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Amos 5,21-24 | Estomihi | 11.02.2024

Einführung in das Buch Amos

1. Der historische Amos und die Redaktionsgeschichte des Prophetenbuchs

Die Schrift, die dem Propheten Amos zugeschrieben wird, hat sich immer großer Popularität erfreut. Amos gilt als der erste „Schriftprophet“. Darunter versteht man einen Propheten, der nicht nur mündlich aufgetreten ist, sondern der auch eine ganze Schrift verfasst hat. Die Überschrift (Am 1,1) nennt einen gewissen „Amos aus Tekoa“ als Autor der Schrift. Es gibt keinen wirklichen Grund zu bezweifeln, dass die älteste Schicht der Amosschrift von der Persönlichkeit des historischen Amos geprägt ist. Im Visionszyklus (Am 7–9) ist der Name „Amos“ sicher in zwei von Amos selbst in der Ich-Perspektive berichteten Visionen verankert („Was siehst du, Amos?“ Am 7,8; 8,2), hinzu kommen Hinweise auf den Namen von dritter Seite in Am 7,10.11.12.14. Die Grundschicht enthält poetisch geformte Sprüche von hoher Prägnanz und emotionaler Härte. Das bietet die Gewähr dafür, dass die literarischen Sprüche auch in der mündlichen Verkündigung gegenüber bestimmten Hörern genau so vorgebracht wurden, wie sie schriftlich vorliegen.

Die Rekonstruktion der Gestalt des historischen Propheten Amos hängt davon ab, für wie glaubwürdig man den Bericht über eine Auseinandersetzung zwischen Amos und dem Priester Amazja am Staatsheiligtum in Bet-El hält (Am 7,9.10–17). Demnach war Amos kein professioneller נביא nābîʾ, was die Septuaginta mit προφήτης „prophētēs“ „Prophet“ übersetzt. In Am 7,14 lehnt er den Titel dezidiert ab und beschreibt sich als Rinderhirten, Ritzer von Maulbeerfeigenbäumen und Kleinviehhirten, der aber von YHWH beauftragt sei. Er stammt zwar aus Tekoa, einer kleinen Stadt in Juda, trotzdem tritt er im Nordreich auf. Er will wohl das abirrende Bruderreich zum gemeinsamen Ethos zurückrufen. Die genaue Zeit seines Auftretens lässt sich dadurch eingrenzen, dass in Am 7,9.10 ein König „Jerobeam“ genannt wird, gemeint ist Jerobeam II. (etwa 788–747). Unter Jerobeam II erlebte das Nordreich eine kurze Blütezeit mit Stabilität und Wohlstand. Es ist zu vermuten, dass in dieser Zeit große sozio-ökonomische Transformationen erfolgten, die dazu führten, dass ehemals stabile Sippen in wirtschaftliche Not gerieten, sich überschuldeten, und Familienmitglieder in Schuldknechtschaft gegeben wurden. Zusätzlich veränderte die expansive Macht der Assyrer vermutlich die internationalen Handelsbeziehungen. Amos spürte, dass Israel diesem Druck von außen und innen nicht standhalten würde und sah das „Ende Israels“ (Am 8,2) gekommen. Die Tradenten der Amosworte begriffen dann insbesondere die assyrische Deportationspraxis als Erfüllung dieser Zukunftsansage. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte war man mit einer Macht konfrontiert, die die gesamte damals bekannte Welt unter einer Herrschaft vereinen konnte. Die zwangsweise Deportation ganzer Völkerschaften sollte die ethnischen Identitäten der eroberten Staaten auslöschen. In Samaria entstand so eine Mischform der YHWH-Verehrung, die Elemente aus den Religionen der zwangsumgesiedelten neuen Bewohner aufnahm. Die Botschaft des Amos leitete dazu an, die Niederlage gegenüber den Assyrern als Strafaktion YHWHs zu verstehen.

Die Grundschicht ist freilich mehrfach überarbeitet worden, wobei der Umfang der redaktionellen Bearbeitung und deren Einbindung in die Redaktionsgeschichte des ganzen Zwölfprophetenbuchs unterschiedlich bestimmt wird. Für gewöhnlich betrachtet man in evangelischer Tradition denjenigen Texttyp als kanonisch, der etwa um das Jahr 100 n. Chr. im Land Israel anerkannt war. Neben diesem gab es aber noch weitere Texttypen. Von herausragender Bedeutung ist die sogenannte Septuaginta, die einen vom masoretischen Text gelegentlich abweichenden hebräischen Text in das Griechische übersetzte. Auf diesen griechischen Text stützten sich die neutestamentlichen Autoren. Für die theologische Relevanz des Amostextes ist es jedenfalls wichtig, sich darüber klar zu sein, mit welcher Stufe der Buchentstehung man sich auseinandersetzen will. Geht es um den historischen Amos, der die Praxis einer nicht mehr genauer bestimmbaren Gruppe von Kultteilnehmern im Nordreich Israel angeklagt hat? Oder geht es um den Kult, der in hellenistischer Zeit am Tempel in Jerusalem praktiziert wurde? Oder geht es um den Kult, dem Jesus mit seiner symbolischen „Tempelreinigung“ die Legitimation abgesprochen hat?

2. Wichtige Themen

Dem Text geht es nicht um die Abschaffung des Kultes, sondern um die Wiederherstellung eines Gott gemäßen Kultes. Der historische Prophet hat vermutlich bestimmte Gruppen angegriffen, denen er eine besondere Rolle bei der Zerrüttung der Gemeinschaft zuschrieb. Die Redaktoren haben diese Ihr-Gruppen dann auf das ganze Volk des Nordreichs ausgeweitet. Nach dem babylonischen Exil wurde auch der Kult Judas von der Kritik getroffen.

3. Besonderheiten

Inmitten der kultkritischen Passagen des AT ist es eine Besonderheit, dass ein späterer Redaktor in Am 5,22aα den Gedanken eingeschoben hat, dass das Brandopfer von der Kultkritik ausgenommen sei. Das Brandopfer war die wertvollste Opfergabe, die eine Familie darbringen konnte.

„Ein gesundes Rind im Brandopfer Gott zu übergeben, ohne auch nur im Mahl daran teilzuhaben (wie das bei den Opfern von Lev 3 vorauszusetzen ist), das bedeutete im Normalfall einen Aderlaß für den Opfernden, heute nur vergleichbar mit der Aufgabe eines Teils des Vermögens. Vermutlich waren nur wohlhabende Bauern in guten Zeiten dazu in der Lage.“ (Gerstenberger, Leviticus, 26)

Die Verbrennung ist vom religiösen Erleben her aber wohl nicht als ein Akt der Vernichtung zu begreifen, sondern eher als Akt der Transformation aus der materiellen in die göttliche Sphäre. Der Gedanke, dass man mit dem Rauch Gott Nahrung zuführen wollte, liegt auf jeden Fall nahe, auch wenn dieser Gedanke im AT äußerst selten explizit formuliert wird (vgl. Lev 21,6.21). Auf diesem Hintergrund kann man verstehen, dass ein Redaktor meinte, dass das Brandopfer, stellvertretend für die gesamte Neufassung des Kultes, von der Kritik des Amosbuches nicht getroffen würde.

Literatur:

  • Gerstenberger, E. S., 1993, Das 3.Buch Mose, Leviticus (ATD 6), Göttingen.
  • Gese, H., 1977, Die Sühne, in: H. Gese (Hg.), Zur Biblischen Theologie. Alttestamentliche Vorträge (BETh78), München, 85–106.
  • Jeremias, J., 32013, Der Prophet Amos (ATD 24,2), Göttingen.
  • Jeremias, J., 2015, Theologie des Alten Testaments (ATD.E 6) , Göttingen.
  • Kessler, R., 2008, Art. Kultkritik (AT). WiBiLex, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/24341/ (letzter Zugriff 2023-07-04).
  • Schart, A., 1998, Die Entstehung des Zwölfprophetenbuchs. Neubearbeitungen von Amos im Rahmen schriftenübergreifender Redaktionsprozesse (BZAW 260), Berlin / New York.
  • Schart, A., 2021, Gegenwartsorientierung aus Zukunftsgewissheit, BThZ 38, 67-88.
  • Schart, A. (2014), Art. Prophetie (AT), WiBiLex, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/31372/ (letzter Zugriff 2023-07-04).

Zusätzliche Einführung in den Textabschnitt

Adressaten

Im hiesigen Fall geht es anscheinend um Menschen, die in gutem Glauben verschiedene kultische Riten durchführen, und vom Priester nun den Bescheid erwarten, dass ihre Opfergaben von YHWH angenommen werden. Aus dem intakten Gottesverhältnis würde dann Segen in mannigfaltiger Form strömen. Amos jedoch attackiert sie in großer Härte. Im Text selbst bleibt offen, warum er das macht. Aber aus verschiedenen knappen Angaben in der Schrift ergibt sich, dass Amos Hörer vor sich hat, die die Notlage der Schwachen ökonomisch ausnutzen und sogar das Recht beugen (Am 2,6–8; 4,1–6; 6,4–6; 8,4–8).

Entstehungsort

Die im Text genannten Opfervollzüge setzen nicht unbedingt einen Tempel voraus. Wenn man aber dem Bericht in Am 7,10–17 folgt, so ist der historische Amos am Staatsheiligtum in Bet-El aufgetreten, wo er auch mit dem diensthabenden Priester Amazja aneinandergeriet. Dieser sieht ihn als eine schwere Last für das ganze Land. In letzter Konsequenz betreibe Amos sogar eine Verschwörung gegen den König (Am 7,10). Dieser Vorwurf, den Amos selbst gar nicht im Auge hat, ruft die vielen Königsmorde im Nordreich in Erinnerung. Amos selbst scheint dem König aber nie persönlich gegenüber getreten zu sein.

Es ist darauf hinzuweisen, dass der Entstehungsort sich im Laufe der Redaktionsgeschichte wandelte. Die Erweiterung des Zwölfprophetenbuchs um Micha und Zefanja bezog die Botschaft der Amosschrift auch auf Juda und Jerusalem. Bereits Jesaja wendete die Kultkritik des Amos auf den Kult in Jerusalem an (Jes 1,10–17), obwohl sich doch der Jerusalemer Kult von dem in Bet-El unterschied, z.B. dadurch, dass in Bet-El ein Stierbild YHWHs Präsenz vermittelte, der Kult in Jerusalem dagegen ohne eine Kultstatue auskam. Auch Jeremia griff auf die Kritik des Amos zurück. Noch schärfer als dieser thematisiert er, dass der Tempel zu einer „Räuberhöhle“ (Jer 7,11) geworden sei, also ein Rückzugsraum ausgerechnet für diejenigen, die die Häuser ihrer Volksgenossen mit Angst und Schrecken erfüllen. Für diesen Vorwurf, der die verbrecherischen Machenschaften am Tempel aufdeckte, wurde Jeremia der Prozess gemacht, in dem er dank der Intervention einiger Unterstützer aber mit Verweis auf seinen Vorgänger Micha freigesprochen wurde (Jer 26,16–19). In der Tat sollte Jeremia Recht behalten: Der Tempel in Jerusalem wurde durch die Babylonier zerstört. In der persischen Zeit wurde der Tempel wiedererrichtet. Der Kult wurde aber, in Reaktion auf die prophetische Kritik, neu verstanden, neu organisiert und die Opfer erhielten eine neue Funktion. Das Brandopfer, bei dem ein Opfertier, mit Ausnahme der Haut, komplett verbrannt wurde, stieg zur bedeutendsten Opferart auf (Lev 1). Die sündige Verfasstheit des Menschen wurde als Dauerzustand von Jugend an begriffen und die Opfer dienten nun primär der Sühne. Auch die unabsichtlichen Vergehen mussten nun gesühnt werden. Der große Versöhnungstag (Lev 16) diente einmal im Jahr der Entsühnung des ganzen Volkes. Im Neuen Testament wurde der Sühnekult durch den Tod Jesu ein für alle Mal überboten und hinfort nicht mehr benötigt (Röm 3,25; Hebr 9,25–26).

A) Exegese kompakt: Amos 5,21-24(27)

21שָׂנֵ֥אתִי מָאַ֖סְתִּי חַגֵּיכֶ֑ם וְלֹ֥א אָרִ֖יחַ בְּעַצְּרֹֽתֵיכֶֽם׃ 22כִּ֣י אִם־תַּעֲלוּ־לִ֥י עֹל֛וֹת וּמִנְחֹתֵיכֶ֖ם לֹ֣א אֶרְצֶ֑ה וְשֶׁ֥לֶם מְרִיאֵיכֶ֖ם לֹ֥א אַבִּֽיט׃ 23הָסֵ֥ר מֵעָלַ֖י הֲמ֣וֹן שִׁרֶ֑יךָ וְזִמְרַ֥ת נְבָלֶ֖יךָ לֹ֥א אֶשְׁמָֽע׃ 24וְיִגַּ֥ל כַּמַּ֖יִם מִשְׁפָּ֑ט וּצְדָקָ֖ה כְּנַ֥חַל אֵיתָֽן׃

Amos 5:21-24BHSBibelstelle anzeigen

27וְהִגְלֵיתִ֥י אֶתְכֶ֖ם מֵהָ֣לְאָה לְדַמָּ֑שֶׂק אָמַ֛ר יְהוָ֥ה אֱלֹהֵֽי־צְבָא֖וֹת שְׁמֽוֹ׃ פ

Übersetzung

21 Ich hasse, ich verwerfe eure Feste // und kann eure Festversammlungen nicht riechen.

22 Außer ihr bringt mir Brandopfer dar.

Eure Gaben werde ich nicht annehmen // und auf das Mahlopfer eures Mastviehs werde ich nicht hinblicken.

23 Schaffe weg von mir den Lärm deiner Lieder, // und das Spiel deiner Harfe werde ich nicht hören,

24 so dass sich heranwälze wie Wasser Recht, // und Gerechtigkeit wie ein beständig Wasser führender Bach. […]

(27 Und ich werde euch in das Exil führen, von hier weg nach Damaskus, // hat YHWH gesagt, „Gott der Heerscharen“ ist sein Name.)

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

V. 22aα fällt als Monokolon inmitten einer Reihe von Bikola aus dem poetischen Duktus heraus. Die Septuaginta hat „Selbst wenn ihr mir“, nimmt also an, dass die Brandopfer keine Ausnahme darstellen, sondern ebenfalls verurteilt werden.

V. 27 Der Vers ist nicht Bestandteil der Predigtperikope, gehört aber als Strafankündigung zu den Versen 21-24 dazu. Bei den Versen 25-26 handelt es sich um einen späteren Nachtrag, der den vom Text angegriffenen Kult als Abfall zu fremden Göttern deutet.

2. Literarische Gestalt und Kontext

In Am 5,21–24 geht es um Kultkritik. Genannt werden Feste (21a), mit denen man freudige Ereignisse beging, Versammlungen (21b), Brandopfer, (22aα); Gaben, worunter vegetabile Opfer zu verstehen sind (22aβ), Heilsopfer, die vermutlich für alle rituellen Mahlgemeinschaften, einschließlich des, ungewöhnlicherweise, nicht genannten זבח zæbach „Gemeinschaftsopfers“, stehen, Lieder und Harfen, (23b). Die Aufzählung soll wohl deutlich machen, dass, mit der Ausnahme des Brandopfers, der gesamte Kult von YHWH verworfen wird. Es geht also nicht um bestimmte Riten oder Musikdarbietungen, sondern um die moralische Integrität der Angeredeten.

Eine wichtige Einsicht ist es, dass der Anklageteil (Am 5,21–24) einen priesterlichen Kultbescheid parodiert. Der Priester hatte die Aufgabe, darüber zu urteilen, ob die Opfer makellos waren und Gottes Wohlgefallen gefunden haben. Amos schlüpft in diese Rolle und verkündet der ganzen Ihr-Gruppe, dass ihre Opfergaben nicht nur ihr eigentliches Ziel, nämlich Gottes Wohlgefallen, verfehlen, sondern Gott zur Weißglut reizen. Gott blendet seine Sinne aus und bricht damit einseitig die Kommunikation ab. Derselbe Gott, der großes Mitgefühl mit den Unterdrückten zeigt, will völlig unempfindlich sein gegenüber den Kulthandlungen der Ihr-Gruppe. Ja, Gott hasst sogar deren Kult. Dieser Hass reagiert auf den Hass, den die Richter im Rechtsverfahren gegenüber denjenigen aufbringen, die sich für wirkliche Rechtspflege einsetzen (Am 5,10).

Die Beendigung der verfehlten Kulthandlungen soll dem Herbeiströmen von „Recht und Gerechtigkeit“ Raum schaffen. Dabei geht es, jedenfalls auf der Stufe des historischen Amos, nicht um die Einhaltung bestimmter gesetzlicher Bestimmungen, die auf Gottes Willen zurückgeführt werden, sondern um den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Unter מִשְׁפָּט mišpāṭ „Recht“ ist die einvernehmliche Regelung von Angelegenheiten zu verstehen, die die Gemeinschaft als Ganze betreffen. Es dürfen keine Entscheidungen getroffen werden, die den Bestand der Gemeinschaft gefährden. Unter צְדָקָה ṣədāqāh „Gerechtigkeit“ versteht man die Gemeinschaftstreue, das Agieren im Sinne eines konfliktfreien, angemessenen Miteinanders. In einem Rechtsverfahren ist der „Gerechte“ derjenige, der sich als unschuldig erwiesen, mithin die Gemeinschaft nicht geschädigt hat.

3. Schwerpunkte der Interpretation

Jesus selbst und sein Jüngerkreis gehörten zu denjenigen Kreisen, in denen die Bedeutung des Jerusalemer Opferkultes relativiert wurde. Die frühen christlichen Gemeinden, die Zeugen der Zerstörung des Tempels durch die Römer geworden waren, rangen sich zu der Position durch, auf den Tempel vollständig zu verzichten. Das gemeinschaftliche Mahl in Erinnerung an Jesus Christus reiche für die Pflege des gemeinschaftlichen Gotteskontaktes völlig aus.

4. Theologische Perspektivierung

Die Beendigung des Kultes und der Tieropfer wird man als einen Fortschritt bewerten. Wie die Praxis der Kirchen zeigt, kann aber auch ein kultloser, säkularisierter Gottesdienstvollzug zu einer sinnentleerten Veranstaltung werden, die die Präsenz Gottes eher verschleiert als erleben lässt.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese erschließt mir neue Einsichten durch den Hinweis, dass die neutestamentlichen Autoren Amos ausschließlich auf Griechisch gelesen haben. Der alttestamentliche Text verweist auf eine andere Kultur und Zeit, wenn er nicht auf Hebräisch, sondern auf Griechisch gelesen und gehört wird. Amos war offenbar nicht nur in seiner historischen Gestalt eine unüberhörbar unbequeme Stimme, dessen Ansage von Vertreibung durch die Assyrer grausame Wirklichkeit wurde. Seine Stimme wurde nie wieder vergessen, weshalb schon Hosea, Jesaja, Jeremia und andere ihn aufgriffen und mit den Katastrophen ihrer Zeit verbanden – eben auf Griechisch bis in die neutestamentliche Zeit. Die Christinnen und Christen konnten eine Verbindung zur Erzählung von Jesu Reinigung des zur Räuberhöhle verkommenen Tempels herstellen; sie wussten von seiner Zerstörung durch Titus am 30. August 70.

Deshalb stimme ich der Exegese zu, wenn sie ermutigt, die Figur des Amos nicht auf eine bestimmte Zeit festzulegen – etwa eine historische Person am Staatsheiligtum Bet-El – sondern die literarische Figur in ihrer Rezeption zu unterschiedlichen Zeiten bis in die Gegenwart zur Kenntnis wirken zu lassen. Offensichtlich eignet sich Amos ja als Projektionsfläche für vieles, was einem nicht passt an Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft und was man dann im Duktus der Prophetie endlich mal sagen zu dürfen meint. Das birgt freilich erhebliche Gefahren.

2. Thematische Fokussierung

Der Text entwirft mit seinen ersten Worten eine Situation, die alles andere als bequem ist. So sind wir es nicht gewohnt, (von) Gott zu hören, den wir in unseren Gebeten als barmherzig und liebend, behütend und rechtfertigend ansprechen. Zweimal setzt Gott zu seiner Rede an in V. 21: „Ich hasse, ich verachte“ und dann "ich kann (euch) nicht riechen, nehme eure Geschenke nicht an, will euren Lärm nicht hören". Die Aussage „ich hasse“ aus dem Mund Gottes, überbracht durch den Propheten, – und dann die unbedingt dazugehörige Strafankündigung in V. 27 – das passt so gar nicht in unser Gottesbild. Da lässt sich beim besten Willen auch kein Trostschuh draus machen. Man kann diesen Text vielleicht mit der „Publikumsbeschimpfung“ vergleichen, die Peter Handke Anfang der 1970er Jahre für das postdramatische Theater erfunden hat: das wohlwollende, zahlende Publikum wurde so sehr angegangen, dass es empört und fluchtartig den Saal verließ und wider die eigene Intention zu einer Reaktion auf die Provokation gezwungen wurde: Alles Teil einer Inszenierung, weil Handke das Schauspiel seiner Zeit nicht mehr ertragen konnte.

Heute muss die Predigt aber Sorge tragen, den Eindruck einer unkontrollierten „Hate-Speech“ des Social-Media-Zeitalters nicht unmittelbar auf Gott zu übertragen. Der radikale – auf allen sinnlichen Ebenen (Sehen, Riechen, Hören, Fühlen, Schmecken) vollzogene – Kommunikationsabbruch ist qualifiziert als Kultkritik. In der antiken Welt dienten Opfer und Feste (und alle Feste waren religiös) einem gepflegten Umgang mit der Gottheit und sollten ihr Wohlwollen erreichen. Die Vorstellung einer tatsächlich vom gereichten Opfer essenden Gottheit, deren Akzeptanz des Opfers sich dann als Entgegenkommen durch Schutz, Reichtum und Macht zeigt, war überall verbreitet. Die Kultpriester richteten in geordneter Weise aus, ob die Gottheit das Opfer annahm oder nicht. Aber hier hasst Gott alles, aber auch wirklich alles am Kult, den die Feiernden besonders schön gestalteten. An der Schönheit der Gottesdienstgestaltung liegt das freilich nicht.

Die Exegese weist auf eine textkritische Varianz hin, die man nicht leichtfertig außer Acht lassen sollte: V. 22aα gibt es eine Einschränkung, die in der Septuaginta aufgelöst wurde: „Brandopfer“ nimmt Gott von seiner Totalverachtung aus, wohl weil es sich um eine komplette Verbrennung des Opfertieres (außer der Haut) handelte, die eine Zweitverwertung (etwa zum gemeinsamen Verzehr) ausschloss und die gesamte „sündige Verfasstheit“ des Menschen „sühnt“. Lässt Gott sich also doch bestechen, wenn das Opfer nur groß und für die Opfernden teuer genug ist? Mir scheint vielmehr der Fall zu sein, dass auf alles Ästhetisierende, den eigenen Genuss anregende und damit dem eigenen Ego dienende verzichtet wird und stattdessen die eigene existenzielle Verfasstheit, die nackte Existenz vor Gott offenbart und offeriert wird. Hier ist nurmehr Sein, keinerlei Schein. Solcher Buße verschließt Gott sich nicht. Cave: Wer auf V.22aα in der Predigt eingehen will, sollte dies von antiken Opfervorstellungen aus tun und eine vorschnelle christologische Deutung vermeiden.

3. Theologische Aktualisierung

Der Text bietet keinen Trost. Der einzige Zuspruch im Text ist, dass Gott die Kommunikation bei allem Hass nicht abreißen lässt. Auch wenn er sich abwendet, spricht er dennoch zu den Menschen. Das tut er als Predigttext auch heute, auch im Blick auf unsere Kultpraxis, auf unsere Art und Weise Gottesdienst zu feiern. V. 24 nimmt die Begriffe Recht und Gerechtigkeit mit in die prophetische Rede mit hinein, die – im gesamten Amosbuch wie in prophetischer Kritik allgemein – immer den Zusammenhang von Religion und Alltagswelt herstellen. Michael Schibilsky hat in einem, von der Industriekultur des Ruhrgebiets geprägten Buch „Alltagswelt und Sonntagskirche“ (1983) darauf hingewiesen, dass sich Alltagswelt, Arbeitsleben, Familie, Milieu und Umgang mit natürlichen Ressourcen nicht vom Sonntagsgottesdienst ausschließen lassen. Beide durchdringen einander, gehen aber nicht ineinander auf. Dorothee Sölle, Fulbert Steffensky und andere hatten Fragen nach Recht und Gerechtigkeit in die Mitte des „Politischen Nachtgebets“ gestellt. Es war mehr als ein Nachhall dieser Tradition, als der Pastor der Nordkirche Quinton Caesar in seiner Predigt zum Abschluss des Kirchentags in Nürnberg 2023 und mit Blick auf Menschen mit Ausgrenzungs- und Marginalisierungserfahrung betonte: „Wir haben keine sicheren Orte in euren Kirchen“.

Es besteht die Hoffnung, dass Gott seine Ohren nicht abwendet, wenn der Gottesdienst nicht l‘art pour l’art ist, sondern Recht und Gerechtigkeit in Gebet und Klagelied, Lobpreis, Fürbitte und Verkündigung aufgenommen und im Alltag gelebt werden. Traurige Relevanz hat die Klage des Amos in der Corona-Pandemie erhalten. Viel Zeit und Geld steckten Gemeinden und Kirchenleitungen in die Frage, ob und wie man digitale Gottesdienst feiern könne. Heftig gestritten wurde über digitales Abendmahl und im Anschluss über die Frage nach dem Einzelkelch. Die Seelsorge in Krankenhäusern, Altenheimen und bei isolierten Menschen zuhause, insbesondere in der Sterbebegleitung unterblieb vielfach. Nicht nur die CONTOC-Studie gibt zu denken, auch Erzählungen im privaten Umfeld geben Anlass zum Nachdenken, ob zeitweise mehr über Schönheit und liturgische Richtigkeit diskutiert als sozial isolierte Alleingelassene besucht wurden.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Der Sonntag Estomihi soll laut kirchenjahr.de ausgehend von der Leidensankündigung Jesu in die Nachfolge rufen. Das lässt sich mit dem Predigttext nicht leicht verbinden. Es scheint mir eher angebracht zu sein, die ‚tollen‘ Tage vor Anbruch der Passionszeit zu bedenken, Karnevalsumzüge und närrisches Treiben. Kulturwissenschaftlich ist die ‚fünfte Jahreszeit‘ interessant, diente sie doch durch groteske Maskierungen, Mummenschanz und theatralische Inszenierung der Entblößung des Verkehrten in der Welt. Dem Karnevalstreiben wird am Aschermittwoch mit Bußpsalm, Beginn des Fastens und einem sinnlich nachvollziehbaren Ascheritus als Zeichen der Umkehr ein Ende gesetzt. Zum Karnevalstreiben gehört die angriffslustige Narren- und Büttenrede, zum Aschermittwoch die Verinnerlichung der gehörten Kritik und der Wille zur Umkehr.

5. Anregungen

Dass Am 5,21–24(27) die Predigtperikope am letzten Sonntag der Vorfastenzeit ist, bietet die Möglichkeit, Amos bewusst zur Projektionsfläche zu machen, indem seine Verbalattacke klar inszeniert wird. Schon die Positionierung des:r Sprecher:in im Kirchenraum ist von Bedeutung: Kritik an Liturgie und Kult lässt sich schlecht von der liturgischen Bühne im Chorraum aus verlesen. Eine Positionierung mit Maskierung im Kirchenschiff ist denkbar. Der Stil der Publikumsbeschimpfung ist einen Versuch wert; im Verlauf der Predigt ist die Maske abzunehmen: Groteskes und Dramatisches kann Teil des Spiels sein. Der Ruf zur Buße jedoch ist Ernst.

Literatur

Autoren

  • Prof. Dr. Aaron Schart (Einführung und Exegese)
  • Prof. Dr. Traugott Roser (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500021

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