die-Bibel.de

2.4. Das Lukasevangelium (Lk)

Übersicht über das Evangelium nach Lukas

1,1-4 Proömium
1,5-2,52 Geburtsgeschichten
3,1-4,13 Vorbereitung der Wirksamkeit Jesu
4,14-9,50 Wirksamkeit Jesu in Galiläa
9,51-19,27 Reisebericht (Jesus auf dem Weg nach Jerusalem)
19,28-21,38 Wirksamkeit Jesu in Jerusalem
22,1-23,56 Passion
24,1-53 Ostern und Himmelfahrt

Das lukanische Doppelwerk

Während die anderen Evangelien in sich abgeschlossene Einzelschriften sind, haben wir beim Lk den ersten Teil eines Doppelwerkes vor uns. Das Evangelium und die Apg bilden sowohl formal als auch inhaltlich eine Einheit, deren beide Teile nicht losgelöst voneinander betrachtet werden dürfen.

Der Verfasser greift in Apg 1,1 den Anfang des Lk (1,1-4) wieder auf und erinnert den Leser damit zugleich an die dort genannten Prinzipien seiner Darstellung. Die wesentlichen Themen des Lk finden sich auch in der Apg wieder: Das Motiv des durch den Heiligen Geist geleiteten Wegs des Heils, die Theologie des Wortes Gottes und die Problematik des Umgangs mit irdischen Besitztümern. Der Verfasser des Doppelwerkes will den Weg des Evangeliums von der Verkündigung Jesu bis in das Zentrum der Ökumene, Rom, berichten. Auf diesen Inhalt der Apg weist schon Lk 24,47. Möglicherweise fehlen im Lk die Passagen aus dem Mk, die den Übergang zur Heidenmission reflektieren (Mk 6,45-8,26), deshalb, weil davon erst der zweite Teil des Doppelwerkes berichten soll.

Der Verfasser

Die älteste für uns greifbare Verfassertradition findet sich bei Irenäus von Lyon (ca. 180). Er nennt Lukas, den Arzt, der ein Begleiter des Paulus war, als Verfasser von Evangelium und Apostelgeschichte. Irenäus beruft sich dabei ausdrücklich auf die „Wir-Passagen“ der Apg (Apg 16,10-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16) und lässt so zugleich erkennen, wie die Verfassertradition vermutlich entstanden ist. Wahrscheinlich hat die Alte Kirche die genannten Passagen mit Phlm 24; Kol 4,14 und 2Tim 4,11 kombiniert. Auf diese Weise erhielt der hinter den „Wir-Passagen“ vermutete anonyme Paulusbegleiter einen Namen.

Heute geht man dagegen allgemein davon aus, dass das lk Doppelwerk nicht von einem Begleiter des Paulus abgefasst worden ist. Es fehlen zentrale Themen paulinischer Theologie (Kreuzestheologie, an die Rechtfertigungslehre finden sich nur vage Anklänge). Wichtige Einzelheiten der paulinischen Missionstätigkeit sind ungenau oder falsch wiedergegeben (z. B. Kontaktaufnahme zu den Aposteln kurz nach der Bekehrung, Apostelkonzil, Zahl der Jerusalemreisen; vgl. das paulinische Selbstzeugnis in Gal 1f.). Schließlich verweigert der Verfasser des Doppelwerkes Paulus fast durchgehend den Aposteltitel (vgl. die Definition in Apg 1,21f.), den dieser selbst aber vehement für sich in Anspruch nimmt (vgl. Gal 1,1 u. ö.). Die Ausnahmen in Apg 14,3f.14 könnten auf die Verwendung von Tradition zurückgehen.

Auch das lk Doppelwerk ist also einem uns sonst unbekannten Christen zuzuschreiben. Der Verfasser verfügt über eine hellenistische Bildung. Diese dokumentiert sich in der gehobenen Sprache und der bewussten Aufnahme von literarischen Konventionen der antiken Historiographie und des antiken Romans. Im Proömium 1,1-4 erhebt er den Anspruch, Historiker der Heilsereignisse zu sein.

Über die Herkunft des Verfassers sagt das zunächst wenig aus. Er ist mit der LXX vertraut und lehnt sich häufig an deren Sprache an. Da er darüber hinaus ein ausgeprägtes Interesse an jüdischen Traditionen hat (vgl. z. B. die Darstellung des Synagogengottesdienstes in 4,16-30 und Apg 13,14-41) und ein erheblicher Teil seines Sondergutes nach Palästina als Entstehungsort weist, könnte man ihn für einen Judenchristen halten.

Allerdings vermeidet Lukas semitische Begriffe bzw. ersetzt sie durch griechische (z. B. Mk 10,51 Rabbouni – Lk 18,41 Kyrie [beides bedeutet Herr]; Mk 3,18 Kananäus – Lk 6,15 Zelot [Eiferer]). Auch das Zurücktreten der Deutung des Todes Jesu als Sühnetod will in diesem Zusammenhang bedacht sein. Zumindest die Adressaten des Lk (speziell Theophilos [1,3; Apg 1,1]) wird man also eher in heidenchristlichem Milieu suchen. Dafür spricht auch, dass der Verfasser der Schilderung des Übergangs zur Heidenmission in der Apg breiten Raum gibt.

Möglicherweise stammt der Verfasser selbst aus dem Kreis der „Gottesfürchtigen“, die sich als Sympathisanten um die Diasporasynagoge sammelten, ohne selbst Juden zu werden.

Abfassungszeit, -ort und -situaton

Die im lk Doppelwerk behandelten Probleme weisen Autor und Adressaten als typische Vertreter der dritten frühchristlichen Generation aus. Lukas wendet sich gegen Versuche, die Naherwartung wiederzubeleben (17,20f.; 19,11), hält aber am Aufruf zur Wachsamkeit und zum Bereithalten fest (12,35-40). Die intensive Reflexion über den Umgang mit Besitz und die scharfen Warnungen vor den Gefahren des Reichtums legen nahe, dass es in der angesprochenen Gemeinde eine nennenswerte Anzahl von relativ Besitzenden gab. Darüber hinaus ist Lukas bemüht, den Ort der christlichen Gemeinde in der Gesellschaft des Römischen Reiches näher zu bestimmen. Er konzentriert sich dabei darauf, möglichen Konflikten mit den römischen Behörden vorzubeugen.

Den Ort der Abfassung des lk Doppelwerkes wird man sicher außerhalb Palästinas suchen müssen. Der Verfasser schreibt aus der Perspektive der Mittelmeerwelt. So bezeichnet er den See Gennesaret im Unterschied zu Mk und Mt konsequent als „See“ und spricht von Palästina als „Judäa“. Verschiedene Indizien, z. B. die kenntnisreiche Schilderung in Apg 16,11f. sprechen für eine Abfassung in Makedonien, möglicherweise in Philippi.

Das Doppelwerk setzt den Tod des Apostels Paulus voraus (Apg 20,25.38; 21,13) und blickt auf die Zerstörung Jerusalems aus größerem Abstand zurück (21,20.24). Das und die oben geschilderte Zugehörigkeit von Autor und Adressaten zur dritten frühchristlichen Generation legen eine Datierung des Lk ungefähr auf das Jahr 90 nahe. Die Apg ist dann kurz danach entstanden.

Literarische Besonderheiten

Der Verfasser des Lk legt als einziger Evangelist in einem Proömium Rechenschaft über Ziel und Methoden seiner Arbeit ab. Er bemüht sich, die Perikopen durch redaktionell gestaltete Übergänge eng miteinander zu verbinden und auf diese Weise längere literarische Einheiten zu formen. Häufig werden diese Einheiten durch einleitende oder abschließende summarische Notizen gerahmt (z. B. 4,14f.31f.).

Lukas bietet neben dem Material aus Mk und Q in erheblichem Umfang Sondergut, das er vor allem dem sog. „Reisebericht“ zuordnet. Möglicherweise stammt dieses Sondergut zumindest teilweise aus einer schriftlichen Quelle, denn es zeigt mehrfach charakteristische literarische Eigentümlichkeiten (Beispielerzählungen, aus geprägtes Interesse an „Randsiedlern“, gewisse Vertrautheit mit jüdischen Sitten und religiösen Anschauungen).

Das Proömium

Mit dem Proömium knüpft der Evangelist terminologisch und sachlich an die antike Historiographie an. Er ist um eine vollständige und genaue Darstellung bemüht. Das schlägt sich z. B. darin nieder, dass Lukas in seinem Werk mehrfach Verbindungen zur Profangeschichte herstellt (1,5; 2,1f.; 3,1f.; vgl. Apg 11,28; 18,12). Für seine Darstellung beruft er sich auf die „Augenzeugen und Diener des Wortes“. Ziel ist die Vermittlung von Glaubenssicherheit.

Die Geburtsgeschichten

1,5-25 Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers
1,26-38 Ankündigung der Geburt Jesu
1,39-56 Besuch Marias bei Elisabet (V. 46-55 Magnificat)
1,57-80 Geburt des Täufers (V. 68-79 Benedictus)
2,1-21 Geburt Jesu, Anbetung durch die Hirten
2,22-40 Darstellung im Tempel, Zeugnis des Simeon und der Hanna
2,41-52 Der zwölfjährige Jesus im Tempel

In den Geburtsgeschichten schildert der Evangelist parallel die Ankündigungen der Geburten und die Geburten Johannes des Täufers und Jesu. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die großen Hymnen.

Durch die abwechselnde Schilderung der Ereignisse um Johannes und Jesus gelingt es Lukas, die überragende Bedeutung Jesu erzählerisch darzustellen. Während Johannes ohne Zweifel das Kind des Zacharias und der Elisabet ist, weiß Maria von keinem Mann. Das Kind wächst durch den Geist Gottes in ihr. Im Kontext des Lk bezeichnet das Benedictus Johannes als den Vorläufer Jesu. Jesus dagegen ist Heiland, Messias und Sohn Gottes.

Die Vorbereitung der Wirksamkeit Jesu

3,1-20 Auftreten und Gefangennahme des Täufers
3,21f. Taufe Jesu
3,23-38 Stammbaum Jesu
4,1-13 Versuchung Jesu

Im Bericht vom Auftreten des Täufers (3,1-20) versucht Lukas, die radikale Bußpredigt in praktikable Handlungsanweisungen umzusetzen (3,10-14). Diese Art des Umgangs mit entsprechender Tradition begegnet bei ihm mehrfach (z. B. 16,9-13).

Der Evangelist hatte schon zuvor gezeigt, dass mit Jesus etwas ganz Neues auf dem Weg Gottes mit den Menschen beginnt. Das drückt er jetzt durch den literarischen Kunstgriff aus, zuerst von der Gefangennahme des Täufers und erst danach die Taufe Jesu (3,21f.) zu erzählen. Der Stammbaum Jesu (3,23-38) reicht bis auf Adam als Stammvater der Menschheit zurück (diff. Mt), der dann ausdrücklich als von Gott geschaffen bezeichnet wird (3,38).

Jesus bewährt seine Gottessohnschaft in der Versuchung (4,1-13), die er „voll des Heiligen Geistes“ (4,1) besteht.

Die Wirksamkeit Jesu in Galiläa

4,14-30 Beginn des Auftretens Jesu in Galiläa, Ablehnung in Nazaret (V. 18-27 Antrittspredigt)
4,31-6,16 Heilungen, Jüngerberufungen, Streitgespräche
6,17-49 Zusammenströmen des Volkes, Feldrede (V. 20-49)
7,1-50 Gott hat sich seines Volkes in Jesus angenommen (7,16)
8,1-56 Das Wort Gottes und seine Macht
9,1-50 Jüngerbelehrung, Frage nach dem Wesen Jesu

Der 1. Hauptteil des Lk beginnt mit einem Summarium über die Wirksamkeit Jesu in Galiläa. Als Beispiel für seine Lehre in den Synagogen folgt die Episode vom Auftreten Jesu in Nazaret.

In der sogenannten „Antrittspredigt“ erhebt er den Anspruch, dass in seiner Person die Verheißungen Jesajas (Jes 61,1f.; 58,6) Wirklichkeit werden. Jesus ist in der Darstellung des Lk der Geistträger schlechthin, der Heil und Befreiung für die Bedrängten bringt (4,14-30).

Die Heilungen dienen im Lk vor allem der Legitimation der Vollmacht Jesu und seiner Lehre (4,36; 5,26; vgl. 5,17). Mit der Berufung des Levi und dem sich anschließenden Gastmahl beginnt die Auseinandersetzung mit den „Pharisäern und ihren Schriftgelehrten“. Jesus ist gekommen, die Sünder zur Umkehr zu rufen (5,32). Seine Vollmacht zeigt sich in der Souveränität über das Sabbatgebot (6,5). Die berufenen zwölf Jünger werden von Jesus Apostel genannt (6,13). Damit bereitet der Evangelist in seiner Erzählung die in der Apg vorausgesetzte Definition von „Apostel“ vor (vgl. Apg 1,21f.; 4,31-6,16).

Für die Feldrede (6,17-49) lässt der Evangelist eine Zuhörerschar aus allen jüdisch besiedelten Gebieten Palästinas zusammenströmen. Sie ist die formale und sachliche Parallele zur Bergpredigt. Die Rede beginnt mit je vier Seligpreisungen und Weherufen. Die jeweils letzten (6,22f.26) zeigen, dass Lukas mit ihrer Hilfe die Grundsatzfrage nach dem Platz der Christen in ihrer Umwelt stellt. Es folgt eine ausführliche Mahnung zur Feindesliebe, in deren Zentrum die goldene Regel steht (6,31). 6,36 verbindet diesen Abschnitt mit der Warnung vor dem gegenseitigen Richten. Am Ende der Rede steht die Mahnung zum Tun der Worte Jesu.

Die in 7,1-50 zusammengestellten Erzählungen berichten von der Reaktion verschiedener Gruppen auf die Wirksamkeit Jesu. Programmatisch wird am Beginn der überwältigende Glaube des heidnischen Hauptmanns erwähnt (7,9), während Jesus am Ende der Sünderin ihren rettenden Glauben bestätigt (7,50). Die Auferweckung des Jünglings zu Naïn und die Reaktion Jesu auf die Anfrage des Täufers rufen durch ihren Bezug auf Jes (29,18; 35,5f.; 26,19; 61,1) für die Leser des Evangeliums die „Antrittspredigt“ wieder ins Gedächtnis.

Nach einer Überleitung wendet sich Jesus mit dem Gleichnis vom Sämann an die Menge. Lukas übernimmt mit dem Gleichnis seine Deutung aus dem Mk. Die Außenstehenden werden durch die Gleichnisse verstockt (8,10), die Jünger werden zum rechten Hören ermahnt (8,18). 8,21 zeigt, dass er den gesamten Abschnitt unter der Maxime „Hören und Tun des Wortes Gottes“ verstanden wissen will. Die Sturmstillung und die Heilungen demonstrieren erneut die Vollmacht Jesu und die Macht seines Wortes. Ihm gehorchen die Elementargewalten und die Dämonen. Er heilt Krankheit und rettet vom Tod (8,1-56).

Mit der Aussendung der Zwölf rückt das Verhältnis zwischen Jesus und den Jüngern in das Zentrum der Darstellung. Zunächst aber kommt durch den Wunsch des Herodes noch einmal die Frage nach dem Wesen Jesu auf. Die Speisung der 5000, das Bekenntnis des Petrus und die Verklärungsgeschichte beantworten sie. Die erste Leidensankündigung und die Belehrung der Jünger über die Nachfolge treten dazwischen etwas in den Hintergrund (bei Lk fehlt an dieser Stelle das Missverständnis des Petrus; vgl. Mt 16,22; Mk 8,32).

Die Heilung des epileptischen Knaben demonstriert die Gottessohnschaft Jesu und ruft das Staunen der Volksmenge hervor. Die zweite Leidensankündigung setzt bewusst einen Kontrapunkt, der aber von den Jüngern nicht verstanden wird (9,45). Darauf folgt eine lange Jüngerbelehrung (9,1-50).