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Prediger 3,1-15 | Altjahrsabend | 31.12.2023

Einführung in das Predigerbuch

Das Koheletbuch (Predigerbuch) gehört zu den weisheitlichen Schriften der Hebräischen Bibel. Man muss Kohelet nicht zwingend als pessimistischen, skeptischen oder gar nihilistischen Denker verstehen, sondern kann sein Denken als eine konstruktive Weiterentwicklung weisheitlicher Traditionen deuten. Wie schon im Sprüchebuch ist auch im Koheletbuch die Erfahrung das konstitutive Element der Weisheit. Dass die Erfahrung aber anderes lehren kann als die ‚Schulweisheit‘, führt den Weisheitslehrer Kohelet über die Erfahrung hinaus an die Grenzen des Menschen und seiner Möglichkeiten, die Kohelet wahrnimmt, zugleich aber auch anerkennt und genau daraus seinen Aufruf zur Freude an den gegebenen Möglichkeiten des Lebens entwickelt.

1. Verfasser

‚Kohelet‘ ist der sprachlichen Form nach kein Name, sondern eine Funktionsbezeichnung, die mit dem hebräischen Begriff für Gemeinde oder Versammlung (qāhāl) zusammenhängt. Man kann ‚Kohelet‘ daher als Versammlungsleiter verstehen. Innerhalb des Buches oszilliert der Begriff zwischen Funktionsbezeichnung und Name. Kohelet ist mit den Weisheitstraditionen seiner Zeit vertraut und gehört offensichtlich zu den gebildeten Kreisen. Dass er neben Bildung auch über materielle Ressourcen verfügte, lässt sich aus einer Reihe von Texten über den Reichtum schließen, dessen Vorzüge Kohelet zu kennen scheint, zugleich aber darum weiß, dass Materielles keinen bleibenden Bestand hat.

2. Adressaten

Das Koheletbuch richtet sich an weisheitlich gebildete Kreise, die sich mit Kohelet auf den Weg machen, offene Fragen im Umfeld des weisheitlichen Denkens zu bearbeiten. Gibt es etwas Neues unter der Sonne? Stehen Tun und Ergehen in einem Zusammenhang? Was bleibt dem Menschen bei aller seiner Mühe unter der Sonne? Möglicherweise liegt mit dem Koheletbuch ein Lehrwerk für den Unterricht vor, der auf die weisheitliche Grundausbildung folgte. Innerhalb dieses Lehrwerkes wird das bisher Gelernte problematisiert. Damit werden Leserinnen und Leser des Buches zum eigenen Nachdenken angeregt und ermutigt.

3. Entstehungsort

Eine Reihe von Bezügen auf Jerusalem und die Königstradition legt es nahe, Kohelet in Jerusalem zu verorten. Obwohl er sich selber als Sohn Davids ausweist, sprechen sprachliche und sachliche Gründe dagegen, Kohelets Weisheitsschrift im 10. Jahrhundert v.Chr. zu verorten. Vieles weist auf das 4./3. Jahrhundert v.Chr. als Entstehungszeit des Buches hin. Kohelets Denken fußt auf älteren Weisheitstraditionen und stellt sich zugleich den Herausforderungen der hellenistischen Zeit.

4. Wichtige Themen

Das Koheletbuch verbindet hermeneutische Tiefenreflexionen über die Möglichkeiten menschlichen Erkennens mit ethischen Überlegungen über das Tun des Menschen in den konkreten Konstellationen des Lebens. Dass es nichts Neues unter der Sonne gebe, ist für Kohelet dabei wohl eine tröstende Botschaft angesichts aufkommender Erwartungen eines katastrophalen Weltuntergangsgeschehens, das nach Kohelet nicht zu erwarten ist, weil die Erde seiner Überzeugung nach fest steht. Dass aufgrund weisheitlicher Anstrengungen das Werk Gottes aber keineswegs von Anfang bis Ende erfasst werden kann, gehört ebenso zu Kohelets Einsichten wie seine Beobachtung, dass das Tun des Menschen und sein Ergehen in keinem korrespondierenden Verhältnis stehen, sondern dass es dem Frevler gut und dem Gerechten schlecht gehen kann und dass am Ende auf beide dasselbe zukommt, dem sich keiner entziehen kann. Weil es keinen bleibenden Gewinn für den Menschen gibt und er am Ende auf den Tod zugeht, ist der Mensch allerdings gut beraten, das Leben in seiner Gegenwart zu einem gelingenden Zeitraum zu machen und nicht nur zu essen, zu trinken und es sich gut gehen zu lassen, sondern sich auch der Einsicht in die eigenen Grenzen zu stellen und gerade aufgrund dieser Einsicht eine gewisse Gelassenheit als Haltung zu entwickeln, mit der den Unwägbarkeiten des Lebens begegnet werden kann. Dass die Freude am Leben eine Gabe Gottes ist, steht für Kohelet fest – wie Kohelet ohnehin von einer beeindruckenden Gottesgewissheit herkommt, die seinem Denken den tieferen Grund gibt.

5. Besonderheiten

Innerhalb der Hebräischen Bibel ist das Koheletbuch diejenige Schrift, die sich am ehesten dem annähert, was man als Autorenliteratur bezeichnen kann. Der Verfasser tritt hier als Ich-Sprecher entgegen und weist die im Buch vorliegenden Betrachtungen der Wirklichkeit als seine Sicht auf die Dinge aus.

Neben dem Hohelied ist das Koheletbuch die biblische Schrift, innerhalb derer am konsequentesten zur Freude am Leben aufgerufen wird. Damit setzt das Koheletbuch einen theologischen und anthropologischen Akzent, dem es nicht an Tiefe fehlt, der bei aller Tiefe aber auch die konkreten Möglichkeiten des geschenkten Tages nicht aus dem Blick verliert.

Literatur:

  • Krüger, T., 2000, Kohelet (Prediger) (BKAT XIX Sonderband), Neukirchen-Vluyn
  • Schwienhorst-Schönberger, L., 2004, Kohelet (HThKAT), Freiburg i. Br. u.a.
  • Schellenberg, A., 2013, Kohelet (ZBK.AT 17), Zürich
  • Saur, M., 2023, Gelassenheit. Eine Auslegung des Koheletbuches, Berlin/Boston

A) Exegese kompakt: Prediger 3,1-15

Zeitfragen – zwischen Ahnung und Erkenntnis.

1לַכֹּ֖ל זְמָ֑ן וְעֵ֥ת לְכָל־חֵ֖פֶץ תַּ֥חַת הַשָּׁמָֽיִם׃ ס

2עֵ֥ת לָלֶ֖דֶת וְעֵ֣ת לָמ֑וּת עֵ֣ת לָטַ֔עַת וְעֵ֖ת לַעֲק֥וֹר נָטֽוּעַ׃ 3עֵ֤ת לַהֲרוֹג֙ וְעֵ֣ת לִרְפּ֔וֹא עֵ֥ת לִפְר֖וֹץ וְעֵ֥ת לִבְנֽוֹת׃ 4עֵ֤ת לִבְכּוֹת֙ וְעֵ֣ת לִשְׂח֔וֹק עֵ֥ת סְפ֖וֹד וְעֵ֥ת רְקֽוֹד׃ 5עֵ֚ת לְהַשְׁלִ֣יךְ אֲבָנִ֔ים וְעֵ֖ת כְּנ֣וֹס אֲבָנִ֑ים עֵ֣ת לַחֲב֔וֹק וְעֵ֖ת לִרְחֹ֥ק מֵחַבֵּֽק׃ 6עֵ֤ת לְבַקֵּשׁ֙ וְעֵ֣ת לְאַבֵּ֔ד עֵ֥ת לִשְׁמ֖וֹר וְעֵ֥ת לְהַשְׁלִֽיךְ׃ 7עֵ֤ת לִקְר֨וֹעַ֙ וְעֵ֣ת לִתְפּ֔וֹר עֵ֥ת לַחֲשֹׁ֖ות וְעֵ֥ת לְדַבֵּֽר׃ 8עֵ֤ת לֶֽאֱהֹב֙ וְעֵ֣ת לִשְׂנֹ֔א עֵ֥ת מִלְחָמָ֖ה וְעֵ֥ת שָׁלֽוֹם׃ ס

9מַה־יִּתְרוֹן֙ הָֽעוֹשֶׂ֔ה בַּאֲשֶׁ֖ר ה֥וּא עָמֵֽל׃ 10רָאִ֣יתִי אֶת־הָֽעִנְיָ֗ן אֲשֶׁ֨ר נָתַ֧ן אֱלֹהִ֛ים לִבְנֵ֥י הָאָדָ֖ם לַעֲנ֥וֹת בּֽוֹ׃ 11אֶת־הַכֹּ֥ל עָשָׂ֖ה יָפֶ֣ה בְעִתּ֑וֹ גַּ֤ם אֶת־הָעֹלָם֙ נָתַ֣ן בְּלִבָּ֔ם מִבְּלִ֞י אֲשֶׁ֧ר לֹא־יִמְצָ֣א הָאָדָ֗ם אֶת־הַֽמַּעֲשֶׂ֛ה אֲשֶׁר־עָשָׂ֥ה הָאֱלֹהִ֖ים מֵרֹ֥אשׁ וְעַד־סֽוֹף׃ 12יָדַ֕עְתִּי כִּ֛י אֵ֥ין ט֖וֹב בָּ֑ם כִּ֣י אִם־לִשְׂמ֔וֹחַ וְלַעֲשֹׂ֥ות ט֖וֹב בְּחַיָּֽיו׃ 13וְגַ֤ם כָּל־הָאָדָם֙ שֶׁיֹּאכַ֣ל וְשָׁתָ֔ה וְרָאָ֥ה ט֖וֹב בְּכָל־עֲמָל֑וֹ מַתַּ֥ת אֱלֹהִ֖ים הִֽיא׃ 14יָדַ֗עְתִּי כִּ֠י כָּל־אֲשֶׁ֨ר יַעֲשֶׂ֤ה הָאֱלֹהִים֙ ה֚וּא יִהְיֶ֣ה לְעוֹלָ֔ם עָלָיו֙ אֵ֣ין לְהוֹסִ֔יף וּמִמֶּ֖נּוּ אֵ֣ין לִגְרֹ֑עַ וְהָאֱלֹהִ֣ים עָשָׂ֔ה שֶׁיִּֽרְא֖וּ מִלְּפָנָֽיו׃ 15מַה־שֶּֽׁהָיָה֙ כְּבָ֣ר ה֔וּא וַאֲשֶׁ֥ר לִהְי֖וֹת כְּבָ֣ר הָיָ֑ה וְהָאֱלֹהִ֖ים יְבַקֵּ֥שׁ אֶת־נִרְדָּֽף׃

Ecclesiastes 3:1-15BHSBibelstelle anzeigen

Übersetzung

1 Für alles gibt es einen Zeitpunkt (זְמָן)

und eine Zeit (עֵת) für jede Angelegenheit (חֵפֶץ) unter dem Himmel (תַּחַת הַשָּׁמָיִם).

2 Zeit zum Gebären und Zeit zum Sterben,

Zeit zum Pflanzen und Zeit zum Ausreißen des Gepflanzten,

3 Zeit zum Töten und Zeit zum Heilen,

Zeit zum Einreißen und Zeit zum Aufbauen,

4 Zeit zum Weinen und Zeit zum Lachen,

Zeit des Klagens und Zeit des Tanzens,

5 Zeit, Steine zu werfen, und Zeit des Steine Sammelns,

Zeit, sich zu umarmen, und Zeit, sich aus der Umarmung zu lösen,

6 Zeit zum Suchen und Zeit zum verloren gehen lassen,

Zeit zum Bewahren und Zeit zum Wegwerfen,

7 Zeit zum Zerreißen und Zeit zum Nähen,

Zeit zum Schweigen und Zeit zum Reden,

8 Zeit zum Lieben und Zeit zum Hassen,

Zeit des Krieges und Zeit des Friedens.

9 Welchen Gewinn hat derjenige, der etwas tut, davon, dass er sich abmüht? 

10 Ich sah das Geschäft (ָעִנְיָן), das Gott den Menschen gegeben hat, um sich damit abzumühen.

11 Alles hat er schön (יָפֶה) gemacht zu seiner Zeit.

Auch die ferne Zeit (הָעֹלָם) hat er in ihr Herz gegeben, ohne dass der Mensch das Werk, das Gott getan hat, von Anfang bis Ende herausfinden könnte.

12 Ich erkannte, dass es nichts Gutes unter ihnen gibt,

als sich zu freuen und Gutes zu tun in seinem Leben.

13 Und auch jeder Mensch, der isst und trinkt und Gutes genießt bei aller seiner Mühe (בְּכָל־עֲמָלֹו) – eine Gabe Gottes ist es.

14 Ich erkannte, dass alles, was Gott macht, für immer sein wird. Ihm ist nichts hinzuzufügen, und von ihm ist nichts wegzunehmen.

Und Gott hat es so gemacht, dass man sich vor ihm fürchte.

15 Was einmal geschah, ist längst wieder geschehen, und was geschehen wird, ist längst schon geschehen.

Gott aber sucht (יְבַקֵּשׁ) das Entschwundene (נִרְדָּף).

1. Fragen und Hilfen zur Übersetzung

Die beiden hebräischen Zeitbegriffe עֵת und זְמָן stehen in V. 1 im parallelismus membrorum nebeneinander und werden synonym gebraucht.

In Koh 3,11 wird mit הָעֹלָם die ‚ferne Zeit‘ bezeichnet, ohne dass damit gleich die Ewigkeit gemeint ist – es geht zunächst einmal nur um die entfernt liegende Zeit, um die der Mensch ahnend wissen kann.

Das Partizip נִרְדָּף in Koh 3,15 ist mehrdeutig: Wird hier vom Verlorenen (Zürcher Bibel) oder vom Vergangenen (Lutherbibel) gesprochen? Die hebräische Wurzel רדף bezeichnet den Vorgang des Verfolgens, das Partizip נִרְדָּף kann man daher als Bezeichnung für das Verfolgte, also das, was entschwunden ist, verstehen. Wie an vielen Stellen im Koheletbuch lässt sich hier keine eindeutige, mit dem hebräischen semantischen Feld deckungsgleiche Übersetzung finden.

2. Literarische Gestalt und Kontext

Der vorliegende Text besteht aus zwei Teilen: Koh 3,1–9 und Koh 3,10–15. Beide Texte sind aufeinander beziehbar, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte und einen unterschiedlichen Stil.

Koh 3,1­–9 ist sehr gleichförmig aufgebaut: In V. 2–8 finden sich je Vershälfte jeweils zwei parallele Zeitaussagen, die mehrheitlich nach dem formalen Muster: עֵת plus לְ plus infinitivus constructus aufgebaut sind. Nur die thematische Einleitung in V. 1a.bα mit der Schlusswendung תַּחַת הַשָּׁמָיִם in V. 1bβ und die Frage in V. 9 heben sich von den stereotypen Formulierungen in V. 2–8 ab.  Mit Koh 3,10–15 wird die Reihe der Reflexionen Kohelets eröffnet, die das Koheletbuch bestimmen. Koh 3,10–15 steht an der Spitze dieser Texte und hat eine für das Denken Kohelets grundlegende Bedeutung. 

3. Historische Einordnung

Koh 3,1–15 greift die innerhalb des Weisheitsdiskurses zentralen Themen Zeit und Erkenntnis auf. Beide werden im vorliegenden Perikopentext miteinander verbunden, können aber auch unabhängig voneinander erschlossen werden. Die Zeit wird in der Weisheitsliteratur, vor allem im Sprüchebuch, häufig als die richtige, angemessene Zeit für etwas verstanden und entsprechend profiliert. Genau diese Perspektive greift das Gedicht in Koh 3,2–8 auf.

Die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Erkenntnis werden nicht nur im Koheletbuch, sondern auch im Hiobbuch, den Weisheitspsalmen Ps 49 und Ps 73 und den Reflexionen Agurs in Spr 30,1–9 ausgelotet. Im Blick auf beide Themenfelder spiegelt die Perikope eine Stimme innerhalb des breiteren alttestamentlichen Weisheitsdiskurses.

4. Schwerpunkte der Interpretation

V. 1 eröffnet den Text mit der Aussage, dass es für alles eine bestimmte Zeit gebe. Der Aussagesatz erscheint als die Zusammenfassung einer Erfahrung und passt sich damit in den weisheitlichen Kontext ein. Das Lexem חֵפֶץ bezeichnet innerhalb des Verses das, worauf die Zeit jeweils gerichtet ist und wird im Sinne von ‚Angelegenheit‘ oder ‚Geschäft‘ zu deuten sein; daneben hat der Begriff im Hebräischen aber auch die Bedeutung ‚Gefallen‘. Von hier aus wird die Richtung des in Koh 3 vorliegenden Zeitverständnisses erkennbar: Nach Koh 1,9 gibt es zwar nichts Neues unter der Sonne, nach Koh 3,1 gibt es aber sehr wohl erfreuliche Angelegenheiten unter dem Himmel. Die Zeit, die Kohelet hier im Blick hat, ist nicht die messbare Zeit im Sinne von Stunden oder Minuten, sondern die qualifizierte Zeit, die sich durch das sie jeweils Bestimmende auszeichnet. Die Interpretation des Textes wird stark davon bestimmt, wo man nun den Schwerpunkt setzt: bei der Begrenzung oder bei den Möglichkeiten des Menschen. Die Beispiele, die in V. 2-8 angeführt werden, lassen jeweils beide Pole des menschlichen Aktionsradius’ erkennen und widersprechen in ihrer Antithetik, die jedem Tun seine entgegengesetzte Möglichkeit eingrenzend zur Seite stellt, einem Allmachts- und Selbstverwirklichungs­wahn, der den Menschen absolut setzt.

Nach V. 10 hat Gott dem Menschen Mühe (ָעִנְיָן) zugedacht. V. 11a qualifiziert die Gesamtheit der Wirklichkeit als יָפֶה – ‚schön‘ in einem umfassenden Sinn. Die Anspielung auf das abschließende Urteil des priesterschriftlichen Schöpfungsberichts, demzufolge nach Gen 1,31 alles sehr gut (טֹוב מְאֹד) sei, ist nicht zu übersehen. עִנְיָן und יָפֶה stehen im Blick auf den Menschen in einem Zusammenhang: Der Mensch ist trotz seiner Mühe in den Kosmos eingeordnet, den Gott schön gemacht hat. Diese Perspektive auf den Menschen wird in V. 11b deutlich erweitert: Die Gesamtheit der Schöpfung ist nicht nur schön zu ihrer Zeit, sondern dem Menschen ist auch ein Wissen um הָעֹלָם, die ‚ferne Zeit‘, gegeben, ohne dass der Mensch das Werk Gottes von Anfang bis Ende, also umfassend herausfinden und erkennen kann. Schönheit dessen, was Gott gemacht hat – Gabe der ‚fernen Zeit‘ in das Herz des Menschen – Unfähigkeit des Menschen zu umfassender Erkenntnis: Es sind diese drei Aspekte, die die Architektur des Verses konstituieren. Der Akzent liegt dabei nicht auf der Schönheit des Werkes Gottes, denn V. 11a ist nur der Ausgangspunkt, von dem her die Aussagen über den Menschen in V. 11b entwickelt werden: Das Werk Gottes ist schön zu seiner Zeit, der Mensch kann es allerdings nicht vollständig überblicken, obwohl der Mensch selbst das Wissen um הָעֹלָם in seinem Herzen trägt. Der Mensch kann keine umfassende Erkenntnis erlangen, steht aber keineswegs im Bereich des absoluten Nicht-Wissens. Ihm ist etwas ins Herz gegeben, das man als Ahnung bezeichnen könnte. Sie kann aus dem Nicht-Wissen herausführen und über das Stadium der Vermutung und der Meinung zu Wissen und Erkenntnis werden.

In V. 12-13 werden im Anschluss an Koh 2,24 daraus die Konsequenzen gezogen: Der Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Möglichkeiten folgt die Überzeugung, dass die Lebensfreude das Gut des Menschen sei. Dass genau diese Lebensfreude in Koh 3,13b als Gabe Gottes qualifiziert wird, verbindet die Lebensfreude mit der Mühe aus V. 10 und der fernen Zeit aus V. 11b: Es handelt sich bei allem um Gaben Gottes. Während allerdings die ferne Zeit die Gegenwart umfasst, in ihr aber nicht aufgeht, ist die Lebensfreude ein ganz und gar gegenwärtiges Phänomen, das den Menschen in seinem konkreten Lebensvollzug bestimmt. Die auf hāʻolām bezogene Ahnung führt den begrenzten Menschen an den Rand seiner Möglichkeiten – die Lebensfreude dagegen erschließt dem Menschen sein ermöglichtes Sein. Dass es Kohelet dabei nicht um Hedonismus geht, unterstreicht die Wendung בכל־עמלו (‚bei aller seiner Mühe‘) am Ende von V. 13a: Die klassische Trias der Lebensfreude – essen, trinken, es sich gut gehen lassen – wird in das Licht der Mühe gestellt, die menschliches Leben bestimmt. Es gibt kein Leben ohne Mühe, es gibt aber auch kein Leben ohne Genuss. Mühe und Genuss sind die beiden Seiten menschlicher Existenz – und sie sind Gaben Gottes, wie V. 13b im Blick auf den Genuss abschließend betont.

V. 14 folgert: Gott hat nicht nur alles schön gemacht zu seiner Zeit, wie noch in V. 11 zu lesen war, sondern Gott wirkt bleibend – seinem Werk ist nichts hinzuzufügen und von ihm ist nichts wegzunehmen. Dass das alles den Menschen zur Gottesfurcht bringt, setzt einen klassisch weisheitlichen Akzent. Die Furcht Gottes wird hier allerdings nicht als der Anfang der Weisheit verstanden, sondern stellt das Ende bzw. das Ergebnis einer Reflexion über die Schöpfung dar. Ahnung, Erkenntnis und Furcht Gottes bilden einen Zusammenhang, der sich als ein anthropo­lo­gi­scher Hauptsatz des Koheletbuches verstehen lässt.

Unter Rückgriff auf Gedanken aus Koh 1,3-11 schließt Koh 3,15 den Abschnitt ab. Dass Gott das Entschwundene (נִרְדָּף) suche, ist nach V. 14a einigermaßen erstaunlich, da Gottes Werk für immer besteht und ihm nichts hinzugefügt und von ihm nichts weggenommen werden kann. Was ist dann aber das, was nach V. 15b entschwunden ist, wenn doch eigentlich nichts verloren gehen kann? Deutet man die der Form יְבַקֵּשׁ zugrundeliegende Wurzel  בקשׁ hier im Sinne eines trachtenden, strebenden, sich hingebenden Suchens, ergibt sich eine innerhalb des Gedankengangs schlüssige Aussage: Es ist allein Gott, der sich aufgrund der begrenzten Möglichkeiten des Menschen um das kümmern und sich dessen annehmen kann, was dem Menschen verloren erscheint. Nur Gott überblickt sein Werk insgesamt, daher kann auch nur er das zusammenhalten, was auseinanderzufallen droht.

5. Theologische Perspektivierung

Die Eigendynamik von Koh 3,2-8 kann zunächst unabhängig von der Kontextualisierung des Gedichts erfasst und der Text selber als ein weisheitliches Gedicht über die Zeit gelesen werden. Blickt man auf den Zusammenhang des Textes innerhalb der Eröffnungskapitel des Koheletbuches, zeigt sich, auf welche Linie der Text seine Leserinnen und Leser nach den Ausführungen zur immerwährenden Gleichzeitigkeit des Gleichen, zur Mühe des Menschen bei seinen Erkundungen und zur Freude beim Essen und Trinken trotz aller flüchtigen Nichtigkeit führt: Es geht Kohelet um die zeitliche Strukturierung der Wirklichkeit, die bereits in der Eingangsreflexion in Koh 1,3-11 und in dem Abschnitt über die fehlende Erinnerung und das ausbleibende Gedenken in Koh 2,13-17 anklang. Das Gedicht über die Zeit führt den Spitzensatz, dass nichts Neues unter der Sonne geschehe (Koh 1,9), mit Hilfe der These, es habe alles unter dem Himmel seine Zeit, weiter aus.

Koh 3,10-15 ist einer der zentralen Texte für die Rekonstruktion der anthropologischen Vorstellungen Kohelets. Kohelet formuliert hier entgegen dem Erkenntnis- und Bildungs­optimismus, wie er sich etwa im Sprüchebuch findet, eine zurückhaltendere Position im Blick auf die Möglichkeiten des Menschen. Mit der Verortung des Menschen zwischen Ahnung und Erkenntnis schließt Kohelet eher an erkenntniskritische Positionen an. Koh 3,10-15 gehört in einen weisheitlichen Diskurs um die Grenzen des Menschen: Gegenüber den weisheitlichen Kreisen, die hinter der optimistischen Spruchweisheit stehen und die den Bereich der weisheitlichen Bewältigung des Alltags mehr und mehr hinter sich lassen (s.v.a. Spr 1-9), um umfassendere Erkenntnisansprüche zu formulieren, markieren Texte wie etwa das Lied auf die Weisheit in Hi 28, das Bekenntnis des Nicht-Wissens in Spr 30,1-9 und auch die Reflexionen in Koh 3,10-15 Grenzen des Menschen. Koh 3,10-15 vertritt innerhalb dieses Diskurses eine eigenständig profilierte Position, wenn dem Menschen keineswegs vollkommene Unfähigkeit, sondern ein Status zwischen Ahnung und Erkenntnis attestiert wird. Dieser anthropologische Status bleibt unschärfer als ein Ansatz, der dem Menschen weitgehende Erkenntnisfähigkeiten bescheinigt, oder ein Ansatz, der dem Menschen jede Möglichkeit zur Weisheit abspricht. Er kann aber dazu beitragen, zwischen divergenten Positionen zu vermitteln, und hat damit ein konstruktives Moment.

B) Praktisch-theologische Resonanzen

1. Persönliche Resonanzen

Die Exegese begleitet einen Weg, der nahe an die homiletische Situation des Altjahresabends heranführt. Weisheitliche Texte, zu denen das Koheletbuch gehört, suchen aus gesammelten Erfahrungen Schlüsse zu ziehen. Sie sind damit in einer Entsprechung zu der Situation, in der sich Predigende und Gemeinde am Altjahresabend befinden. Diese haben das vergangene Jahr über unterschiedlichste Erfahrungen gesammelt. Am Altjahresabend, der das vergangene Jahr in den Blick nimmt, stellt sich die Frage nach deren Wahrnehmung und Deutung. Als Versuch einer Wahrnehmung und Deutung der eigenen Lebens- und Welterfahrung lässt sich auch das Koheletbuch lesen. So weisen das Anliegen der Textgattung und die homiletische Situation einige Entsprechungen auf.

Aus der Exegese lässt sich weiterhin lernen, dass es sich bei Kohelet verglichen mit anderen biblischen Büchern am ehesten um Autorenliteratur handelt. Es tritt also ein relativ greifbares Autoren-Ich gegenüber, das den Rezipierenden durch den Text gegenüber oder an die Seite tritt. Zudem zeigt die Exegese auf, dass es sich bei dem Perikopentext mit Koh 3,1-9 und Koh 3,10-15 eigentlich um zwei zu differenzierende Untertexte handelt. Dies eröffnet die Freiheit, tendenziell einen der Texte in der Predigtvorbereitung zu fokussieren. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, beide Texte auch in der Unterschiedlichkeit ihrer Anliegen in Beziehung zueinander sprechen zu lassen.

2. Thematische Fokussierung

Vor allem das Zeitgedicht in Koh 3,1-9 könnte in seiner Universalität des Beschriebenen auch ein in der Gegenwart verfasster Text sein. Geboren werden und Sterben, Weinen und Lachen, Einreißen und Aufbauen, Krieg und Frieden, Schweigen und Reden bestimmen damals wie heute in großen Teilen das menschliche Leben. Spätestens der Griff zu einem der Jahresrückblicke im Zeitschriftenregal zeigt auf: Neben aller Einzigartigkeit jeweiligen Geschehens gibt es doch größere Strukturen und wiederkehrende Muster. In allem Wandel bleibt eine – theologisch gesprochen – gottgegebene Stabilität.

Auf diese Grundsituation kann eine Predigt aufbauen. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dieser Weltwahrnehmung. Die Exegese zeigt auf, dass Kohelet nicht in Indifferenz und Nihilismus kippt, was durchaus eine Möglichkeit wäre. Sondern basierend auf der Beschreibung all dessen unter der Sonne im Zeitgedicht Koh 3,1-9 bietet Koh 3,10-15 einen Umgang damit an. Trotz aller Mühe ist alles „schön gemacht zu seiner Zeit“. Die Lebensperspektive bleibt eine optimistische. Die Anerkennung der eigenen Grenzen gehört für Kohelet zu einem gereiften Blick auf das Leben dazu, ebenso aber ein bewusster Lebensgenuss und eine tiefe Bezogenheit auf Gott. In Rückbezug auf die Exegese ließe sich von einer „glaubenden Gelassenheit“ sprechen, welche den Perikopentext prägt. Diese wiederum bietet sich als Brücke in die gegenwärtige Lebenswelt hinüber an.

3. Theologische Aktualisierung

Der Text entwirft eine Situation, in die sich die Hörenden der Predigt eintragen können. Lachen und Weinen, Klagen und Tanzen, Lieben und Hassen, Krieg und Frieden prägten auf die ein oder andere Weise auch das vergangene Jahr der Predigthörenden. So bietet der Text einen guten Ansatzpunkt mit den Hörenden auch heute „über ihr Leben“ und davon ausgehend über Gott zu sprechen.

Mit Blick auf sehr leidvolle Erfahrungen – Stichworte: Tod, Weinen, Krieg, Hass – weist der Text aber auch potentielle Fallstricke auf. So kann die Einordnung, dass „alles seine Zeit“ hat, zynisch und kalt wirken. Hier wird darauf zu achten sein, dass die seelsorgliche Dimension der Predigt nicht aus dem Blick gerät. Für eine explizite Thematisierung dieser besonders am Altjahresabend, nach den emotional intensiven Weihnachtsfeiertagen, wichtigen Dimension können Ansatzpunkte die Unergründlichkeit Gottes und des Lebens sein, die in V. 11 anklingen. „Es gibt Dinge, die der Mensch nicht ergründen kann“ ließe sich – einen Aspekt dieses Verses paraphrasierend – als Ausgangpunkt nehmen. Oder die Aussage in V. 15, dass Gott das Verlorene oder „Entschwundene“ sucht, welche die Exegese näher beleuchtet. Die Übersetzungsschwierigkeiten rund um die Wurzel רדף im Zusammenhang dieses Verses können ein Bezugspunkt für die Erfahrung sein, dass manche Aspekte des Lebens sich nicht klar erfassen, verstehen oder einordnen lassen. Eine ganz große Chance in der theologischen Aktualisierung dieses Textes ist, dass er sich einer sehr offenen und gleichzeitig sehr klaren Rede von Gott bedient. Gott ist in diesem Text eine weite und geheimnisvolle Größe, offen für verschiedene Transzendenzvorstellungen. Gleichzeitig regt die Perspektive einer „glaubenden Gelassenheit“ an, wesentlich auf diesen Gott bezogen zu sein, der Gutes und Mühevolles gibt und dessen großes Geheimnis Kohelet in eine tiefe Gottesfurcht führt.

4. Bezug zum Kirchenjahr

Ein Text wie Koh 3,1-15 kann am Altjahresabend auf eine produktive Weise Nähe und Distanz schaffen. Er schafft Nähe, indem er ein so breites Erfahrungsfeld aufmacht, dass alle Hörenden sich zumindest mit einigen der im Zeitgedicht benannten Sachverhalte und Stimmungen identifizieren können. Durch die Benennung und Einordnung schafft der Text aber auch gleichzeitig Distanz. Er ist eine Einladung mit dem Autoren-Ich des Textes zusammen aus einer Metaperspektive auf das Leben und die Welt zu blicken. Auf diese Weise passt er sehr gut zum Altjahresabend, welcher dem Rückblick auf das verstrichene Jahr einen liturgischen Ort im Kirchenjahr gibt. 

5. Anregungen

Der Text ist für verschiedene Sprachstile und Redegattungen offen. Zum Beispiel sind narrative Elemente, welche die benannten Erfahrungen im Zeitgedicht Koh 3,1-9 konkretisieren, an verschiedenen Stellen der Predigt denkbar. Hier ist der ausgestaltende Rückbezug auf das konkret im vergangenen Jahr Geschehene möglich. Narrationen können in Verlebendigung des Abstrakten stark hineinnehmen, in das, was sich tatsächlich ereignet hat an „Weinen“ oder „Lachen“ oder „Krieg“ und „Frieden“.

Gleichzeit bietet sich der Text für einen eher meditativen Predigtstil an. Schon das Zeitgedicht selbst lässt sich als eine Meditation lesen, um deren Schlussfolgerungen das Autoren-Ich in V. 10-15 dann ringt. Ein meditativer Predigtstil hat zudem eine besondere Chance bei dem zur Sammlung einladenden Anlass des Altjahresabends und den zu dieser Gelegenheit häufig gefeierten Abendgottesdiensten.

Die Sprecherrolle des/der Predigenden kann dabei ganz unterschiedlich sein und auch variieren: vom Ich Kohelets, oder einem Gegenüber, das mit dessen Text hadert, über das Ich einer von den benannten Lebensereignissen betroffenen Person hin zu einer Sprecherrolle als Meditationsanleitung.

Autoren

  • Prof. Dr. Markus Saur (Einführung und Exegese)
  • Dr. Andreas Stahl (Praktisch-theologische Resonanzen)

Permanenter Link zum Artikel: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/500010

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