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Hymnen und Gebete (Ägypten)

(erstellt: Oktober 2007)

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1. Einleitung

Hymnen und Gebete stellen die reichhaltigste und vielseitigste Gattung religiöser und theologischer Textzeugnisse aus Ägypten dar. Sie sind über einen Zeitraum von nahezu zweieinhalb Jahrtausenden auf Grab- und Tempelwänden, Papyri, Statuen, Stelen und Särgen bezeugt und dienten der Kommunikation der Menschen mit Gottheiten und vergöttlichten Personen.

Ägyptische Bezeichnungen für die Termini „Hymnus“ und „Gebet“ scheint es nicht gegeben zu haben, doch existierten eine Reihe von Wörtern, welche die Tätigkeiten des Lobens, Preisens, Huldigens bezeichneten. Die wichtigsten sind dw3 / dw3w, j3j / j3w, ḥkn / ḥknw. Dw3w und j3w standen häufig als „Signalwörter“ zu Beginn eines Textes, der sich als Hymnus oder Gebet interpretieren lässt.

Eine Unterscheidung zwischen Hymnen und Gebeten lässt sich auf formaler Ebene kaum feststellen; Gebetstexte sind jedoch meist durch Nennung des betenden Subjekts gekennzeichnet, während die Hymnentexte den oder die Sprecher anonym lassen. Und während Gebetstexte häufig Klagen, Bitten oder Dank – meist alle drei Elemente gemeinsam – enthalten, sind hymnische Texte auf das Lob einer Gottheit oder eines Königs beschränkt und weisen nur gelegentlich gebetartige Passagen auf.

2. Historischer Kontext und Quellenlage

Obgleich das Gros der aus Ägypten überlieferten Hymnentexte aus dem Neuen Reich und den Epochen danach stammt, hat es auch in älteren Zeiten Anbetungs- und Verehrungstexte gegeben. So ist mit hymnischen Elementen bereits im ältesten überlieferten religiösen Textcorpus, den → Pyramidentexten aus dem späten Alten Reich (ca. 2300-2100 v. Chr.), zu rechnen. Die Textpassagen, in denen Gotteslob zum Ausdruck kommt und die aufgrund ihrer formalen und inhaltlichen Ähnlichkeiten mit jüngeren Texten als hymnisch bezeichnet werden könnten, werden jedoch unterschiedlich interpretiert. Grund für die Unsicherheiten ist der weitgehend unbekannte Entstehungs- und Rezitationskontext dieser Texte. Auch das Corpus der → Sargtexte aus dem Mittleren Reich (ca. 2000-1750 v. Chr.) enthält zahlreiche, meist kurze hymnische Passagen, die aber bislang keiner systematischen Untersuchung unterzogen worden sind. Die ältesten erhaltenen und mit Sicherheit als Hymnen zu bezeichnenden Texte stammen ebenfalls aus dem Mittleren Reich. Es handelt sich dabei um verschiedene Texte aus dem Ritual für den Gott Sobek. Darüber hinaus tragen etliche private Totendenkmäler Hymnen und Gebete an Osiris und weitere Gottheiten (→ Osiris). Nachweislich wenigstens in Teilen auf das späte Mittlere Reich (ca. 1700-1650 v. Chr.) geht der „Kairener Amun-Hymnus“ des Papyrus Kairo CG 58038 zurück. Religionsgeschichtlich hat dieser Text eine große Bedeutung, da in ihm erstmals die symbiotische Verbindung der beiden Gottheiten Amun und Re thematisiert wird und so eine universalistische Theologie präsentiert wird, die für die Entwicklung der folgenden Jahrhunderte prägend wurde (→ Re; → Amun; → Götter / Götterwelt Ägyptens).

Die Erforschung der altägyptischen Hymnenliteratur ist untrennbar verbunden mit den Editionen der Totenbuch- und weiterer funerärer Texte (→ Totenbuch), wofür die Quellen während des → Neuen Reiches (ca. 1550-1070 v. Chr.) besonders reichhaltig sind. Daher lag der Schwerpunkt der ägyptologischen Hymnenforschung stets im Bereich der Sonnenhymnik. Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts konnten in den Totenbuch-Manuskripten verschiedene Abschnitte mit Sammlungen von Hymnen an den Sonnengott identifiziert werden, die als „Kapitel 15“ bezeichnet wurden. Dabei handelt es sich um einen während der 18. Dynastie (ca. 1550-1300 v. Chr.) entwickelten, aus älteren Ritualtexten komponierten Grundbestand an hymnischen Texten, der in den folgenden Jahrhunderten durch Redaktorenhand variiert und erweitert sowie zu immer neuen Hymnentexten gestaltet werden konnte.

Neben die Sonnenhymnen traten Gebete an andere, mitunter lokale Gottheiten und vergöttlichte Sterbliche, die als Ausdruck einer alternativen, individualisierten Religiosität interpretiert werden können. Die Dimensionen der Träger solcher Texte waren zumeist geringer, ihre Gestaltung entsprach nicht immer dem Kanon, mitunter wurden einfach Graffiti an Felswände oder auf ältere Denkmäler geschrieben. Die Produktion solcher Monumente war, mit wenigen Ausnahmen, begrenzt auf die Zeit des Neuen Reichs, wobei der Schwerpunkt auf dessen zweiter Hälfte (ca. 1300-1070 v. Chr.) lag.

Die Hymnentradierung, die mit Sicherheit im Sakralbereich ihren Ausgang nahm, ist vor allem im Funerärbereich greifbar. Daneben existierte eine Anzahl von Hymnen auf mobilem Tempelmobiliar (Statuen), auf liturgischen Tempelpapyri sowie auf den Tempelwänden selbst. In den letzten Jahrhunderten der ägyptischen Geschichte (ca. 500 v. Chr. - 200 n. Chr.) gewannen die Tempelwände als Aufzeichnungsorte sakralkultischer Texte zunehmende Bedeutung, doch auch die Tradierung im Bestattungswesen wurde ungebrochen fortgeführt. Dabei lässt sich beobachten, dass die Götterhymnen der Tempel nun von den Sonnenhymnen aus den Gräbern massiv beeinflusst waren; nicht selten handelt es sich bei den Tempelhymnen um Adaptionen oder gar reine Kopien von Gräberhymnen.

Die hymnische Textproduktion setzte sich an den Tempeln bis in römische Zeit hinein fort, es entstanden noch in spätester Zeit neue, innovative Texte, und bestehende ältere Texte wurden gründlich redaktionell überarbeitet. Die Zahl der Adressaten hymnischer Kommunikation stieg in den letzten Jahrhunderten wieder an, da die religionshistorische Entwicklung nahezu jeden Tempel zum Ausgangs- und Mittelpunkt der Welt und jede Gottheit zur Welt- und Schöpfergottheit werden ließ. Als Ausdruck dieses Anspruchs wurden die liturgisch relevanten Texte in monumentalisierter Form an den Tempelwänden, Tempeldecken und Tempelsäulen angebracht.

3. Form und Stil der Hymnen

Hymnische und Gebetstexte aus Ägypten lassen sich weder aus inhaltlicher noch aus formaler Perspektive von anderen religiösen Textgattungen immer eindeutig unterscheiden. Lieder sollen hier als Sonderform von Hymnen behandelt werden, da sie diesen sowohl inhaltlich als auch stilistisch überaus nahe stehen, allerdings eine andere Einleitung oder Überschrift besitzen. Wenngleich ihr funktionaler Kontext religiös war, waren sie wohl eher kultbegleitend. Auch die Kategorie Litanei wird den Hymnentexten untergeordnet, da sie hinsichtlich ihrer Komposition eine stilistische Sonderform eines Hymnus darstellt, inhaltlich und phraseologisch jedoch keinerlei Unterschiede aufweist.

Aus den funerären Textcorpora sind etliche kurze Passagen erhalten, in denen der Verstorbene in hymnenartiger Redeform angesprochen wird. Da weder ein kultischer Zusammenhang im engeren Sinn noch eine Kommunikation mit der Götterwelt beabsichtigt wurde, sollen diese Texte nicht als hymnisch bezeichnet werden; es handelt sich hierbei um Verklärungen. Darüber hinaus treten jedoch Textpassagen auf, die gebethaften Charakter haben und durch Interjektionen, wie sie auch in Gebeten und Hymnen auftreten können, eingeleitet werden. In solchen Fällen ist die Abgrenzung zu Beschwörungen schwierig.

3.1. Formular und Textplan

Kennzeichnend für einen Hymnus ist zunächst seine Einleitung mit den Formeln jnḏ-ḥr=k – „Sei gegrüßt!“ – oder j3w n=k – „Preis sei Dir!“. Je nach Länge des Textes folgt dann eine Reihe von Namen, Beinamen und Namenserweiterungen der angesprochenen Gottheit – eine Eulogie, die zusätzliche, mit partizipialen Verbalformen gebildete Aussagen enthalten kann. Eulogische Textelemente können auch an beliebigen Positionen erscheinen. Je länger ein hymnischer Text ist, umso mehr narrative Elemente kann er schließlich enthalten – Aussagen zum Wesen und Handeln der Gottheit oder auch der unter ihrer Aufsicht stehenden Geschöpfe werden mit flektierten Verbalformen gebildet, wobei diese sowohl perfektivisch als auch imperfektivisch sein können. Welche Entscheidungen zur Verwendung partizipialer oder narrativer Formen führten, lässt sich nur schwer und schon gar nicht pauschal beantworten, sondern muss am Einzeltext geprüft werden. Ein für alle hymnischen Texte verbindlicher Textplan hat sich bislang nicht ermitteln lassen. Charakteristisch für viele Sonnenhymnen ist ein an der Abfolge der Tageszeiten Morgen – Mittag – Abend / Nacht orientiertes Inhaltsschema, das jedoch im Lauf der Entwicklung an Verbindlichkeit verlor.

Unabhängig von diesem Schema enthielten viele Sonnenhymnen noch eine Angabe in der der Einleitung vorangestellten Überschrift, ob der Hymnus anlässlich des Sonnenaufgangs (m-wbn o.ä.) oder des Sonnenuntergangs (m-ḥtp o.ä.) zu rezitieren sei; aus diesen Zusätzen leitet sich die ältere Bezeichnung dieser Gruppe von Hymnen als Tageszeitenlieder ab.

Für Gebetstexte gelten grundsätzlich dieselben Beobachtungen. Sie tragen allerdings als Einleitung meist die Formel dw3 n=k – „Anbetung sei Dir!“ –, seltener die Grußformel jnḏ-ḥr=k. Gebete sind in aller Regel kürzer als Hymnen, folgen aber häufig einem Plan, indem sie die inhaltlichen Elemente Eulogie – Klage / Bitte – Lob / Dank in diese logische Folge bringen. In Gebetstexten tritt die (fiktive) betende Person entweder namentlich, mindestens aber als Ich-Person auf, während Hymnen das anbetende Subjekt zumeist negieren oder allenfalls ein anonymes, unpersönliches Beterkollektiv zulassen.

(Zur ganz anderen Definition der Hymnen in der alttestamentlichen Wissenschaft → Psalmen).

3.2. Metrik und Rhetorik

Die ägyptischen Hymnen und Gebete werden immer wieder metrischen Analysen unterzogen, als deren Ergebnis ein nicht immer plausibles, auf numerischen Symmetrien basierendes Bezugssystem von Halbversen, Versen und Versgruppen geliefert wird. Ebenfalls wird, analog zu weisheitlichen Texten, wo das Verfahren einigermaßen funktioniert, versucht, die Textabschnitte zu thought couplets (parallelismus membrorum) zusammenzufassen. Man muss in der Tat davon ausgehen, dass die religiösen Texte, zumal Götterhymnen und Gebete, kunstvoll komponiert worden sind, doch sind die Kompositionstechniken und Kompositionskriterien zu wenig bekannt, als dass sich zuverlässige Aussagen treffen ließen. Auch morphologische und phonologische Stilmittel sind bislang kaum zusammenfassend analysiert worden.

4. Inhalt der Hymnen

Die Verbindung von Theologie und Texten bestand schon in den Frühphasen der ägyptischen Kultur. Besonders deutlich wird diese Schnittmenge bei den hymnischen Texten, die bereits als „Phänomen, in dem Sprache und Religion sich treffen“, bezeichnet worden sind. In dieser Schnittmenge liegt die große Bedeutung der Hymnen: Sie waren das Medium für Theologie schlechthin, für eine Theologie, in der das „Reden von Gott … auf eine allgemeine, grundsätzliche Weise“ erfolgte, „es lehrhaft und argumentativ entfaltet“ wurde und „sich deutend“ auf textliche oder außertextliche Vorlagen bezog (J. Assmann). Keine anderen aus Ägypten überlieferten Texte speicherten in einem solchen Ausmaß theologische Inhalte wie die Hymnen.

4.1. Kulttopographie

Die bestimmenden Themen der ägyptischen Götterhymnen sind, gleich welche Gottheit adressiert ist, deren Wirksamkeit als Schöpfer-, Sonnen- und Lebensgottheit. Die Hymnen an verschiedene Könige entsprechen diesem Grundton sehr weitgehend, indem das Handeln des Königs kosmologisch überhöht wird. Es gibt nur sehr wenige hymnische Texte, in denen man nicht wenigstens eines der genannten Themen finden würde. Wenige Hymnen entfalten eine reichhaltige Kulttopographie, in der die gepriesene Gottheit in ihren verschiedenen Erscheinungsformen gerühmt und zu den ihr zugeordneten Kultorten in Beziehung gesetzt wird. Selbst solche Texte kommen nicht gänzlich ohne Anspielungen wenigstens auf den Schöpfungsaspekt aus. Die Hymnen an die Sonne beziehungsweise an die sie repräsentierenden Gottheiten jedoch stellen aus religionshistorischen Gründen die große Mehrzahl der aus Ägypten bekannten Hymnentexte dar.

4.2. Traditionelle Sonnentheologie

Die Mehrzahl der Sonnenhymnen thematisiert die mythischen Aspekte des Sonnengottes in immer neu variierten Formen. Sie lassen die polytheistischen Konstellationen und Strukturen, das Bild- und Personhafte, die Symbolfülle der Vorstellungen von der Sonnenbahn erkennen: die Fahrt des Sonnengottes in verschiedenen Barken über den als Gewässer vorgestellten Himmel; die Mannschaft, welche diese seine Barken rudert bzw. treidelt; den Kampf gegen seine Feinde, die Chaosmächte, die seinen Lauf und damit jede Ordnung zu stören trachten; weitere, vor allem während der Nacht zu bestehende Gefahren; und endlich der Jubel der Sonnenaffen am Morgen und der Unterweltsbewohner am Abend. Schließlich waren in diese Schilderungen auch die Beschreibungen der Tätigkeit als Urgottheit am Beginn der Schöpfung integriert.

4.3. Heliozentrischer Universalismus

Von diesen vom konventionellen Polytheismus geprägten Hymnen an den Sonnengott lassen sich andere trennen, die sowohl in ihrer Form als auch vor allem ihrem Inhalt, ihrer Verwendungsfunktion und Verwendungszusammenhang nach von den ersten unterscheidbar sind. Der theologische Diskurs des tendenziell henotheistischen, solaren Universalismus brachte diese Hymnen nach und nach als Manifeste seines Welt- und Gottesbildes hervor, welche sich neben die traditionellen Götterhymnen und andere offiziell-religiöse Quellen stellen lassen. Die Schilderungen des Sonnenlaufs behielten ihre äußere Form, die Darstellungsform allerdings veränderte sich in Richtung einer ausgeprägten Anikonizität und eines phänomenologischen Naturalismus drastisch. In den diese Vorgänge reflektierenden Texten ist die Verschmelzung der kosmischen und der personhaft-mythischen Ebene aufgehoben, alle anthropomorphen Elemente waren zunächst ausgeschlossen. An die Stelle der weltenthobenen konstellativen Symbolik des Sonnenlaufs trat eine Konzentrierung auf das menschliche Subjekt und dessen Betroffenheit durch die Sonnenwirksamkeit. Zugleich aber weitete sich der Blick auf alles Dingliche in der irdischen Schöpfung, das unter die segenbringenden Strahlen des Gestirns kommt.

Innerhalb der theologischen Konzeption des henotheistischen Universalismus lassen sich vier Schwerpunktthemen erkennen, die in den Texten unterschiedlich stark gewichtet und elaboriert werden; es sind dies die creatio prima, der Sonnenlauf, die creatio continua sowie das Gottesverhältnis des irdischen Subjekts. Diese Reihenfolge basiert auf der Überlegung, die vier Themen seien logisch aufeinander aufgebaut. Ohne die primordiale Welterschaffung kann es keinen Sonnenlauf geben; die im Sonnenlauf garantierte Schöpfungs- und Weltordnung ermöglicht wiederum die Hinwendung der Schöpfergottheit zu seiner Schöpfung und deren Erhaltung; die göttliche Zuwendung schließlich ist Voraussetzung für die Bildung eines individuellen Gottesverhältnisses des menschlichen Subjekts. Während den übrigen theologischen Systemen Ägyptens der thematische Aspekt der Welterhaltung meist nur implizit inhärent ist, muss die Explizierung und Elaborierung des creatio continua-Gedankens in der universalistischen Sonnentheologie als ihr wichtigstes Merkmal angesehen werden. Seine hohe Bedeutung lässt sich an der Tatsache ablesen, dass etliche seiner Inhaltselemente in die jüngeren theologischen Konzepte entlehnt wurden.

Die vier Themenbereiche lassen sich jeweils in unterschiedliche Inhaltsstoffe oder Motivkomplexe unterteilen, welche sich ihrerseits in die diversen Motive aufgliedern. Es lassen sich etwa sechs Dutzend literarischer Einzelmotive isolieren, die zu zwanzig Inhaltsstoffen zusammengefasst wurden. So können unter dem Thema der Kosmogonie Aspekte der Ur- und Schöpfergottheit, der göttliche Schöpfungsplan und die verschiedenen Schöpfungsverfahren an- und ausgeführt werden, jeweils in unterschiedlicher motivischer Gestaltung, häufig durchaus redundant. In das Thema des Sonnenlaufs finden sich häufig neben der Schilderung von den Mühen, die darin für die Sonnengottheit enthalten sind, die göttliche Transzendenz sowie sein Wirken in der Unterwelt integriert. Die creatio continua wird als das Kernthema der universalistischen Theologie in überaus reicher Motivik durch Komplexe wie die Wirksamkeit von Licht und Wärme, die Versorgung aller Kreaturen oder die aus allem resultierende „Wohleingerichtetheit der Welt“ behandelt. Das vierte Themenfeld des individuellen Gottesverhältnisses schließlich muss unbedingt im Kontext universalistischer Theologie, deren Fokus ja auf dem geschöpflichen Individuum liegt, betrachtet werden. Der direkte Kontakt zur Gottheit, von der man Leben und Versorgung empfängt, beinhaltet Dank und Lob für diese Gaben, Lob und Bewunderung aber auch der gesamten Schöpfung durch alle Geschöpfe sowie Bitten um Gottes helfendes Eingreifen in Notsituationen.

Verbunden mit dem Wirken als Sonnengottheit war stets das Handeln als Schöpfergottheit, das je nach Gottheit unterschiedlich interpretiert wurde. Die harmonische Koexistenz mehrerer, sich teilweise inhaltlich widersprechenden Konzeptionen von Schöpfung und Weltentstehung ist Kennzeichen der ägyptischen Kultur. Der solare Universalismus der zahlreichen Hymnen ist bislang kaum in den Zusammenhang der übrigen Göttersysteme und Schöpfungsmodelle gestellt worden. Die universalistische, nicht-konstellative Theologie von der Sonne und ihrer weltbezogenen Wirksamkeit scheint an der Weltentstehung weit weniger interessiert gewesen zu sein; Anliegen dieser Theologie war es, die unmittelbare Betroffenheit des Menschen und aller Geschöpfe durch Gottes Wirken zu betonen, sein Handeln in der Schöpfung und durch die Schöpfung in der Gegenwart. Dennoch ist zu beobachten, dass nur wenige dieser Texte gänzlich ohne Anspielungen auf diese Vorgänge auskommen. Denn die creatio prima spielte für alle Lebensbereiche der Ägypter eine ungeheuer wichtige Rolle. Jeder Tag, jedes Jahr, jede Regierungszeit eines Königs, jedes Menschenleben bedeutete eine Wiederholung des „Ersten Mals“, das ganze Erdendasein, ja der ganze Kosmos war ein ewiger Kreislauf aus Vergehen und Neuschöpfung. Dieser Kreislauf des gegenwärtigen, alltäglichen Lebens war nichts als die notwendige Wiederholung mythischen Ursprungs. Das universalistisch-solare Gesamtsystem hielt mithin auch ein eigenes Schöpfungskonzept bereit, stellte der von ihm so stark fokussierten creatio continua eine creatio prima voran. Dieses Konzept speiste sich zwar aus den verschiedenen älteren Entwürfen, entkontextualisierte und anikonisierte aber deren Bestandteile und brachte sie in eine neue Form.

5. Funktion der Hymnen

Die Aufzeichnung von religiösen Texten hatte in Ägypten das Ziel, eine Kommunikation in verschiedene Richtungen und unter verschiedenen Bedingungen herzustellen. Die Unterscheidung zweier grundsätzlich intendierter Ziele der Verwendung von Schrift und Texten – Speicherung und Kommunikation – lässt sich für Ägypten nicht aufrecht erhalten. Vielmehr muss Speicherung als Aspekt der Kommunikation verstanden werden, der einen prospektiven Charakter hatte und die Kommunikation insbesondere mit kommenden Generationen sichern sollte. Der primäre Aspekt von Kommunikation ist der der Verewigung, mithin die schriftliche Fixierung des Kommunikationsaktes sowohl im generellen als auch im aktuellen Sinn. Dabei muss zuerst an die performative Kommunikation mit den Göttern im kultischen Ritual gedacht werden.

In diversen Verwendungsbereichen konnten die Hymnen und Gebete diese Grundfunktionen der Kommunikation erfüllen: Es waren insbesondere die kultischen Texte, die die verewigende Funktion erfüllten, in denen die Kommunikation mit den Göttern festgehalten und somit die Wiederholbarkeit des Kommunikationsaktes garantiert war. Auch die repräsentativen Grab- und Votivinschriften hatten in erster Linie verewigenden Charakter, wobei der veröffentlichende Aspekt dieser Texte besonders deutlich ist und die Einbeziehung des Lesers ihre konkreteste Realisierung fand. Speichernde Texte hatten vornehmlich eine enzyklopädische, sicherlich auch kultische Funktion. In diesem vielschichtigen, komplexen System von Texten sind auch die Hymnen zu verorten. Zwei hauptsächliche Verwendungsorte und damit Quellen für hymnische Texte lassen sich unterscheiden: der Tempel und das Grab.

5.1. Tempeltexte

Die ägyptischen Göttertempel waren als abstrahierte Nachformung des Kosmos, in der die „Welt als Gottesdienst“ (F. Junge) abgebildet war, gestaltet. Dabei wurden die verschiedenen Assoziationen durch subtile Hinweise, entsprechende architektonische Zitate und durch die thematische Komposition des Dekorationsprogramms hergestellt. Die zahlreichen Anspielungen auf den jeweils unterschiedlich interpretierten Ursprung der Welt und die kosmischen Ordnungsprinzipien in Tempelarchitektur und Tempeldekoration ließen die Tempel zu Orten werden, an denen sich die Erschaffung der Welt in mythischer Urzeit ebenso wie die ständige Wiederholung und Erneuerung der Schöpfung manifestierten.

Daneben stellten die ägyptischen Tempel Institutionen dar, welche weitere funktionale Aspekte in sich vereinigten. Im Wesentlichen waren dies neben dem Kult die Repräsentation des Gottes, des Königs, des Privatmenschen, und die Wissenschaft. Mit jedem dieser Bereiche waren spezifische Ausdrucksformen verbunden: Rituale, Priester- und Beamtenhierarchien, logistische Einheiten – und vor allem Texte. Der Verwendungsort Tempel brachte demnach Texte in verschiedenen Verwendungsfunktionen hervor: kultische, repräsentative und enzyklopädische.

5.1.1. Kultische Texte

Während die räumliche Zugänglichkeit der Gottheit durch das Tempelgebäude reguliert wurde, musste eine andere Möglichkeit gefunden werden, in die zeitliche Dimension des Göttlichen einzudringen. Das Ritual und insbesondere die dazu gehörenden Texte mussten zu in der Zeit verlaufenden Vorgängen in Bezug gesetzt werden. In dieser kommunikativen Situation liegt die ursprüngliche Funktion des liturgischen Hymnus als integrierender Bestandteil dieses Kultgeschehens. In ihrem Hörbarwerden wurde das rituelle Kultgeschehen gewissermaßen protokolliert. Diese Fixierung des Kommunikationsaktes zwischen Gottheit und König / Priester war vonnöten, um die symbolische Iteration des Aktes, seine Performativität, zu gewährleisten.

Wirkliche Kulthymnen, die sich ausweislich ihrer erhaltenen Form als in einem liturgischen Ablauf verwendet einstufen lassen, sind aus Ägypten nur wenige überliefert. Trotz ihrer rhetorischen und stilistischen Gestaltung, die ihnen das irreleitende Attribut „literarisch“ eingebracht hat, müssen die Amun-Hymnen aus Kairo und Leiden ebenso wie der „Nilhymnus“ unbedingt als kultische Texte betrachtet werden. Mit Sicherheit dazu gezählt werden können die Berliner Kulthymnen oder die Strasbourger Hymnen an Sobek-Re. Die Hymnen an den Wänden der perserzeitlichen sowie ptolemäer- und römerzeitlichen Tempel sind nur insofern kultischer Funktion zuzuordnen, als sie in Stein umgesetzte Kopien von Ritualhandschriften darstellen.

5.1.2. Repräsentative Texte

Die historischen Ereignisse vor und zu Beginn des Neuen Reichs (etwa 1600-1450 v. Chr.) führten zu tiefgreifenden Veränderungen nicht nur des ägyptischen Geschichtsbildes, sondern auch des Gottes-, Königs- und Menschenverständnisses. In Ereignissen und Orakeln konnten die Götter nun ihren Willen verkünden. Fast mehr noch als das öffentliche Leben prägte das erweiterte Gottesverständnis das Leben des menschlichen Individuums. Gott griff nun auch unmittelbar in die persönliche Historie ein, das Schicksal des Einzelnen hing unauflöslich von göttlichem Willen und göttlicher Entscheidung ab. Seit dieser Zeit entwickelten sich spezifische Ausdrucksformen der persönlichen Gottesbeziehung und entfalteten eine eigene Phraseologie. In diesen Texten wandte sich der Einzelne an seine persönliche Schutzgottheit mit Bitten um rettende Hilfe und gnädige Bewahrung in Notsituationen oder aus Dankbarkeit über bereits erfahrene Hilfestellungen. Entlang der festgelegten Prozessionswege errichtete jeder, der die Möglichkeiten dazu hatte, ein Denkmal in Form einer Statue oder einer Stele mit Gebetstexten darauf. So glaubte man, für sich die Teilhabe am Prozessions- und Kultgeschehen sichern zu können. Überdies war eine Gelegenheit geschaffen, die Kommunikation mit der Gottheit öffentlich zu machen. Aufgabe und Funktion dieser Texte waren in erster Linie, das persönliche Verhältnis des Denkmalstifters zu einer oder mehreren Gottheiten für Zeitgenossen und Nachwelt zu repräsentieren.

Wohl die Mehrzahl der privaten Statuen aus dem Neuen Reich und späteren Epochen, deren Inschriften, Gebete und Hymnen, stammen aus den äußeren Bereichen der Tempel. Sie waren an der Peripherie der Prozessionswege aufgestellt, sollten mithin als sekundäre Kultempfänger fungieren und so die Versorgung ihres Stifters bereits im Diesseits, spätestens aber im Jenseits garantieren. Bei den Stelen dagegen ist es schwerer zu entscheiden, ob sie in den Tempel- oder in den Grabzusammenhang gehörten.

5.1.3. Enzyklopädische Texte

Mit dem Begriff der enzyklopädischen Texte soll die Distinktion in „Bildungsliteratur“ oder „edukative Literatur“ und „Wissensliteratur“ aufgehoben beziehungsweise unter einen Oberbegriff gestellt werden. Die der Erziehung dienenden Texte waren in Ägypten wie anderswo Bestandteil von kanonisierter Wissensliteratur. Unter enzyklopädischen Texten sind also sowohl wissenschaftliche und weisheitliche als auch poetische Texte zusammengefasst. Mithin ist der Bezug solcher Texte zum Verwendungsort Tempel schnell hergestellt; die Tempel waren für die Produktion, Pflege und Archivierung nahezu aller Texte, die nicht ausdrücklich alltäglichen oder bürokratischen Charakter hatten, von eminenter Bedeutung. Zumindest den größeren Tempeln war jeweils eine pr-‘nch genannte Institution angegliedert, welche die Verantwortung für das textliche Erbe Ägyptens hatten. Im pr-‘nch wurden aber nicht nur die Texte zum liturgischen Gebrauch komponiert und redigiert, sondern es handelte sich um ein Zentrum wissenschaftlichen Arbeitens und geistiger Produktivität; theologische, medizinische, astronomische, geographische und mathematische Kenntnisse wurden dort erworben, in Bibliotheken gesammelt und an folgende Generationen weitergegeben.

Die in Stein umgesetzten Hymnen aus den Tempeln der Spätzeit und der ptolemäischen und römischen Epochen müssen zu einem guten Teil der enzyklopädischen Verwendungsfunktion zugeordnet werden. Auch die Gruppe der als „literarisch“ bezeichneten Hymnen aus dem Neuen Reich müssen zumindest in ihrer sekundären Funktion als enzyklopädische, da nun der Ausbildung dienende, Texte angesehen werden. Die hymnischen Textfragmente, die im Zusammenhang mit Schultexten und Alltagsurkunden überliefert sind, müssen ebenfalls als enzyklopädisch bezeichnet werden.

5.2. Grabtexte

Das Grab war für die Ägypter die Schnittstelle zwischen Diesseits und Jenseits und somit der Ort der Kommunikation zwischen dem Verstorbenen und den Hinterbliebenen einerseits und zwischen dem Verstorbenen und den Göttern andererseits. Als solche Kult- und Anbetungsstätten hatten die Gräber eine den Tempeln vergleichbare Funktion. Entsprechend dem Verwendungsort Tempel lassen sich auch für den des Grabes die kultischen, repräsentativen und enzyklopädischen Verwendungsfunktionen der dort vorzufindenden Texte ermitteln und den beiden kommunikativen grundlegenden Verwendungszielen Verewigung und Speicherung zuordnen. Das Diktum von der „Trennwand“ zwischen Tempeln und Privatgräbern hinsichtlich der jeweils zulässigen Textverwendung soll dahingehend eingeschränkt werden, dass sich diese Trennung vor allen Dingen auf Formen bezog, sie für die inhaltlichen Elemente aber sehr wohl durchlässig war, und zwar in beide Richtungen.

5.2.1. Kultische Texte

Die Individualisierung der Jenseitsvorstellungen im Verlauf der 18. Dynastie rief ein zunehmendes Bedürfnis nach Kommunikation und Eins-Werdung mit der Ebene des Göttlichen hervor, denn der Verstorbene beanspruchte nun für sich eine Teilhabe am kosmischen Geschehen, namentlich die Teilnahme an der „Nachtfahrt der Sonne“. Für diesen Dialog mit der Götterwelt und das Zurechtfinden in der Unterwelt bediente man sich einer umfangreichen „geographischen Literatur“. Das Wissen um diese Texte und ihren Inhalt war für die Verstorbenen notwendige Voraussetzung, um in die Vorzüge des Totenkults gelangen zu können. Wichtiger Bestandteil des Wissensvorrats war die Kenntnis der Hymnen, mit Hilfe derer man in den unmittelbaren Dialog mit der Sonnengottheit eintreten konnte.

Die Verschiebungen hin zu einer heliozentrischen Theologie führten zu einer explosionsartigen Vermehrung von Sonnenhymnen in den Gräbern der Privatleute – es war der Sonnengott, von dem das ewige Leben abhing. Die Anbringung der Hymnentexte im Eingangsbereich der Gräber macht ihre Bedeutung als Schnittstelle und Übergangsbereich noch sinnfälliger.

Neben den Grabwänden konnten verschiedene Grabbeigaben, unter ihnen insbesondere die Papyrushandschriften, kultisch relevante Texte tragen. Durch die Mitgabe dieser Texte ins Grab und ihrer ideellen oder tatsächlichen Rezitation sollte dem Verstorbenen die Teilhabe am irdischen Sonnenlauf ebenso garantiert sein wie der Eintritt des Gestirns in die Unterwelt zu Beginn der Nacht. Zu den typischen Ritualtexten, deren Rezitation das Wissen des Rezitierenden bezeugte, zählen die Hymnen an die Sonne aus dem sogenannten „15. Totenbuch-Kapitel“.

5.2.2. Repräsentative Texte

Das dekorative Repertoire der Privatgräber beschränkte sich ab der 19. Dynastie (ca. 1300-1180 v. Chr.) auf religiöse Texte und Darstellungen – das Grab war zur reinen Anbetungsstätte geworden, in der der Verstorbene seinen Verkehr mit den Gottheiten verewigte. Der in Hymnen gefasste, verklärende Lobpreis der Götter war naturgemäß bestens geeignet, das Verhältnis des Toten zu ihnen zum Ausdruck zu bringen. Versehen mit Namen und Titel sowie einer begleitenden Bildszene, konnte sich der Grabherr mit diesen Texten identifizieren und so den höchstpersönlichen und ebenso höchstindividuellen Vorgang der Anbetung des Sonnengottes ausdrücken.

Neben Hymnen an den Sonnengott treten wiederum auch Texte mit dem Fokus auf der individuellen Religiosität in repräsentativer Funktion in und an den Gräbern auf, die die Fürsorge der Götter um die persönlichen Belange des Verstorbenen auch im Jenseits sowie die seiner Hinterbliebenen garantieren sollten. Andererseits konnte so gegenüber den Grabbesuchern ein Zeugnis über das vortreffliche Verhältnis des Verstorbenen zu den Göttern, deren Gunsterweisen und Hilfestellungen zu dessen Lebzeiten gegeben werden. Während die repräsentativen Texte in den Gräbern des Neuen Reichs die kultischen Texte zahlenmäßig überwogen zu haben scheinen, verschwanden sie aus den Gräbern der folgenden Epochen nahezu völlig, traten jedoch massiv auf mobilen Textträgern, vor allem Statuen, auf.

5.2.3. Enzyklopädische Texte

Die persönliche Individualität, die jeder Sterbliche seiner historisch-realen Existenz und Rolle verdankte und die neben dem Namen an seine kulturelle Identität und Identifizierbarkeit geknüpft war, wurde im Leben des Ägypters und darüber hinaus als unabdingbar empfunden und galt es auch nach dem Tod zu bewahren. In diesem Sinn lässt sich den unter den Grabbeigaben gefundenen Texten durchaus eine enzyklopädische Funktion zuweisen, wenngleich diese nicht primär gewesen sein mag. Insbesondere solche Personen, die bereits zu Lebzeiten infolge ihrer Amts- oder Berufstätigkeit Zugang zu sakralen Texten hatten, besaßen die Möglichkeit, sich eine private Bibliothek von religiösen, aber auch weisheitlichen und wissenschaftlichen Schriften anzulegen und diese schließlich ihrem Grabinventar zuzuführen.

Die kultischen Texte in den Spätzeitgräbern lassen allein schon wegen ihrer ebenso monumentalisierten wie kanonisierten Form kaum Zweifel daran aufkommen, dass ihre Funktion darüber hinaus eine wissenspeichernde war. Diese Funktionserweiterung beziehungsweise Funktionsverlagerung ist am Dekorationszusammenhang, in dem sie stehen, deutlich ablesbar: Szenische Darstellungen, die den Verstorbenen anbetend vor dem Sonnengott abbilden, sind seltener geworden. Häufig stehen die Texte recht abstrakt zwischen anderen, thematisch verschiedenen, und unterstreichen so ihren enzyklopädischen Charakter.

6. Ägyptische Hymnen und Altes Testament

Allen vorderorientalischen Hochkulturen war die Bedeutung der hymnischen Kommunikation mit der Götterwelt gemeinsam. Die textuellen und inhaltlichen Muster, die sich dabei herausbildeten, waren zwangsläufig von gewisser Ähnlichkeit. Hinzu kam, dass sich auch das Gottesbild in den jeweiligen Kulturen nicht so stark voneinander unterschied, wie es den Anschein haben mag: In oder neben allen denkbaren polytheistischen Konstellationen gab es henotheistische Bestrebungen, die je eine Gottheit über die anderen stellten und so die Existenz der übrigen Gottheiten im Zweifelsfall obsolet erscheinen ließen (→ Monotheismus). Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, wenn die alttestamentlichen → Psalmen ähnlich aufgebaut und inhaltlich orientiert sind wie babylonische, ugaritische oder ägyptische Gebets- und Hymnentexte. Zumindest die vorexilische Psalmendichtung muss als Teil dieser altorientalischen Kultur-Koine gelten und ist auch nur in diesem Rahmen angemessen zu verstehen.

Ägyptische Parallelen zu Texten des Alten Testament werden diskutiert, seit ab Beginn des 20. Jahrhunderts die religiösen und weisheitlichen Textquellen in Übersetzung vorliegen. Bis heute stehen dabei die Hymnen der → Aton-Religion und Ps 104 im Mittelpunkt der komparatistischen Untersuchungen. Diese inzwischen für Bibelwissenschaft wie Ägyptologie Tradition gewordene Engführung hat den Blick auf das Potenzial, welches das hymnische Quellenmaterial aus Ägypten hinsichtlich des religionshistorischen Vergleichs enthält, verstellt. Fragen nach Zeitpunkt, Motivationen und Trägern eines literarischen Austauschs werden bis heute nur hintergründig gestellt; stattdessen werden direkte Linien zwischen Texten gezogen, die sich in einzelnen Motiven und deren Anordnung zu gleichen scheinen. Die Intensität, mit der die Diskussion bis heute geführt wird, hat die Kontroversen nicht beseitigen können – über den Grad der Abhängigkeit einzelner Psalmenpassagen von ägyptischen Hymnen oder der hebräischen von der ägyptischen Hymnik insgesamt herrscht in der Wissenschaft keine Einigkeit.

Die Hymnenproduktion blieb in Ägypten auch das erste vorchristliche Jahrtausend hindurch ununterbrochen, sodass für den Vergleich mit alttestamentlichen Texten ausreichend kontemporäres Material zur Verfügung steht und nicht auf Quellen zurückgegriffen werden muss, die viele Jahrhunderte älter sind als die biblischen Texte. Die Erforschung der redaktions- und traditionsgeschichtlichen Prozesse, welche die ägyptischen Hymnen- und Gebetstexte bis zum Erreichen ihrer heute fassbaren Endgestalt durchlaufen haben, steht allerdings erst am Anfang, sodass seriöse Aussagen zur transkulturellen Überlieferung zum heutigen Zeitpunkt kaum möglich sind.

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Kindlers Literatur Lexikon, Zürich 1965-1974 (Art. „Ägyptische Hymnik“, Bd. 1, 1965, Sp. 173-176)
  • Lexikon der Ägyptologie, Wiesbaden 1975-1992 (Art. „Hymnus“, Bd. 3, 1980, Sp.103-110)

2. Weitere Literatur

  • Assmann, J., 1969, Liturgische Lieder an den Sonnengott. Untersuchungen zur ägyptischen Hymnik I (Münchner Ägyptologische Studien 19), Berlin
  • Assmann, J., 1994, Der Amunshymnus des Papyrus Leiden I 344, verso, Orientalia N.S. 63, 98-110
  • Assmann, J., 1994, Verkünden und verklären. Grundformen hymnischer Rede im Alten Ägypten, in: Burkert, W. / Stolz, F. (Hgg.), Hymnen der Alten Welt im Kulturvergleich (OBO 131), Freiburg (Schweiz) / Göttingen, 33-58
  • Assmann, J., 2. Aufl. 1999, Ägyptische Hymnen und Gebete (OBO Sonderband), Freiburg (Schweiz) / Göttingen
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  • Barucq, A., 1962, L’expression de la louange divine et de la prière dans la bible et en Égypte (Bibliothèque d’Étude 33), Le Caire
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Abbildungsverzeichnis

  • Kultischer Hymnus an den Gott Amun (Seite einer Papyrushandschrift in Kairo, Egyptian Museum [CG 58038 III], vermutlich aus Theben; 15./14. Jh. v. Chr.). Aus: A. Mariette, Les papyrus égyptiens du musée de Boulaq, t. 2. Paris 1872, Tf. 11
  • Statue eines Betenden, der vor sich eine Stele mit einem Sonnenhymnus hält (Statue Kairo, Egyptian Museum [CG 625], vielleicht aus Theben; 14. Jh. v. Chr.). Aus: H. Fechheimer, Die Plastik der Ägypter, Berlin 1923, Tf. 68-69
  • Der sog. „Große Sonnenhymnus“ an den Gott Aton auf einer Wand im Grab des Eje in Tell el-Amarna (14. Jh. v. Chr.). Aus: N. de G. Davies, The Rock Tombs of El Amarna VI, London 1908, Tf. 41
  • Anrufungen an den Sonnengott in einem Totenbuch-Papyrus (London, British Museum [EA 10554], aus Theben; 10. Jh. v. Chr.). Aus: E.A.W. Budge, The Greenfield Papyrus in the British Museum, London 1912, Tf. 82

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