deuteronomistischen Geschichtskonzeption (→ Deuteronomismus) wird das Vergessen Gottes bzw. der gnadenhaften Zuwendung Gottes und seines Bundes als permanente Bedrohung des positiven Gottesverhältnisses im Laufe der Geschichte Israels thematisiert, so in Dtn 4,9.23 (Vergessen des Bundes durch Götzendienst); Dtn 6,12; Dtn 8,11 (Vergessen JHWHs durch den Abfall von seinen Geboten); Dtn 8,14.19; Dtn 32,18; Ri 3,7; 1Sam 12,9; 2Kön 17,38 (Vergessen des Bundes). Der Abfall wiederum zieht die göttliche Strafe nach sich (Dtn 8,19). Dem Vergessen entgegengesetzt ist die Aufforderung, Gottes bzw. seiner Heilstaten und Gebote zu gedenken (Dtn 8,18 u.ö.); als Gegenbegriff zum „Vergessen“ begegnet ferner die → Gottesfurcht (Dtn 6,12f). Die Erinnerung an vergangene Heilserfahrungen (vgl. z.B. Dtn 7,18; Dtn 8,2) wird zum Bollwerk gegen künftigen Abfall. Diesem Geschichtsbild entsprechend findet sich auch die Aufforderung, die eigenen Verfehlungen der Vergangenheit nicht zu vergessen (Dtn 9,7; auch Jer 44,9). Um das Vergessen der göttlichen Gnade zu verhindern, wird zudem die Weitergabe des Heilswissens von Generation zu Generation aufgetragen (Dtn 4,9).

Der literarhistorisch nur schwer einzuordnende Vers Dtn 4,31 bietet eine Abmilderung mit der im → Deuteronomium (und auch sonst, vgl. Perlitt, 354) singulären Aussage, dass JHWH den Bund nicht vergessen wird (Dtn 4,31), auch wenn der Mensch den Bund Gottes bzw. sein Heilshandeln vergessen und sich von JHWH abwenden kann (Dtn 4,9.23). Es zeigt sich hier, dass das Konzept von JHWHs Erinnern (und Vergessen) im Blick auf den Bund mit Israel mannigfache literarische Nacharbeit innerhalb des Alten Testaments gefunden hat, wie auch die folgenden Beobachtungen illustrieren.

Der gleiche Topos begegnet auch in zwei relativ jungen, von der deuteronomistischen Geschichtskonzeption (→ Deuteronomismus) beeinflussten Geschichtspsalmen (Ps 78 und Ps 106), die die Gottvergessenheit Israels in seiner Geschichte thematisieren (Ps 78,7.11; Ps 106,13.21) sowie im (gleichfalls über weite Strecken deuteronomistisch beeinflussten) Jeremiabuch (Jer 3,21f; Jer 13,25; Jer 18,15).

Das Vergessen spielt nicht nur in der deuteronomistischen Geschichtskonzeption und ihrer innerbiblischen Nachwirkung eine wichtige Rolle, sondern wird auch in Texten aufgegriffen, die sich kritisch oder abgrenzend mit diesem Geschichtsmodell auseinandersetzen. In markantem sachlichem Kontrast zur deuteronomistischen Geschichtskonzeption steht die Verheißung eines ewigen Bundes, der nicht vergessen werden kann (Jer 50,5). In dem Klagelied des Volkes Psalm 44 beteuert das betende Kollektiv, Gott nicht vergessen zu haben (Ps 44,18.21) und dennoch von ihm vergessen worden zu sein (Ps 44,25).

Einen inhaltlichen Gegenpol zur deuteronomistischen Konzeption bieten auf den ersten Blick auch Texte aus → Deuterojesaja, die Israel gerade dazu anhalten, das Alte zu vergessen, da das von JHWH geschaffene Neue das Alte, vormals Gewesene, überbietet (Jes 43,21). Dabei begegnet das Paradox, dass sogar frühere Heilserfahrungen, insbesondere der Auszug aus Ägypten, nicht mehr erinnert werden (vgl. Jes 43,16-19). Neben diesen Aussagen bietet Deuterojesaja freilich auch Aufforderungen zur Erinnerung an die Heilstaten JHWHs (vgl. Jes 46,8f). Diese scheinbare Widersprüchlichkeit lässt sich im Blick auf den Gesamtgedankengang im Endtext so auflösen, dass die insgesamt von der Dichotomie aus Befreiung und Abfall geprägte Geschichte Israels sich nach dem „zweiten Exodus“, der Rückkehr aus dem babylonischen → Exil, nicht beliebig oft wiederholen soll, sondern durch eine neue Qualität in der Beziehung zwischen Gott und Volk abgelöst wird, die keine Abfallmöglichkeiten mehr bereithält: „Es geht also um eine Erinnerung ohne Wiederholung. Oder anders gesagt: Es geht darum, in einer Weise zu erinnern, die nicht auch das Zurückfallen in alte Muster zwangsläufig nach sich zieht“ (Schüle, 363). Folglich ist nicht eine Ablehnung der eigenen Geschichte oder Geschichtstheologie gefordert, sondern im Licht derselben wird darauf vertraut, dass Gott gewissermaßen eine neue Geschichtslogik initiieren kann (vgl. Joachimsen; Schüle).

3.2. Gott als Vergessender

Insbesondere die Psalmen thematisieren die Möglichkeit oder Angst, dass Gott einen Menschen oder sein ganzes Volk vergessen könne (vgl. Ps 10,12; Ps 13,2; Ps 42,10; Ps 44,25; Ps 74,19; Ps 77,10; vgl. auch 1Sam 1,11; Jes 49,14; Klgl 5,20). Der Ursprung dieser Redeweise liegt wahrscheinlich in den Klagen des Einzelnen und ist von dort ab der exilischen Zeit in den Klagen des Volkes adaptiert worden (Müller). Das Vergessenwerden durch Gott ist dabei zunächst als Verbalisierung einer Erfahrung der Abwendung des (königlichen) Gottes vom Beter einzuordnen (Müller). Konkret wird dies in der parallelen Aussage, JHWH habe „sein Gesicht abgewandt“ in Ps 10,12; Ps 13,2; Ps 44,25 (zu den Belegen Balentine, 136-143). Thematisiert wird das Vergessensein durch Gott üblicherweise in Fragen wie „wirst du mich für immer vergessen?“ (vgl. Ps 13,2; Ps 42,10; Ps 44,25). Der Erfahrung der Abwendung Gottes begegnet der Beter bzw. die betende Gemeinschaft also dadurch, dass er / sie sich mit seiner Klage bei Gott in Erinnerung zu rufen sucht – hier zeigt sich wie im zwischenmenschlichen Bereich (s.o. 3.1.) die Beziehungskomponente des Konzepts „vergessen“.

Darauf reagierend finden sich auch Versicherungen, dass Gott die Klagenden gerade nicht vergesse (vgl. z.B. Ps 9,13). Besonders deutlich wird dies in Jes 49,14f, wo erst eine Klage → Zions, Gott habe sie vergessen, zitiert und dieser Meinung entgegengehalten wird, Gott könne Zion so wenig vergessen wie eine Mutter ihr Kind. Eine strukturell ähnliche Aussage, die vielleicht als Ideengeberin für das Bild in Jes 49,14f fungierte (so Müller, 310f), findet sich in Jer 2,32 mit der rhetorischen Frage, ob denn eine Jungfrau ihren Schmuck vergessen könne – vergleichbar unbegreiflich sei es, dass Israel seinen Gott vergessen habe.

Im Psalter finden sich jenseits der Klagen noch einige deutliche Cluster des Wortfeldes Vergessen / Erinnern: hier sind die zusammengehörigen Psalmen 9 und 10; das dritte Psalmenbuch (Pss 73-89) und Ps 119 zu nennen.

Ein vielfältiges Panorama des Vergessens und Erinnerns malen die zusammengehörigen Pss 9 und 10: hier ist „vergessen“ (שָׁכַח) zusammen mit „erinnern“ (זָכַר) eines der Leitworte in einem Diskurs, in dem frevlerische Täter und zu deren Opfern stilisierte „Arme“ (עֲנָוִים bzw. עֲנִיִּים) gegenübergestellt werden. Zwischen ihnen gibt es eine vermittelnde Instanz: JHWH, der letztlich garantiert, dass der Hilferuf der Armen nicht vergessen wird (Ps 9,13.19), eine Hoffnung, die dann auch direkt in eine Aufforderung an JHWH gewendet wird (Ps 10,12). Im offenbaren Kontrast dazu stehen solche Menschen, die Gott vergessen (Ps 9,18) – der einzige Beleg von שָׁכַח šākhaḥ in dem Doppelpsalm, der mit einem menschlichen Subjekt steht. Die stehende Wendung der „Gott Vergessenden“ (mit Gott als Objekt) bezeichnet auch andernorts Frevler (Ps 50,22). Frevler können wiederum in frevelhafter Weise die Hoffnung darauf ausdrücken, dass JHWH ihr böses Treiben nicht sieht, sondern vergisst (Ps 10,11). In einer umgekehrten Wendung hofft der paradigmatische Fromme noch anderswo im Alten Testament darauf, dass Gott die Frevler gerade nicht vergessen, also übersehen möge (vgl. Ps 74,23, Neh 6,14; ähnlich auch Jer 20,11 [ewige Schande für die Feinde, die nicht vergessen wird]).

Pavan (2014) untersucht die Belege für „erinnern“ und „vergessen“ im dritten Psalmenbuch (Pss 73-89) und erkennt in ihnen einen wichtigen Aspekt in der Dramaturgie dieses Abschnitts, insofern sie permanent um den Bund JHWHs mit Israel und dessen Beständigkeit kreisen. „Erinnern“, aber auch das potenzielle Vergessen ist hier der maßgebliche Faktor in der Bundesbeziehung zwischen Gott und Israel: „in different ways, זכר and שׁכח designate the attitude of one ‚contracting party‘ to the other, and towards the covenant in itself“ (Pavan 2014, 358).

Der Toraspalm Ps 119 schärft in immer neuerlichen Wendungen die Notwendigkeit ein, JHWHs Wort, seine Satzungen und Gebote und seine Tora nicht zu vergessen (Ps 119,16.61.83.93.109.141.153.176).

In der prophetischen Literatur, insbesondere in der Unheilsprophetie des → Hoseabuches, begegnet der Topos des Erinnerns und Vergessens Gottes (als Subjekt) in gewandelter Bedeutung als Drohung: Gott gedenkt der Sünden Israels (Hos 7,2; Hos 8,13; Hos 9,9; auch Jer 14,10) und vergisst in gegengleicher Vergeltung den, der Gott vergessen hat (Hos 4,6) bzw. vergisst die Vergehen der Frevler nicht (Am 8,7).

4. Religionsgeschichtliche Perspektiven

In Kap. 3 wurde für das Alte Testament unterschieden zwischen Fällen von Vergessen, die ein rein auf die menschliche Lebenssphäre bezogenes „nicht (mehr) denken an“ meinen und theologischen Verwendungsweisen andererseits; außerdem wurde eingangs verwiesen auf die mögliche Differenzierung zwischen „passiven“ Formen des Vergessens (aus dem Sinn kommen) einerseits und „aktiven“ Formen, die ein intentionales Sich-Abwenden von einer Sache, Person oder auch Gott bezeichnen. Die gleichen Bedeutungsspektren finden sich auch in der Literatur der Umwelt Israels.

So kann das akkadische Wort mašû sowohl alltägliches „Vergessen“ meinen als auch „Vernachlässigen“ (vgl. Assyrian Dictionary, 398); ḫasāsu „erinnern“ kann auch mit den Bedeutungen „(eine Gottheit) beachten / beherzigen / sich kümmern um“ verwendet werden (vgl. Assyrian Dictionary, 122).

Nicht-theologisch konnotierte Formen des Vergessens finden sich wie auch im Alten Testament in Texten, die vom Vergessen früherer Erfahrungen und Widerfahrnisse oder weit entfernter Orte und Menschen berichten. So thematisiert z.B. der ägyptische „Mythos vom Sonnenauge“ die Möglichkeit, ein weit entferntes Land zu vergessen (im Mythos vom Sonnenauge z.B. Ägypten, vgl. TUAT.AF III, 1055); und in einem sumerischen Weisheitstext konstatiert ein Esel: „Die Mühsal von früheren Tagen ist für mich vergessen!“ (TUAT.AF III, 39).

Ähnlich wie in Ps 102,5 (s.o.) ist auch das „Vergessen“ notwendiger Lebensvollzüge in der Umwelt Israels belegt, etwa aus Liebeskummer: „Sieben Tage sah ich die Schwester nicht. Krankheit hat mich befallen. Mein Herz wird schwer. Ich habe mich selbst vergessen“ (aus einem ägyptischen Liebeslied, TUAT.AF II, 904).

Wie auch im Alten Testament hat das Vergessen eine beziehungsorientierte Komponente, etwa wenn gefordert wird: „Du sollst am Tage ihrer Not nicht deine Nachbarn vergessen, dann wenden sie sich auch dir zu [deiner] Zeit zu“ (aus einer neuägyptischen Weisheitslehre; TUAT.NF VIII, 327). Dabei muss „aktives“ Vergessen nicht notwendigerweise negativ konnotiert sein, sondern kann mitunter auch Formen der Vergebung bedeuten. Zum Beispiel heißt es in einem ägyptischen Brief: „Selbst wenn du Millionen [Untaten] begangen hättest, vergaß ich sie [nicht] wie ich meine eigenen vergesse?“ (TUAT.NF III, 327).

Unter den „zwischenmenschlichen“ Formen des Vergessens nimmt besonders das Vergessen, dem die Verstorbenen nach einer gewissen Zeit unausweichlich anheimfallen, einen wichtigen Platz ein. Um das Vergessenwerden des Menschen bzw. seines Namens nach dem Tod zumindest temporär hinauszuzögern, haben die altorientalischen Kulturen eine ganze Reihe von „Verewigungsstrategien“ (Bührer) hervorgebracht: hier spielten insbesondere der (königliche) Ahnenkult durch die Nachkommen, die Verewigung im kollektiven Gedächtnis durch ruhmreiche Taten und Schriftzeugnisse wie z.B. Bau- und Grabinschriften (vgl. ähnlich auch den „Gedenkstein“ Absaloms 2Sam 18,18) eine Rolle (vgl. Bührer, Radner). Literarischen Niederschlag hat die Angst vor dem post-mortalen Vergessen-Werden facettenreich auch im Gilgamesch-Epos gefunden.

Das Epos thematisiert insgesamt die Vergänglichkeit des Menschen und den Versuch, den Tod zu überwinden. Grundlegend ist auch hier die Einsicht, dass alle Menschen sterblich sind, wie etwa in der folgenden Rede Gilgameschs deutlich wird: „Wer, mein Freund, <ist es, der je> in den Hi[mmel] gestiegen? Die Götter nur w[ohnen] dort ewig bei Šamaš. Die Menschheit aber, ihre Tage sind gezählt, alles, was auch immer sie tut, ist nur ein Windhauch. Du hier fürchtest den Tod – wofür ist dann die Kraft deines Heldentums?“ (Text nach Sallaberger 2004, 44). Später zitiert der sterbende Enkidu in ironischer Verkehrung das Formular üblicher königlicher Weihinschriften und verdreht dessen Absicht ins Gegenteil: „Enkidu erhob [sein Gesicht ... ] und sprach mit der Tür wie [ ... ]: ‚Tür des Waldes, die nichts ver[steht,] bei der lebendiger Verstand nicht existiert [ ... ] ( ... ) Ich machte dich, hob dich hoch, habe dich in Nippur hoch [eingehängt.] lch hätte es wissen sollen, Tür, daß dies deine [Vergeltung] ist, daß dies deine Güte ist! Ich hätte die Axt erheben, [dich] abschneiden sollen, ich hätte dich als Floß zum Šamaštempel Ebabbar [steuern] sollen. ( ... ) Jetzt aber, Tür, ich habe dich gemacht, habe dich hochgehoben, [ ... ], soll dann auch ich dich herausreißen? Sei es ein König, der nach mir heraufkommt, er soll dich hassen, sei es [ ... ], er soll dich einhängen, und meinen Namen soll er ändern und seinen Namen daraufsetzen‘“ (vgl. Sallaberger 2004, 49f, Text ebd.).

Die theologische Verwendung, das „Vergessen“ als Vernachlässigung der Götter, ist gleichfalls gut belegt; so ist z.B. ein wiederkehrender Topos in Bauinschriften die Behauptung, frühere Herrscher hätten den Kult eines bestimmten Gottes vernachlässigt, ein Missstand, der vom Verfasser der Bauinschrift (i.d.R. dem neuen König) behoben worden sei. In diesem Sinne äußert sich die Inschrift der Mutter Nabonids, Adad-Guppi: „Nabonid, mein einziger leiblicher Sohn, vollendete die vergessenen Riten von Sin, Ningal, Nusku und Sadarnunna“ (TUAT.AF II, 482). In einem Lobpreis → Marduks aus → Ugarit heißt es explizit: „Marduk [darf nicht] vergessen werden, Marduk muß gepriesen werden“ (TUAT.AF II, 825); und im Kontext eines akkadischen Weisheitstextes ist die Aussage überliefert: „Für alle Zukunft darfst du [deinen] Gott nicht vergessen, deinen Schöpfer, wenn du es gut haben möchtest!“ (TUAT.AF III,139).

Insbesondere in den Klagepsalmen des Alten Testaments wurde eine andere Facette der theologischen Komponente des Vergessens festgestellt: ein Beter (oder ein betendes Kollektiv) kann sich an Gott wenden mit dem Vorwurf, dieser habe ihn / es vergessen. Vergleichbar ist ein Beleg aus einem Gebet → Ramses II. an Amun im Kontext der → Schlacht bei Kadesch: „Da sprach seine Majestät: »Warum, mein Vater Amun? Ist denn das Vergessen seines Sohnes eine väterliche Eigenschaft? Oder sind meine Taten etwas Unbekanntes? Gehe und stehe ich etwa nicht auf Dein Wort hin? Nie übertrat ich ein Gebot, das Du befahlst!«“ (TUAT.NF VII, 184; man beachte auch die Ähnlichkeit zu dem Bild in Jes 49,14f).

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