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Erbe / Erbrecht (NT)

(erstellt: September 2011)

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1. Vorkommen und Definition

Für die erbrechtlichen Termini κληρονομέω, κληρονόμος und κληρονομία (klēronomeō, klēronomos, klēronomia) finden sich im Neuen Testament insgesamt 47 Belege, von denen die Mehrzahl auf drei Schriftgruppen entfällt: die Paulusbriefe (14 Belege), die synoptischen Evangelien inklusive der Apostelgeschichte (15 Belege) und den Hebräerbrief (9 Belege). Acht weitere Belege finden sich in der übrigen Briefliteratur, ein Beleg in der Apokalypse. Im Johannesevangelium und in den Johannesbriefen (→ Corpus Johanneum) fehlen die Termini ganz. Mit Ausnahme von Lk 12,13 verwenden die neutestamentlichen Autoren die erbrechtlichen Begriffe im → metaphorischen Sinn: Mit dem „Erbe“ ist jeweils das partiell schon in der Gegenwart zugängliche eschatologische Heil im Blick, dessen umfassende Verwirklichung respektive endgültiger Empfang den Glaubenden als Söhnen / Kindern und Erben Gottes (Röm 8,16.17; Gal 3,26; Gal 4,7; Erben Gottes: Röm 8,17), als „Miterben Christi“ (Röm 8,17), als Nachkommen Abrahams (Gal 3,7.29; vgl. Röm 4,11.16) und als „Miterben“ Israels (Eph 3,6) verheißen wird. Die spezifischen Charakteristika der neutestamentlichen Vorstellungen vom Erbe sind: Die Spannung zwischen dem „Schon“ und dem „Noch nicht“ – vgl. z.B. das Motiv der Geistesgabe als Angeld auf das Heil (Röm 8,17.23; 2Kor 1,22; 2Kor 5,5; Eph 1,14) –, die Einsetzung Jesu Christi als Sohn und Erbe (Mk 12,7 parr.; Hebr 1,2; vgl. Gal 3,16), die Verbindung von Erbe und „Reich Gottes“ (1Kor 6,9.10; 1Kor 15,50; Gal 5,21; Jak 2,5; vgl. Mt 25,34), und die Teilhabe nichtjüdischer Christusgläubiger am Erbe Israels (vgl. z.B. Röm 4,16; Eph 3,6). Formal und inhaltlich knüpfen die neutestamentlichen Schriften mit ihrem Verständnis des „Erbes“ an der zwischentestamentlich-jüdischen Literatur an: Dies zeigt sich sowohl an der Eschatologisierung der Erbgüter – vgl. z.B. die Wendung „das ewige Leben ererben“ (PsSal 14,10; äthHen 40,9 / Mk 10,17 parr.; Mt 19,29; Lk 10,25; Tit 3,7; vgl. 1Kor 15,50) und die damit verbundene Vorstellung, dass nur die Gerechten das Erbe erlangen (PsSal 14,9-10; vgl. 4Esr 7,17 / 1Kor 6,9-10; Gal 5,21; Apk 21,7f) – als auch an der Ausweitung der Landverheißung auf die ganze Welt (Jub 17,3; vgl. Jub 22,14; Jub 32,19 / Röm 4,13f). Von besonderer Bedeutung ist im Neuen Testament neben der → Abraham geltenden Land- (Hebr 11,8; vgl. Apg 13,19; Röm 4,13f) und Nachkommensverheißung (Röm 4,16-22; vgl. Gal 3,6; Hebr 6,14) die Segensverheißung für die Völkerwelt (Gal 3,8.14; vgl. Eph 3,6). Im Folgenden werden die besonderen Akzente der einzelnen neutestamentlichen Autoren bei der Rede vom Erbe skizziert.

2. Paulus

Bei → Paulus spielt das Thema Erbe / Erbrecht im Zusammenhang der Diskussion des Status nichtjüdischer Christusgläubiger eine hervorragende Rolle. Dem Völkerapostel kommt es darauf an, diese als legitime Söhne Abrahams (Gal 3,7) und damit auch als Erben (Gal 3,29) der an ihn ergangenen Segensverheißung (Gal 3,8.14) auszuweisen. In Übereinstimmung mit jüdischen, griechischen und römischen Rechtsvorstellungen begründet Sohnschaft den Status als Erbe (Gal 4,7; Röm 8,17; vgl. Gal 3,29). Söhne Abrahams und Erben der Verheißung sind die nichtjüdischen Christusgläubigen aber nur durch Christus, den einen Nachkommen Abrahams (Gal 3,16). Durch die Gabe des eschatologischen → Geistes werden sie nicht nur als Kinder Gottes adoptiert (Gal 4,5-7; vgl. Röm 8,14-17), sondern als Glaubende auch in die Nachkommenschaft Abrahams integriert (Gal 3,7; Gal 3,26-29). Abraham ist somit Vater „nicht nur derjenigen, die aus der Tora leben, sondern auch derjenigen, die aus dem Glauben Abrahams leben“ (Röm 4,16; vgl. Röm 4,11). Diese Konstruktion einer neuen kollektiven Identität nichtjüdischer Christusgläubiger durch die Verbindung des griechisch-römischen Rechtsinstituts der Adoption mit der Geistesgabe gelingt Paulus auch durch die Verknüpfung von Verheißung, Glaube und Erbe respektive durch die Betonung der Unabhängigkeit des Erbes von der allein Israel gegebenen Tora (Gal 3,15-22; Röm 4,13-14). In diesem Zusammenhang argumentiert Paulus – u.a. unter Verwendung eines Bildes aus dem Erbrecht – mit der zeitlichen und sachlichen Priorität der Verheißung vor der Tora (Gal 3,15-18; Gal 3,21). Die Unabhängigkeit des Erbes von der → Tora dient Paulus nicht der Infragestellung der Erwählung Israels, sondern der Integration nichtjüdischer Christusgläubiger in den Stammbaum Abrahams. Inhaltlich bezieht sich das Erbe auf das eschatologische → Heil bzw. das ewige Leben (1Kor 15,50), von dem die Ungerechten ausgeschlossen werden (1Kor 6,9-10; Gal 5,21).

3. Synoptische Evangelien / Apostelgeschichte

„Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ (Mk 10,17 parr.) Auf die Frage nach der Voraussetzung für das ewige Leben bzw. den Eingang in das → Reich Gottes antwortet Jesus in den synoptischen Evangelien mit dem Hinweis auf das Halten der → Gebote [Mk 10,17-27parr. werden einige soziale Gebote des → Dekalogs, Lk 10,25-28 wird das Doppelgebot der Liebe (vgl. auch Mt 19,19) angeführt]. Darüber hinaus verknüpft er die Forderung nach Toragehorsam mit der Nachfolge, die mit der Aufgabe des Reichtums und familialer Bindungen einhergeht. Das → Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31-46) macht das spontane solidarische Handeln zur Bedingung des Ererbens des Reiches Gottes (v34) bzw. des ewigen Lebens (v46). Es zeigt sich, dass „Erbe“ in den Synoptikern sowohl den Aspekt der Anwartschaft als auch den Aspekt, dieser Anwartschaft zu entsprechen, umfasst. „Erbe“ ist Gabe und – dieser Aspekt steht hier im Vordergrund – Aufgabe. Eine Interpretation dieses Sachverhalts mit den Kategorien „Lohndenken“ oder „Verdienstlichkeit“ ist hier ebenso wenig hilfreich wie eine Beschreibung der betreffenden Vorstellungen im antiken Judentum mit diesen Kategorien angebracht ist. Im Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-12 parr.) wird die Ablehnung Jesu als Sohn und Erbe Gottes seitens der judäischen Elite reflektiert: Weil sie den „Eckstein“ verworfen hat, verliert sie ihre politische und religiöse Machtstellung. Im Hinblick auf die Mt-Version dieser Perikope ist umstritten, ob Mt anstelle der Entmachtung der judäischen Elite die Vorstellung der Enterbung des Judentums vertritt. Mit Fiedler und Stegemann halte ich das für wenig wahrscheinlich (Fiedler, 332; Stegemann, 44; anders Luz, 228). In Lk 12,13 wird Jesus dazu aufgefordert, in einer Erbstreitigkeit zu schlichten. Diese Stelle ist die einzige im NT, in der Erbe in einem nicht-figurativen Sinn verwendet wird. Innerhalb der Seligpreisungen der Bergpredigt wird den Sanftmütigen als Erbe das Land / die Erde verheißen (Mt 5,5), Apg 20,32 und Apg 26,18 spiegeln die Anwartschaft der Glaubenden auf das Erbe wider.

4. Hebräerbrief

Der Autor des → Hebräerbriefs spricht seine Leser als „Erben der Verheißung“ (Hebr 6,17) an und fordert sie angesichts von Glaubensmüdigkeit dazu auf, in praktischem Glaubensgehorsam an der Hoffnung auf die zukünftige Erfüllung der Verheißung festzuhalten, die durch einen göttlichen Schwur bekräftigt ist (Hebr 6,13-17). „Erben der Verheißung“ sind die Glaubenden durch Christus, der als Sohn Gottes zum Erben über alle Dinge eingesetzt ist (Hebr 1,2). Er ist auch der „Mittler des neuen Bundes“ (Hebr 9,15; Hebr 12,24; vgl. Hebr 8,6), dessen Opfertod – gedeutet als Erlösung von den Übertretungen innerhalb des ersten Bundes (Hebr 9,15) bzw. als Aufhebung der → Sünde (Hebr 9,28) – den Empfang der „Verheißung des ewigen Erbes“ für die Glaubenden ermöglicht (Hebr 9,15). Inhalt des Erbes ist das eschatologische Heil (Hebr 1,14; vgl. Hebr 6,12 in Verbindung mit Hebr 6,9 und Hebr 9,15 in Verbindung mit Hebr 9,28), das durch Abfall vom Glauben (Hebr 12,1-17) verspielt werden kann: Eine erneute Umkehr ist, wie das Negativbeispiel → Esaus – sein Verzicht auf das Erbe durch Verkauf des Erstgeburtsrechts – zeigt, nicht möglich (Hebr 12,16-17; vgl. Hebr 6,4-8). → Noah (Hebr 11,7) und Abraham (Hebr 11,8ff) werden als Vorbilder des Glaubens und als Erben der → Gerechtigkeit bzw. der Verheißung vorgestellt. Neben die irdisch-immanente Erfüllung der Verheißung des Landes Israel tritt bei Abraham und dessen Miterben → Isaak und → Jakob (Hebr 11,9) die Hoffnung auf eine transzendente Heimstadt, das himmlische → Jerusalem (Hebr 11,8-16; Hebr 12,22; Hebr 13,14).

5. Übrige Vorkommen

Wie Paulus betont der → Epheserbrief die Partizipation der nichtjüdischen Völker am Leib Christi: Sie sind Miterben Israels und Teilhaber der Israel geltenden Verheißung (Eph 3,6) und haben den heiligen Geist als Angeld des Erbes erhalten (Eph 1,14 in Verbindung mit Eph 1,18; vgl. 2Kor 1,22; 2Kor 5,5). Innerhalb der Haustafel des → Kolosserbriefs (Kol 3,18-4,1) werden die → Sklaven zu umfassenden Gehorsam gegenüber ihren irdischen Herren (Kol 3,22) ermahnt. Dabei wird auf ihr Wissen darum verwiesen, dass sie als Lohn für diesen Gehorsam das (himmlische) Erbe empfangen werden (Kol 3,24). Auch in 1Petr 3,9 und Apk 21,7-8 dient der Hinweis auf das eschatologische Erbe als Motivation für ein dem Glauben entsprechendes ethisches Verhalten. So verheißt Apk 21,7-8 denen, die in politischer und religiöser Unterdrückung am Glauben festhalten, die → Gottessohnschaft und Gottesgemeinschaft (vgl. die Bundesformel in v3) als Erbe. In Tit 3,7 werden die Glaubenden als „Erben des ewigen Lebens“, in Jak 2,5 die Armen als „Erben des Reiches“ (vgl. die Evangelien) bezeichnet. Jak 2,5 ist ein Beispiel für den engen Zusammenhang, in dem → Erwählung und Erbe im Alten und Neuen Testament miteinander stehen. Die Unverbrüchlichkeit des Erbes betont 1Petr 1,3-4.

Literaturverzeichnis

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