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Hirt des Hermas

(erstellt: Mai 2017)

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1. Textüberlieferung und Bezeugung

1.1. Überlieferung

Die ursprünglich auf Griechisch verfasste frühchristliche Schrift „Hirt des Hermas“ (Herm) ist mit ihren fünf „Visionen“ (visiones, v), zwölf „Mandaten“ (mandata, m) und zehn „Gleichnissen“ (similitudines, s) vollständig nur in lateinischer und äthiopischer Sprache überliefert. Die sogenannte versio Vulgata (L1, um 200) und die versio Palatina (L2, aus dem 4. / 5. Jh.) liegen in mehreren mittelalterlichen Manuskripten vor. Von der äthiopischen Version (Ä, aus dem 4. Jh.), welche im Allgemeinen mehr Paraphrase als Übersetzung ist, sind zwei Manuskripte aus dem 16. Jahrhundert bekannt. Andere alte Übersetzungen sind: mehrere koptische, eine mittelpersische und eine georgische.

Der griechische Text des Hirten des Hermas wurde mit der Entdeckung des Codex Athos um 1855 wiedergefunden. Die umfangreichsten griechischen Handschriften des Herm sind der Codex Athos (A, aus dem 15. Jh., v 1.1.1–s 9.30.2), der Codex Sinaiticus (א, aus dem 4. Jh., v 1.1.1–m 4.3.6), das Papyrus Michigan 129 (M, aus dem 3. Jh., s 2.8–9.5.1) und das Papyrus Bodmer 38 (Bo, aus dem 4. / 5. Jh., v 1–3). Sonst sind über zwanzig kleinere, einer Rolle oder einem Codex entstammende, auf Papyrus oder Pergament verfasste griechische Fragmente des Herm bekannt. Abgesehen von Papyrus Iandanae 1.4 (I, m 11.19-24 und 12.1.2-3), dessen vermeintliche Datierung in das frühe 2. Jahrhundert umstritten ist, ist das Papyrus Michigan 130 (M2, Fragment einer Papyrusrolle, aus der 2. Hälfte des 2. Jh.s, m 2.6–3.1) der älteste uns bekannteste Textzeuge des Herm.

Die Textzeugen des Herm differieren stark. Da bislang ein „Stammbaum“ der Textzeugen (stemma codicum) fehlt, lässt sich ihr textkritischer Wert nicht genau bestimmen. Als wichtigster Textzeuge des Herm gilt dennoch, aufgrund der griechischen Originalsprache, des Umfangs und der Vorzüglichkeit, der Codex Sinaiticus.

Die relativ vielen Textzeugen des Hirten des Hermas sowie das Vorhandensein von Herm im Bibelcodex א (wo Herm auf den → Barnabasbrief folgt), bezeugen eine jahrhundertelange Wertschätzung für Herm in verschiedenen christlichen Kreisen.

1.2. Bezeugung

Die Bezeugung des Hirten des Hermas setzt in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts ein. Im Folgenden werden nur die wichtigsten Fundstellen angegeben. → Irenäus zitiert Herm (m) 1.1, ohne seine Quelle anzugeben, als „Schrift“ (γραφή, graphē), nachdem er auch (explizit) „Maleachi“ (2,10), „den Apostel“ (Eph 4,6) und „den Herrn“ (Mt 11,27) zitiert (adv. haer. 4.20.2).

Clemens von Alexandrien zitiert wiederholt aus Herm, und zwar aus allen drei Textteilen, und notiert dabei mehrfach, dass „Hermas“ beziehungsweise „der Hirt“ ihm als Quelle vorliegt. Clemens sieht die Schrift als göttlich inspiriert an (strom. 1.181.1).

Tertullian, der explizit von der Schrift „Pastor“ des Autors „Hermas“ spricht, bezeugt erst in einer früheren Schrift, wo er v 5.1 zitiert und behandelt, das hohe Ansehen des Herm in seinen Kreisen (de orat. 16). In einer späteren Schrift aber, aus seiner montanistischen Periode, lehnt er den Herm ab, wobei deutlich wird, dass er auch m 4 gekannt haben muss, und meint, Pastor Hermae würde „von jeder Versammlung der Kirchen“ (ab omni concilio ecclesiarum) als „apokryph“ (apocrypha) und „falsch“ (falsa) beurteilt (de pud. 10.12, s.a. 20).

Origenes zitiert und bespricht v 2.4.3, wobei er „den Hirten“ als seine Quelle angibt und notiert, dass dieses Buch von einigen „verachtet“ wird (princ. 4.2.4). Er zitiert mehrfach m 1.1, unter anderem als „Schriftstelle“ aus dem von „Hermas“ verfassten „Buch ... des Hirten ... des Engels der Buße“ (princ. 1.3.3) und als „Schriftbeweis“ (princ. 2.1.5). Nach Origenes sei Hermas vermutlich die von Paulus in Röm 16,14 erwähnte Person und seine als „Pastor“ bekannte Schrift „sehr hilfreich“ (valde ... utilis) und „göttlich inspiriert“ (divinitus inspirata, comm. rom. 10.31).

Nach dem Canon Muratori (Z. 73-80) sollte der „Pastor“ des „Hermas“ zwar gelesen werden, nicht aber öffentlich für die Gläubigen in der Kirche vorgetragen werden (Z. 77-80).

Außerdem wird der Hirt des Hermas mit unterschiedlicher Bestimmtheit bezeugt von (u.a.) Hippolyt (Liber pontificalis), einem Fresko in der Katakombe von Sankt Januarius in Neapel, Eusebius, Pseudo-Cyprian (der einzige, der unumstritten den Herm als „göttliche Schrift“, scriptura divina, schätzt), Commodian, Athanasius, Didymus, Gregor von Nazianz, Ambrosius, Rufin, Hieronymus, Augustinus, Cassian, Prosper von Aquitanien, einer Bücherliste im Codex Claromontanus, dem Decretum Gelasianum, Antiochos, Beda, Niketas, Pseudo-Oecumenius, Theophylakt, Hildegard von Bingen und Dante. Der Erstdruck des Herm erfolgte schließlich 1513. Die Rezeptionsgeschichte des Hirten des Hermas ist lang und zeigt, dass die Schrift unterschiedlich bewertet wurde.

2. Entstehungsverhältnisse

2.1. Abfassungszeit

Die Abfassungszeit des Hirten des Hermas liegt vermutlich irgendwann zwischen dem Ende des 1. und der Mitte des 2. Jahrhunderts, was nicht unbedingt heißt, dass der Text über einen längeren Zeitraum zusammengestellt wurde.

Der terminus post quem („Zeitpunkt nach dem“) liegt anscheinend einige Zeit nach der Herrschaft → Neros, da v 3.1.9–3.2.1 vorauszusetzen scheint, dass Ausschreitungen der Vergangenheit angehören. Die in Herm erwähnten Übergriffe lassen sich jedoch nicht mit einem bestimmten römischen Kaiser verbinden.

Andere interne Argumente sind nicht entscheidend. Dass in v 2.4.3 eine presbyteriale Form der Gemeindeleitung vorausgesetzt wird, spricht nicht unbedingt für eine Frühdatierung, da unbekannt ist, ob es in Rom vor Mitte des 2. Jahrhunderts einen monarchischen Episkopat gab und ebenso wenig, ob Herm die tatsächliche kirchliche Situation darstellt.

Der terminus ante quem („Zeitpunkt vor dem“) muss geraume Zeit vor dem späten 2. Jahrhundert liegen, da Herm zu dieser Zeit schon bei Clemens in Alexandrien, Irenäus in Gallien und Tertullian in Karthago bekannt war.

Andere äußere Argumente sind nicht zuverlässig. Die Vermutung des Origenes, Hermas sei der in Röm 16,14 genannte Bekannte des → Paulus, hat wahrscheinlich die Intention, den Herm einem „Apostelschüler“ zuzuschreiben. Auch die spekulative Identifikation des in v 2.4.3 erwähnten Clemens mit Clemens von Rom kann als Versuch zur Aufwertung des Herm gesehen werden. Umgekehrt ist die Bemerkung des Verfassers des Canon Muratori (Z. 73-77), Hermas habe Pastor Hermae „neulich in unseren Zeiten“ (nuperrime temporibus nostris) in Rom geschrieben, als sein Bruder Pius dort Episkopos war (d.h. um die Mitte des 2. Jh.s, s. Eusebius, hist. eccl. 4.11.6), wohl als Ablehnung der Autorität des Herm als „rezent“ verfasste Schrift zu verstehen (s.a. Z. 77-80).

2.2. Entstehungsort

Der wahrscheinlichste Entstehungsort des Hirten des Hermas ist → Rom. Dafür sprechen vor allem die direkten Verweise nach Rom und Zentralitalien (v 1.1.1-3; 2.1.1; 2.4.1, 3 und 4.1.2).

Indizien, die dafür sprechen, dass diese Verweise nicht fiktiv sind, stellen andere Hinweise, wie die lateinischen Lehnwörter (v 3.1.4 und s 5.1.1-2), die beschriebene Vegetation (z.B. die im Winter blattverlierenden Laubbäume in s 3 und der Weidenbaum in s 8) und der Weinbau (z.B. m 10.1.5; s 5.2 und 9.26.4), vor allem das bezeichnende arbustum (ein Weingarten mit auf Ulmen wachsenden Reben, s 2), dar. Diese deuten auf Rom und dessen Umgebung als Entstehungsort hin. Der Verweis nach Arkadien als Ort, wohin Hermas vom Hirten entrückt wird (s 9.1.4), spricht nicht gegen Rom als Abfassungsort des Textes, da Arkadien in der antiken Literatur als traditionelle bukolische Phantasielandschaft bezeugt ist (s. bes. Vergil, ecl. 10).

2.3. Verfasserschaft

Da „Hermas“ zu jener Zeit kein außergewöhnlicher Name war und im Text nicht betont wird, sondern nur im Vorübergehen angedeutet (v 1.1.4; 1.2.2-4; 1.4.3; 2.2.2; 2.3.1; 3.1.6; 3.8.11; 4.1.4 und 7), gibt es keinen Grund anzunehmen, der Verfassername sei ein Pseudonym.

Hermas stellt sich selbst dar als Visionär (passim), als Freigelassener (v 1.1.1-2), als pater familias mit Frau und Kindern (v 1.3.1-2; 2.2.2-3; 2.3.1 und s 7.3) und als jemand, dem es wirtschaftlich schlecht gegangen ist (v 3.6.7). Vielleicht war der Verfasser ein kleiner Geschäftsmann (v 2.3.1), der vermutlich zu den niedrigeren, einigermaßen gebildeten sozialen Schichten gehörte (s. z.B. sein vulgäres Griechisch). Die Bezeichnung des Hermas als „Judenchrist“ (→ Judenchristentum) lässt sich nicht begründen (s.u. bei 4). Die Theorie, Herm würde von mehreren Autoren verfasst, ist bisher immer eine Minderheitsposition geblieben.

3. Struktur, Komposition und Gattung

3.1. Struktur

Der umfangreiche Text ist eine durchgehende Aneinanderreihung von detaillierten Visionsschilderungen und dazugehörenden Deutungen, die der Ich-Figur des Hermas von verschiedenen Offenbarungsmittlern vermittelt werden. Die drei Teile des Hirten des Hermas sind von unterschiedlichem Umfang. Die → Visionen machen den kleinsten Teil des Textes aus (etwa ein Fünftel), die Mandate sind ein wenig größer (abgerundet auch etwa ein Fünftel), die → Gleichnisse sind weitaus am umfangreichsten (etwa drei Fünftel).

Einerseits gibt die Einteilung in Visionen, Mandate und Gleichnisse nicht richtig die Gliederung des Textes wieder. Alle drei Teile beinhalten eigentlich Arten von Visionen; die Überschriften sind, sofern sie als ursprünglich anzusehen wären, keine Gattungsbezeichnungen. Visionsschilderungen, paränetische (ermahnende) Texte, Bildersprache und gleichnishafte Rede gibt es in allen drei Teilen des Herm.

Andererseits ist die Dreiteilung auch nicht völlig willkürlich. Die Nahtstelle zwischen den Visionen auf der einen Seite und den Mandaten und Gleichnissen auf der anderen wird von v 5 dargestellt. Hier erscheint die Hirtenfigur als wichtigster Offenbarungsmittler des Hermas auf der Bildfläche, und zwar bis zum s 10; die Frau Kirche dagegen, Hermas wichtigste Offenbarungsmittlerin in v 1–4, spielt ab v 5 keine Rolle mehr. Der Hirt verweist zurück auf das Vorangehende, wenn er dem Hermas sagt, dass er gesandt wurde, um ihm in Hauptpunkten nochmals zu zeigen, was er früher gesehen habe (v 5.5). Er weist voraus auf das Kommende, wenn er den Hermas anfordert, die „Mandate“ und „Gleichnisse“ aufzuschreiben (v 5.5-6). Auch zwischen den Mandaten und Gleichnissen gibt es einen Übergang: In m 12.3.2 ist ausdrücklich von „zwölf Mandaten“ und in 12.6.4 von „diesen Mandaten“ die Rede. Selbst wenn die Überschrift der darauf folgenden Perikope, „Gleichnisse, die er mit mir sprach“, sekundär wäre, gäbe es dennoch einen deutlichen Übergang von mehr ermahnendem, paränetischem (s. die Imperative in m 1.1; 2.1; 3.1; 5.1.1; 7.1; 8.2; 9.1; 10.1; 12.1; s.a. 4.1.1, „ich [der Hirt] gebiete dir [Hermas]“ und 6.1.1, „ich [der Hirt] gebot dir [Hermas]“) zu mehr bildlichem, vergleichendem Material (vgl. m 11, wo der Hirt dem Hermas eine Vision und Gleichnisse vermittelt und deutet).

Die mehrfache Verwendung (abgesehen von den Überschriften) von den Begriffen „Vision“ (ὅρασις, horasis und ὅραμα, horama), „Mandat“ (ἐντολή, entolē) und „Gleichnis“ (παραβολή, parabolē) als interne Querverweise ist ein Indiz, dass Herm als eine Art „Triptychon“ gemeint ist. Deswegen sollte die traditionelle Zitierweise des Herm, welche den Text in drei Corpora gliedert (d.h. v 1–5, m 1–12 und s 1–10), gegenüber der rezenteren Zitierweise, welche den Text in 114 Kapitel einteilt, bevorzugt verwendet werden.

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3.2. Komposition

Es ist umstritten, ob der Hirt des Hermas von Anfang an den von den Handschriften L1, L2 und Ä überlieferten Umfang hatte. Gegen die literarische Integrität des Herm wurde unter anderem (von Hellholm) vorgebracht, dass v 1–4 nicht auf die anderen Teile des Herm hinweisen, v 5.5 und s 9.1 aber alle drei Teile des Herm voraussetzen. Für die literarische Integrität des Herm spricht aber vor allem (nach Henne), dass der Beweis für die ursprüngliche Einheit, nämlich die Zitate des Clemens von Alexandrien aus allen drei Teilen des Herm (s.o. bei 1.2), älter und sicherer ist, als der älteste vermeintliche Beweis für eine Trennung, nämlich M (s.o. bei 1.1). Ob M tatsächlich nur v 5–s 10 umfasste (und Bo nur v 1–4), ist ungewiss.

3.3. Gattung

Die Offenbarungen und → Entrückungen, der narrative Rahmen, die (mündlichen) Übermittlungen von himmlischen Wesen an ein menschliches Wesen, die Erschließung einer anderen Wirklichkeit (z.B. die Enthüllungen über die eschatologische Zukunft, wie die nahestehende, von „Bedrängnis“, θλῖψις, thlipsis [z.B. v 4.1.1; 4.2.5 und 4.3.6] gekennzeichnete Endzeit und die bald kommende Vollendung der Kirche [z.B. v 3.8.9; s 8.8.3, 5; 9.5.1; 9.12.3; 9.18.3 und 10.4.4]), die dargestellte interne „Krisensituation“ der Kirche (s.u. bei 4) und die paränetische Gezieltheit kennzeichnen den Hirten des Hermas im Ganzen als einen apokalyptischen Text. Außerdem sind Motive wie die Verkündigung der Königsherrschaft Gottes (verbunden mit einem Aufruf zu → Umkehr, z.B. s 9.12; 9.20 und 9.31), der → Universalismus (verbunden mit der → Mission, z.B. s 9.17), das Zwei-Äonen-Schema (sowohl zeitlich, z.B. v 4.3.5 und s 3–4, als auch räumlich, z.B. s 1), die Parusie-Erwartung (παρουσία, parousia, im Sinne von der Erwartung des Kommens Gottes, nicht Christi, s 5.5.3), die entfaltete → Angelologie (z.B. v 2.2.7; 5.2; m 5.1.7; 6.2; s 5.4.4; 5.5.3; 7.1.3; 8.1.2; 8.3.3; 9.1.3; 9.14.3; 9.24.4; 9.25.2; 9.27.3 und 9.31.3), die → Gerichtserwartung (bes. v 3.9.5 [κρίσις, krisis]; s.a. s 8.11.3 und 9.18) und die Hoffnung auf ein ewiges Leben (bes. v 2.3.2-3; 4.3.5 und s 5.6-7) charakteristisch für apokalyptisch geprägte frühchristliche Texte (vgl. → Apokalyptik (NT)).

4. Theologische Charakteristika

Das theologische Hauptthema des Hirten des Hermas ist die Perfektionierung der Kirche. Dazu wird als Kernbegriff μετάνοια, metanoia, verwendet (über 150-mal). Damit ist in Herm keine ritualisierte beziehungsweise institutionalisierte „Buße“, sondern persönliche Erneuerung gemeint (z.B. v 3.13.4; m 4.2.2 und s 9.14.3). Beim „Quälen“ (βασανίσαι, basanisai), „Demütigen“ (ταπεινοφρονῆσαι, tapeinophronēsai) und „Bedrücken“ (θλιβῆναι, thlibēnai) der eigenen „Seele“ (ψυχή, psychē) handelt es sich um das Innere des Menschen (s 7.4; s.a. m 4.2.2). Die Grundbotschaft des Hirten, des „Engels der metanoia“ (s 9.31.3), ist pastoral geprägt. Getaufte beruhigt er, dass sie, wenn sie nach der → Taufe gesündigt haben, noch „eine (Chance auf) Umkehr“ haben (μίαν μετάνοιαν, mian metanoian, m 4.3.6). Zugleich warnt er, dass dies kein „Entschuldigungsgrund“ (ἀφορμή, aphormē) ist für diejenigen, die noch nicht getauft sind: Sie haben nur die Möglichkeit der „Vergebung (ἄφεσις, aphesis) ihrer früheren Sünden“ (m 4.3.3). Diese zweifache Botschaft dient in Herm dem Zweck, auszusagen, dass alle sich umkehren müssen, um gerettet zu werden (für die soteriologische Frage, siehe vor allem v 1.2.1). Bezüglich der von Herm angestrebten Umgestaltung der Kirche sind individuelle Gläubige, Haus- und Ortsgemeinden sowie die Gesamtkirche im Blick (z.B. v 1.1.9; 2.4.3 und s 9.18.2). Um die Notwendigkeit der Erneuerung der Kirche (Ekklesia) vorzustellen, bedient Herm sich vor allem dem Bild des Baus eines Turmes (v 3 und s 9). Die Kirche ist wie ein Turm mit brauchbaren und unbrauchbaren Steinen (Gläubigen). Unbrauchbare Steine werden weggenommen; brauchbare Steine eingefügt. Am Ende wird der Turm wie ein Monolith sein (bes. s 9.18.3). Die ekklesiologische Perspektive ist hier eschatologisch (auf die Endzeit bezogen): Jetzt ist die Kirche unvollkommen; einst beziehungsweise bald wird sie vollkommen sein.

Die Christologie steht in Herm nicht im Mittelpunkt. Aus den wenigen christologischen Aussagen tritt eine „adoptionistische“ Konzeption hervor (wobei Jesus als der von Gott adoptierte Sohn vorgestellt wird). Der Name „Jesus“ oder der Titel „Christus“ werden nicht erwähnt, mit dem „Sohn Gottes“, der als „Herr“ (κύριος, kyrios, bes. s 5.6.4; 9.5.2, 6; 9.6; 9.7.1 und 9.12.8) den einzigen Zugang zu Gott darstellt (bes. s 9.12), ist aber deutlich Jesus gemeint. Gott hat den → Heiligen Geist als Sohn und den → Gottessohn (Jesus) als „Adoptivsohn“: „Gott ließ den präexistenten Heiligen Geist ... wohnen im von ihm gewählten Fleisch“ (d.h. in Jesus, s 5.6.5). Da dieses Fleisch (d.h. Jesus) „auf Erden“ (V. 6) dem Geist richtig „diente“ (V. 5), machte Gott es (d.h. Jesus) zum „Partner“ (V. 6) beziehungsweise zum „Miterbe“ (s 5.2.7) seines Sohnes (d.h. des Heiligen Geistes) und gab ihm (d.h. Jesus) „einen Wohnort“ (d.h. im Himmel, s 5.6.7). In Herm ist Jesus der adoptierte und erhöhte Sohn Gottes. Wie die Adoption mit der in Herm implizierten Präexistenz des Gottessohnes (s 9.12.2) zusammenpasst, ist unklar. Die Erhöhung des Gottessohnes wird in Herm nicht als → Auferstehung vorgestellt; Auferstehungsterminologie fehlt. Eine Erniedrigungs-Erhöhungschristologie ist in Herm nicht wirksam (vgl. s 5.6.1 mit Phil 2,6-11).

Das Judentum spielt für Herm theologisch kaum eine Rolle: Von jüdischen Themen wie Einhaltung der Thora ist keine Rede; Christen haben ihr eigenes Gesetz (s 1.5-7). Der Sohn Gottes wird nicht als Erfüllung der Schrift vorgestellt. Ob Herm die hebräische Bibel oder die Septuaginta literarisch benutzt hat, ist ungeklärt. Jüdisches Material muss nicht aus jüdischer Tradition übernommen sein, sondern könnte ebenso aus christlicher Tradition stammen. Manche vermeintlich „jüdische“ Traditionen, wie die Zwei-Wege-Lehre (z.B. m 6.1), sind nicht spezifisch jüdisch, sondern kommen auch in nicht-jüdischen Texten vor (z.B. im altägyptischen „Zweiwegebuch“; Hesiod, op. 286-292 und Xenophon, mem. 2.1.21ff.).

Anspielungen auf biblische oder jüdische Traditionen belegen nicht per se ein intensives Interesse am Judentum. Solche Traditionen sind in Herm in der Regel christlich umgedeutet (z.B. in s 9.17.1-2, wo „die zwölf Stämme [φυλαί, phylai]“ als „die zwölf Völker [ἔθνη, ethnē]“ der ganzen Welt interpretiert werden). Die Annahme, Herm sei eine „judenchristliche“ Schrift, ist demnach haltlos. Für den Hirten des Hermas ist die Kirche eine eigenständige Entität, die nicht so sehr auf die Vergangenheit zurückblickt, sondern auf eine Zukunft der Vollendung vorausschaut.

Literaturverzeichnis

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