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Theologie des Alten Testaments

(erstellt: Dezember 2014)

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1. Begriff

Der Begriff „Theologie“ in seinem neuzeitlichen Verständnis ist im Wesentlichen durch das Christentum und seine Geschichte bestimmt. Einerseits dient er „zur Bezeichnung der methodisch reflektierten Explikation der Grundgehalte des christlichen Glaubens“ (Schwöbel, 2005, 255), indem er nicht nur entsprechend seiner Grundbedeutung Gott, sondern zugleich auch Gottes Offenbarung und damit Gottes Anspruch an den Menschen zum Gegenstand des Nachdenkens macht. Andererseits bezeichnet Theologie seit der Gründung der Universitäten im 13. Jh. – und verstärkt seit dem Beginn der Neuzeit – eine universitäre Disziplin im Gegenüber zu anderen akademischen Fächern, die sich als kritisch verfahrende wissenschaftliche Reflexionsgestalt der gelebten Religion versteht. Theologie hat seitdem Anteil an der Entwicklung der einzelnen Fächer in Teildisziplin und deren weitere Differenzierung sowie der damit verbundenen Herausbildung eigener wissenschaftlicher Methoden. Der Begriff Theologie des Alten Testaments ist insofern in die Geschichte der Theologie eingebunden, als es eine Theologie des Alten Testaments nur im Kontext der christlichen Glaubenslehre geben kann, die zudem erst durch die Differenzierung der Bibelwissenschaften in die Fächer Altes und Neues Testament ermöglicht worden ist. Selbstverständlich setzt das Alte Testament spätestens mit dem Prozess der Sammlung sowie der Kanonisierung seiner Texte (→ Kanon) und Überlieferungen eigene theologische Reflektionen voraus. Als Heilige Schrift bildet das Alte Testament ohnehin von Anfang an eine der Grundlagen theologischer Betrachtungen und Erörterungen im Judentum wie im Christentum. Die Geschichte der Theologie des Alten Testaments als eigenständige, ihren Gegenstand methodisch reflektierende Disziplin beginnt allerdings erst im Zeitalter der Aufklärung. Sie setzt damit als eigenständige Disziplin genau zu der Zeit ein, als mit dem Beginn der historisch-kritischen Forschung nicht nur die Selbstständigkeit des Alten Testaments gegenüber dem Neuen Testament sehr viel klarer als früher erkannt wurde, sondern die biblischen Texte insgesamt aus der Vormundschaft der christlichen Dogmatik befreit worden sind. Die Schwierigkeiten, den Begriff Theologie des Alten Testaments exakt zu bestimmen und ihren Gegenstand in Abgrenzung zu Religionsgeschichte und biblischer Hermeneutik klar zu umreißen, zeigen sich deshalb schon in der Geschichte dieser Disziplin selbst.

2. Geschichte

2.1. Von Johann Salomo Semler bis Georg Lorenz Bauer (18. Jh.)

Die Anfänge dieser Disziplin sind mit zwei Namen verbunden: Johann Salomo Semler und Johann Philipp Gabler.

Johann Salomo Semler (1725-1791) hatte in seiner vierbändigen „Abhandlung von freier Untersuchung des Canons“ (1771-1775) das altprotestantische Kanonverständnis radikal infrage gestellt. Galten bis dahin das Alte und das Neue Testament in gleicher Weise als göttlich inspiriert und war die Gleichwertigkeit des Alten mit dem Neuen Testament annähernd durch dessen christologische Auslegung gesichert, so weist Semler die geschichtliche Bedingtheit sowohl der einzelnen biblischen Schriften als auch der Kanonbildung selbst auf. Daraus folgt, dass nicht alle biblischen Schriften in gleicher Weise göttliche Offenbarung bzw. Gottes Wort enthalten konnten. Zudem war hinsichtlich des „Wortes Gottes“ noch einmal zu unterscheiden zwischen den göttlichen Offenbarungen von universaler und bleibender Gültigkeit und der vielfach partikularen und zeitbedingten biblischen Überlieferung – von Semler als „Heilige Schrift“ bezeichnet. Aufgabe des einzelnen Gläubigen sei es, aus dem Gesamtbereich der tradierten Schriften allererst das „Wort Gottes“ zu extrahieren (vgl. Schröter, 2012). „Da hierbei ebenso der geschichtliche Abstand der israelitisch-jüdischen Religion vom Christentum als seinem Nachfahren wie die im Alten Testament zum Ausdruck kommenden religiösen Eigenheiten jener zunächst national eingegrenzten Form der menschlichen Beziehung zu dem einen, einzigen Gott entdeckt wurden, aber auch das Herauswachsen des universalistischen Christentums gerade aus dieser Religion zu Tage trat, war so der entscheidende Schritt zur historisch-kritischen Auslegung des Alten (wie auch des Neuen) Testamentes getan“ (Lüder, 1995, 179).

Bei Semler sind damit die für die Herausbildung einer Theologie des Alten Testaments wesentlichen Unterscheidungen zwischen biblischer Theologie und christlicher Dogmatik auf der einen und zwischen dem Alten Testament als Grundlage des jüdischen und dem Neuen Testament als Grundlage des christlichen Glaubens auf der anderen Seite vorgezeichnet.

Als „Gründungsurkunde“ der Disziplin wird in der Regel die Antrittsvorlesung Johann Philipp Gablers (1753-1826; → Gabler) angesehen, die er am 30. März 1787 an der Universität Altdorf hielt zu dem Thema: De iusto discrimine theologiae biblicae et dogmaticae redundisque recte utriusque finibus („Über die rechte Unterscheidung zwischen biblischer und dogmatischer Theologie und die richtige Festlegung der Grenzen beider“). Dieses Urteil ist insofern richtig, als Gabler strikt zwischen biblischer und dogmatischer Theologie unterschied und dabei zugleich forderte, dass nicht die Auslegung der Bibel von der Dogmatik abhängig sein darf, sondern umgekehrt die Dogmatik als eine der jeweiligen Zeit verpflichtete und deshalb steter Wandlung unterworfene Lehre des christlichen Glaubens allein in einer biblischen Theologie begründet sein kann. Deren bleibende Gültigkeit wird dadurch gesichert, dass in einem ersten Schritt die Lehren der einzelnen biblischen Bücher und ihrer Verfasser als „wahre biblische Theologie“ (interpretatio) exegetisch und historisch herausgearbeitet werden müssen, die dann in einem zweiten Schritt hinsichtlich ihrer allgemeinen Grundideen zu überdenken sind und so als „reine biblische Theologie“ (comparatio) die Grundlage der theologischen Dogmatik bilden. In Bezug auf die Theologie des Alten Testaments ist dieses Urteil aber insofern einzuschränken, als für Gabler das Alte Testament in der Konzeption der „reinen biblischen Theologie“ keine und in der einer „wahren biblischen Theologie“ nur eine marginale Rolle spielte.

Das Verdienst, die Eigenständigkeit des Alten Testaments herausgestellt zu haben, gebührt Georg Lorenz Bauer (1755-1806; → Bauer). 1796 veröffentlichte er eine „Theologie des Alten Testaments oder Abriß der religiösen Begriffe der alten Hebräer. Von der ältesten Zeit bis auf den Anfang der christlichen Epoche“. Dem folgten von 1800 bis 1802 vier Bände „Biblische Theologie des Neuen Testaments“. Bei ihm findet sich zum ersten Mal im Buchtitel der Begriff „Theologie des Alten Testaments“. Sein Ziel war es, die Schriften des Alten Testaments historisch „im Geist ihres Zeitalters“ auszulegen und die „Religionsbegriffe der Hebräer“ ausschließlich mit Religionen zu vergleichen, die mit diesen auf einer annähernd gleichen Kulturstufe standen. Nur so lässt sich nach seiner Überzeugung der bis dato gängige Fehler vermeiden, „daß man dem alten Hebräer Religionskenntnisse unterschob, welche nur Lehrsätze der christlichen Theologie sind“ (Zimmerli, 1980, 428). In keinem Fall darf das Alte Testament vom Neuen her beleuchtet werden.

Mit der historischen Auslegung war zwar die Selbstständigkeit des Alten Testaments gewonnen, bei Bauer (ähnlich wie schon bei Gabler) aber um den Preis eines Bedeutungsverlustes für den christlichen Glauben. Als vorchristliche Urkunde konnte im Grunde nur der – vorausgesetzte – mosaische Monotheismus als Keim für das Neue Testament in Anspruch genommen werden, während alles Übrige als Teil einer partikularen, jüdischen Religion die Vorstufe und mehr noch eine dunkle Folie bot, vor deren Hintergrund die Lehre Jesu und der Apostel als höchste Form der Religion nur noch klarer und deutlicher erkennbar wurde.

Für die Disziplin selbst waren mit den Arbeiten von Gabler und Bauer zwei Pole gesetzt, zwischen denen sich in der Folgezeit die Theologien des Alten Testaments bewegten (vgl. Zimmerli, 1980, 429f.). Auf der einen Seite stand die Forderung, die theologischen Aussagen des Alten Testaments rein historisch im Kontext ihrer eigenen Geschichte zu interpretieren. Da die historische Interpretation aber stets in der Gefahr stand, die Bedeutung des Alten Testaments auf seine Geschichte zu reduzieren, blieb es auf der anderen Seite unumgänglich, im Vergleich der alttestamentlichen Aussagen das Allgemeine und dauerhaft Gültige ihrer Botschaft für den christlichen Glauben herauszuarbeiten.

2.2. Von Wilhelm M.L. de Wette bis Julius Wellhausen (19. Jh.)

Diesen Spagat geleistet zu haben, ist das Verdienst von Wilhelm M.L. de Wette (1780-1849; → de Wette), der dabei unter dem Einfluss von Johann Gottfried Herder (1744-1803) stand. Dieser hatte versucht, die Spannung zwischen Orthodoxie und Rationalismus mit der „Einfühlung“ in die hebräische Poesie zu überwinden, die für ihn „zutiefst in ästhetisch-psychologischen Bereichen verwurzelt war“ (Kraus, 1969, 122). Bei de Wette bilden deshalb „historisch-kritische Auslegung und religiös-philosophische Ausdeutung … keine Gegensätze, sondern das eine baut auf dem anderen auf“ (Reventlow, 1982, 237). Die historische Kritik an den alttestamentlichen Schriften führte ihn zu der Überzeugung, dass diese mehrheitlich keine Dokumente der Geschichte, sondern der Religion darstellen und deshalb primär darauf abzielen, selbst „Religion zu wecken“ (Smend, 1989, 42). Dies bedeutet aber, dass sich eine Theologie des Alten Testaments keinesfalls auf die Erhebung des Historischen beschränken darf. Vielmehr gilt es, die anthropologisch-psychologischen und religionsphilosophischen Voraussetzungen zu ergründen, die es überhaupt erst ermöglichen, Religion differenziert und qualitativ zu bestimmen. Hier bietet ihm vor allem Jakob Friedrich Fries (1773-1843) mit seinem Verständnis der Religion als „Ahndung und Gefühl“ des Übersinnlichen und Transzendenten das entsprechende Rüstzeug. In seiner 1813 vorgelegten „Biblischen Dogmatik Alten und Neuen Testaments. Oder kritische Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und des Urchristenthums“ (= Lehrbuch der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwicklung dargestellt, Erster Theil) unterscheidet er nicht nur zwischen dem Alten und Neuen Testament, sondern konstatiert innerhalb der Testamente verschiedene Phasen der Religionsentwicklung. Für das Alte Testament unterscheidet er zwischen „Hebraismus“ und „Judentum“ sowie für das Neue Testament zwischen der „Lehre Jesu“ und der „Lehre der Apostel“. Als das unveräußerliche Vermächtnis der Religion des „Hebraismus“ gilt ihm „die sittliche, vom Mythus befreite Idee Eines Gottes, als eines heiligen Willens“ (de Wette, 1831, 63). An dessen „idealen Universalismus“ knüpft die Botschaft vom „Reich Gottes“ im Neuen Testament an und befreit mit ihrer Ethik den „sittlichen Charakter des Hebraismus“ von seinem politischen und „symbolischen Partikularismus“. Zwischen beiden steht für ihn das „Judenthum“ als „die verunglückte Wiederherstellung des Hebraismus und die Mischung der positiven Bestandtheile desselben mit fremden mythologisch-metaphysischen Lehren, worin ein reflectierender Verstand, ohne lebendige Begeisterung des Gefühls, waltet: ein Chaos, welches eine neue Schöpfung erwartet“ (de Wette, 1831, 114; vgl. Reventlow, 2001, 237f.).

Obgleich de Wette von mehreren Seiten der Vorwurf gemacht worden ist, dass er auf Grund seiner religionsphilosophischen Prämissen die rein historische Fragestellung vernachlässigt habe, die in der Nachfolge Gablers und Bauers einer biblischen Theologie allein angemessen sei, hat er durch die Differenzierung der verschiedenen Religionsepochen innerhalb des Alten und Neuen Testaments, einschließlich der negativen Bewertung des Judentums, nachhaltige Wirkung erzielt.

Auf den von Gabler und Bauer vorgezeichneten Bahnen bewegten sich auch Carl P.W. Grambergs auf vier Bände angelegte „Kritische Geschichte der Religionsidee des Alten Testaments“, von der nur der erste und zweite Band erschien (1829 „Hierarchie und Cultus“, 1830 „Theokratie und Prophetismus), sowie die 1836 posthum herausgegebene „Biblische Theologie des Alten Testaments“ von Daniel G.C. von Cölln. Beide beschränken sich auf eine rein geschichtliche Darstellung der Religionsvorstellung des Alten Testaments ohne jeden Versuch einer hermeneutischen Vermittlung für Theologie und Kirche.

Einen demgegenüber eigenständigen und originellen Entwurf legte 1835 Wilhelm Vatke (1806-1882) vor. In Anlehnung an die Geschichtsphilosophie Hegels erfasst er in seiner „Biblischen Theologie“ mit dem Untertitel „Die Religion des Alten Testaments“ die religiösen Ideenkreise auf Grund „ein(es) komplizierte(n) System(s) dialektischer Darstellung, logischer Zergliederung und spekulativer Erfassung” (Kraus, 1970, 93). Er negiert dabei gar nicht den religionsgeschichtlichen Entwicklungsgedanken innerhalb des Alten Testaments und vom Alten zum Neuen Testament. Aber die geschichtliche Abfolge von einer vorprophetischen, prophetischen und nachprophetischen Phase relativiert sich hinsichtlich einer dialektisch konzipierten theologischen Wertigkeit insofern, als es die Aufgabe einer biblischen Theologie ist, „die Hauptmomente der biblischen Religion …, ihres allgemeinen Begriffes, ihrer subjectiven und historischen Erscheinung und ihrer Idee“ (Vatke, 1886, 147) zur Darstellung zu bringen. Von daher muss auch die alttestamentliche Religion notwendig „allgemein-wahre Momente“ (ebd., 626) enthalten und lässt sich nicht einfach auf ihre Geschichte reduzieren.

Aus einer rein historischen Sichtweise konnte das Alte Testament kaum Anspruch darauf erheben, Grundlage des christlichen Glaubens zu sein, wie es sich beispielhaft an Friedrich D.E. Schleiermachers (1768-1834) Beurteilung des Alten Testaments als Teil des biblischen Kanons zeigt. Erklärte er in der ersten Ausgabe seiner „Glaubenslehre“ von 1821/22 im Lehrstück „Von der Heiligen Schrift“ (§§ 147-150) diese ohne Unterscheidung in Altes und Neues Testament entsprechend dem reformierten Bekenntnis als durch den Heiligen Geist eingegeben und deshalb „ihrem Ursprunge nach authentisch und als Norm für die christliche Lehre zureichend“ (§ 149, 1983, 375), so nimmt er in der zweiten Auflage von 1830/31 zum gleichen Lehrstück (§§ 128-131) das Alte Testament nachdrücklich von diesem Urteil aus und formuliert in einem Zusatz (§ 132, 1983, 407):

„Die alttestamentischen Schriften verdanken ihre Stelle in unserer Bibel teils den Berufungen der neutestamentischen auf sie, teils dem geschichtlichen Zusammenhang des christlichen Gottesdienstes mit der jüdischen Synagoge, ohne daß sie deshalb die normale Dignität oder die Eingebung der neutestamentischen teilen.“

Der Grund für diese Modifikation ist individuationstheoretischer Art, insofern eine jede positive Religion – so auch das Christentum – ihren selbstständigen Gründungsimpuls und ihr eigenständiges Wesen besitzen muss. Zwar bleibt für Schleiermacher das Alte Testament, da es zur Geschichte des Christentums gehört, Teil der theologischen Ausbildung. Für die christliche Lehre und den christlichen Glauben besitzt es aber kaum noch Bedeutung, wie er in der „Kurze(n) Darstellung des theologischen Studiums“ von 1830 in § 115 ausführt (1983, 299):

„Daß der jüdische Kodex keine normale Darstellung eigentümlich christlicher Glaubenssätze enthalte, wird wohl bald anerkannt sein. Deshalb aber ist es nicht nötig – wiewohl es auch zulässig bleiben muß –, von dem altkirchlichen Gebrauch abzuweichen, der das Alte Testament mit dem Neuen zu einem Ganzen als Bibel vereinigt.“

In der Nachfolge Schleiermachers konnte Adolf von Harnack 1924 in der Abhandlung über Marcion seine oft zitierte These formulieren:

„Das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung“ (zitiert nach Smend, 1995, 146).

Die Konsequenzen der religionsgeschichtlichen Betrachtung für eine Theologie des Alten Testaments sind dann durch die Arbeiten von Julius Wellhausen (1844-1918; → Wellhausen) noch sehr viel schärfer in den Blick getreten. Die größte Wirkung erzielte unter diesen die 1878 erschienene „Geschichte Israels“, die nochmals überarbeitet unter dem Titel „Prolegomena zur Geschichte Israels“ bis 1905 nicht weniger als sechs Auflagen erlebte. Vor allem zwei Einsichten haben fortan die alttestamentliche Theologie nachhaltig bestimmt.

Die erste war die durch Eduard Reuß und Karl-Heinrich Graf vorbereitete These, dass die Propheten älter sind als das Gesetz (Prophetae ante legem) und dass somit nicht das mosaische, sondern das prophetische Zeitalter als Nukleus israelitischer Religion sowie ihrer Vorstellungen und Ideen angesehen werden muss. Am deutlichsten spiegelt sich diese neue Sicht in → Bernhard Duhms (1847-1928) „Theologie der Propheten“ von 1875 schon in dem weiterführenden Titel „als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion“ wider.

Die zweite Einsicht, zugleich Grundlage der ersten, war, dass die Geschichte und Religionsgeschichte Israels konsequent auf die historisch-kritische Untersuchung der schriftlichen Quellen gestellt wurde. Die Vorrangstellung der Propheten als dem eigentlich zu bewahrenden „reformatorischen Erbe“ des Alten Testaments führte dann allerdings zu der unglücklichen Unterscheidung zwischen Prophetie und dem nachfolgenden Gesetz als Grundlage des Judentums. Wenn Wellhausen diesen etwa mit dem Satz beschreibt, „daß der Gott der Propheten sich jetzt in einer kleinlichen Heils- und Zuchtanstalt verpuppte und statt einer für alle Welt gültigen Norm der Gerechtigkeit ein streng jüdisches Ritualgesetz aufstellte“ (1904, 191), so bedeutet dies für ihn kein allgemeines Werturteil über das Judentum, sondern ist aus seiner Sicht der geschichtlichen Situation der exilisch-nachexilischen Zeit geschuldet.

In der Nachfolge Wellhausens schlägt „das Pendel … kräftig nach der Seite der (geschichtlich) ‚Wahren Theologie’ aus – die Frage der ‚Reinen Theologie’ tritt zurück“ (Zimmerli, 1980, 437).

2.3. Von der Wende zum 20. Jahrhundert bis Walter Eichrodt

Um die Wende zum 20. Jahrhundert bekam die differenzierte und historisch-kritische Erforschung der Religion Israels durch die „Religionsgeschichtliche Schule“ noch einen weiteren Schub. Ihre Vertreter, vorab Hermann Gunkel (1862-1932; → Gunkel) und Hugo Greßmann (1877-1927; → Greßmann), beschränkten sich bei ihren Untersuchungen nicht mehr nur auf die Texte des Alten Testaments selbst, sondern entwickelten die vergleichende form- und gattungsgeschichtliche Forschung unter der in dieser Zeit neu entdeckten altorientalischen Kulturen. Die dabei erkennbare Nähe der israelitischen Religion zu ihrer Umwelt ließ die Frage nach der Eigenständigkeit des Alten Testaments jetzt nicht mehr nur im Blick auf das Neue Testament, sondern auch im Verhältnis zu den altorientalischen Religionen stellen. Wer in diesem Kontext den Anspruch hatte, wissenschaftlich zu arbeiten, der legte seinen Schwerpunkt auf die Erforschung der Geschichte auf Grundlage der hierfür allgemein anerkannten Methoden und verfasste keine Theologie, sondern eine Religionsgeschichte. Das gilt selbst für jene Werke, die wegen des undifferenzierten Gebrauchs von „Theologie“ und „Religion“ (von Bernhard Duhm schon 1889 „als Grundübel der theologischen Wissenschaft“ [zitiert nach Smend, 2002, 78] gebrandmarkt) noch unter dem Titel „Biblische Theologie“ herausgegeben wurden; so etwa für Bernhard Stades (1848-1906) Darstellung „Die Religion Israels und die Entstehung des Judentums“ als erster Band einer „Biblischen Theologie des Alten Testaments“ (1905) und in noch stärkerem Maße für die 1911 posthum herausgegebene „Biblische Theologie“ von Emil Kautzsch. Es handelt sich wie bei den Arbeiten von Rudolf Smend, sen. (1893), Karl Budde (1900) oder Gustav Hölscher (1922) im weitesten Sinne um Religionsgeschichten des Alten Testaments.

Die Gegenbewegung ließ nicht lange auf sich warten. Trotz der detaillierten Erhebung religionsgeschichtlicher Sachverhalte und Phänomene blieben die Fragen nach einer allgemeinen Bewertung und nach dem bleibenden Sinn der in ihrer Entwicklung erfassten Religionsinhalte. Diese stellten sich umso dringender, als die Gefahr des völligen Bedeutungsverlustes des Alten Testaments für die christliche Theologie immer stärker wurde. Die Infragestellung ergab sich nicht nur aus der systematisch- christentumsgeschichtlichen Sicht D.E.F. Schleiermachers oder A. von Harnacks (s.o.), sondern wurde durch die religionsgeschichtliche Forschung auch selbst provoziert. Nach dem sog. → „Bibel-Babel-Streit“ (vgl. Lehmann, 1994) hatten die „Panbabylonisten“ als die radikalsten Vertreter religionsgeschichtlicher Forschung ihre anfangs noch gemäßigten Einsichten dahingehend verschärft, dass der Ursprung der Religion in Mesopotamien liege und deshalb dem Alten Testament als Ableger dieser Kultur jeglicher Offenbarungsgehalt und jede Exklusivität abgesprochen werden müsse.

Dem trat nun die Forderung entgegen, dass sich alttestamentliche Wissenschaft keinesfalls auf archäologische und religionsgeschichtliche Befunde beschränken darf. Vielmehr muss neben die historisch-genetische Fragestellung unbedingt eine systematisch-religionsphilosophische treten, die nicht nur die historische Vielfalt der altisraelitischen Religion widerspiegelt, sondern die religiösen Grundgedanken des Alten Testaments systematisch erhebt und in ihrer theologischen Wertigkeit zur Darstellung bringt. Entsprechend fordert Rudolf Kittel (1853-1929) in einem Vortrag auf dem 1. Deutschen Orientalistentag 1921 über „Die Zukunft der alttestamentlichen Wissenschaft“ schon für die allgemeine Religionsgeschichte: „Sie muß weiterschreiten zur religionssystematischen, d.h. religionsphilosophischen oder religionsdogmatischen Darstellung des Wesens und Kerns der Religion und ihrer Wahrheit“ (1921, 96). Die Unterscheidung zwischen einer historischen und einer systematischen Religionsgeschichte, wobei letztere dann als „Theologie des Alten Testaments“ verstanden wird, ist dann auch von Carl Steuernagel (1869-1958) in dem Beitrag: „Alttestamentliche Theologie und alttestamentliche Religionsgeschichte“ (1925) aufgenommen worden. Die hier schon angedeutete Blickrichtung auf die Theologie in der Gesamtheit ihrer Disziplinen wird wenig später von Otto Eißfeldt (1887-1973; → Eißfeldt) in dem Aufsatz „Israelitisch-jüdische Religionsgeschichte und alttestamentliche Theologie“ (1926) forciert, indem er das Problem unter der nach dem ersten Weltkrieg durch die „dialektische Theologie“ (Karl Barth, Emil Brunner, Friedrich Gogarten) aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis von „Geschichte und Offenbarung“ diskutiert. Die sich daraus ergebende Unterscheidung lautet: „Die historische Betrachtungsweise einerseits und die theologische andererseits gehören zwei verschiedenen Ebenen an. Sie entsprechen zwei verschieden gearteten Funktionen unseres Geistes, dem Erkennen und dem Glauben“ (Eißfeldt, 1926, 6). Beide Ebenen, die sich durchaus gegenseitig befruchten können, dürfen aber nicht miteinander vermischt werden. Vielmehr ist die darin gegebene Spannung auszuhalten. Die Religionsgeschichte gehört zur historischen Wissenschaft. Der Gegenstand der theologischen Betrachtung ist die „Offenbarung“ des Alten Testaments und der daraus resultierende Glaube. Dieser hat es aber „nicht mit Vergangenem zu tun, sondern mit Gegenwärtig-Zeitlosem“ (ebd., 10f.). Die Form der Darstellung ist notwendigerweise eine systematische und ihr durchaus wissenschaftlicher Anspruch „konfessionell-kirchlich“ begrenzt.

Der darin angedeuteten Unterscheidung zwischen einer israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte als empirisch-historischer und einer alttestamentlichen Theologie als normativer Wissenschaft hat Walter Eichrodt (1890-1978) vehement widersprochen. Er begründet dies damit, dass erstens jede historische Forschung ihrem Stoff ohne Auswahlprinzip und Ziel gerichtete Fragestellung gar nicht gerecht zu werden vermag, also auch immer subjektiv bestimmt ist, und dass zweitens eine Theologie im Bereich des Alten Testaments auf dem gleichen methodischen Rüstzeug beruht wie die Religionsgeschichte. „Kommt es der israelitisch-jüdischen Religionsgeschichte auf das genetische Verstehen der ATlichen Religion im Wechselspiel der geschichtlichen Kräfte an, so hat es die ATliche Theologie […] mit der großen systematischen Aufgabe des Querschnittes durch das Gewordene zu tun, durch den die großen Lebensinhalte der Religion nach ihrer inneren Struktur aufgehellt und in ihrer Eigenart gegenüber der religiösen Umwelt, bzw. gegenüber den Typen der Religionsgeschichte überhaupt erkannt werden sollen.“ (1929, 89).

Aus dieser Diskussion heraus erschienen in den dreißiger Jahren mehrere Theologien des Alten Testaments, die es sich zur Aufgabe stellten, nicht die Religion Israels historisch zu rekonstruieren, sondern die theologisch relevanten Vorstellungen der Schriften des Alten Testaments systematisch zu erfassen. Unter diesen waren vor allem zwei bestimmend. Die eine stammt von W. Eichrodt selbst und wurde von ihm in drei Teilen 1933, 1935 und 1939 herausgegeben. Die andere verfasste Ludwig Köhler (1880-1956), und sie erschien 1936 in einem Band. Die Bedeutung beider Werke ist schon an ihren Auflagen zu abzulesen. W. Eichrodts erster Teil brachte es auf sieben Auflagen und der zweite und dritte Teil – ab 1948 in einem Band zusammengefasst – wurde wie Köhlers Theologie viermal neu aufgelegt. Charakteristisch für beide ist die Dreiteilung ihres systematischen Aufrisses. W. Eichrodt gliedert seine Theologie in die drei Relationsbeziehungen „Gott und Volk“, „Gott und Welt“ sowie „Gott und Mensch“, ein Ansatz, der sich auch bei Otto Procksch findet („Gott und Welt“, „Gott und Volk“, „Gott und Mensch“), dessen Theologie des Alten Testaments Gerhard von Rad 1950 posthum herausgegeben hat. Dem entspricht in etwa, wenn L. Köhler nach der Trias „Theologie, Anthropologie und Soteriologie“ seine drei Teile überschreibt: „Von Gott“, „Vom Menschen“ und „Von Gericht und Heil“, eine Gliederung, die sich ähnlich in der Theologie des Alten Testaments (1933) von Ernst Sellin (1867-1946; → Sellin) findet („Die Lehre des Alten Testaments von Gott und seinem Verhältnis zur Welt“, „… von dem Menschen und der Sünde des Menschen“, „… vom göttlichen Gericht und vom göttlichen Heil“). Beide Theologien könnten deshalb mit Konrad Schmid als „Dogmatiken des Alten Testaments bezeichnet werden“ (2013, 41). Trotz der Ähnlichkeit im Aufbau sind die Unterschiede zwischen beiden nicht zu verkennen.

Während sich L. Köhler in seiner knappen Darstellung auf jene „Anschauungen, Gedanken und Begriffe“ beschränkt, „welche theologisch erheblich sind oder sein können“ (1966, V), ohne Letzteres explizit zu erklären, geht es W. Eichrodt in seiner alttestamentlichen Theologie darum, „ein Gesamtbild der alttestamentlichen Glaubenswelt zu gewinnen“ und dessen „doppeltes Gesicht“ ans Licht zu bringen. Diese nämlich blickt mit dem einen Gesicht „in die allgemeine Religionsgeschichte“ und mit dem anderen „schaut sie zum Neuen Testament hinüber“ (1963, 1). Auch wenn für beide die historisch-kritisch Arbeit und der religionsgeschichtliche Vergleich zu den grundlegenden Vorarbeiten eines systematischen Entwurfs gehören, sind sie in der inhaltlichen Ausführung doch sehr verschieden. Dies lässt sich beispielhaft an der jeweiligen Beurteilung des Kults im Alten Testament zeigen.

L. Köhler rechnet den Kult einerseits zur Anthropologie und andererseits zur Soteriologie. Aber dem Vorurteil der „dialektischen Theologie“ folgend behandelt er den Kult dann nicht, wie es dem alttestamentlichen Zeugnis eher entspräche, unter der Soteriologie, sondern am Ende des anthropologischen Teils unter der Überschrift: „Die Selbsterlösung des Menschen“ (1966, 171-189). In der „dialektischen Theologie“ gelten „Kult“ und „Gesetz“ weithin als Ausdruck für „Religion“ mit dem Ziel, dass sich der Mensch selbst mit Gott versöhnen will. „Theologie“ ist dagegen als „Evangelium“ die frohe Botschaft von der Versöhnung Gottes mit dem Menschen in Jesus Christus (vgl. Schmid, 2013, 42-44).

Demgegenüber gehört der Kult für W. Eichrodt zu den konstitutiven Grundlagen des „alttestamentlichen Bundesgedankens“ und wird deshalb unter durchaus soteriologischem Aspekt prominent im ersten Teil (§ 4) platziert. Im Begriff des „Bundes“ ist für W. Eichrodt der Kern einer inneralttestamentlichen Systematik insofern gelegt, als sich in diesem „für israelitisches Denken die Beziehung des Volkes zu Gott entscheidenden Ausdruck verlieh“ und somit „die Besonderheit israelitischen Gotteserkennens von vornherein fest(stellt)“ (1963, 9). Ein weiterer gravierender Unterschied besteht darin, dass für W. Eichrodt die Aufgabe einer alttestamentlichen Theologie erst in der Verhältnisbestimmung zum Neuen Testament richtig erfasst ist: „Es ist der Einbruch und die Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes in dieser Welt, die die beiden, äußerlich so verschiedenen Welten des Alten und Neuen Testaments unlösbar zusammenschließt, weil sie ruht auf dem Tun des einen Gottes, der in Verheißung und Forderung, in Evangelium und Gesetz ein und dasselbe große Ziel verfolgt, den Bau seines Reiches“ (ebd., 1f.). L. Köhler geht es in seiner Theologie ausschließlich um das Alte Testament, und das Neue Testament tritt ausschließlich marginal unter dem Aspekt der „Abgrenzungen“ (§ 2) in den Blick.

Nicht ganz zu unrecht sieht Jörg Jeremias in diesen neuen Entwürfen die „Geburtsstunde der ‚Theologie des AT’ als selbständige Disziplin“, da hier erstmals seit J. Ph. Gabler wieder „selbstbewußt und frei von der Angst vor Überfremdung mit den Themen der systematischen Theologie“ umgegangen worden sei (Jeremias, 2005, 129). Auf Dauer aber konnten auch die systematischen Entwürfe das Problem einer Theologie des Alten Testaments nicht lösen. Da sie nicht normativ-dogmatisch sein, sondern historisch-deskriptiv bleiben wollten, mussten sie die „theologischen“ Zeugnisse des Alten Testaments entweder einem selbst gewählten System einverleiben oder einem kategorialen Begriff wie dem des „Bundes“ unterordnen. Der Themenbreite des Alten Testaments und der historischen Bedingtheit seiner Schriften konnten die verschiedenen Entwürfe aus dieser Perspektive gar nicht gerecht werden. Das Problem „liegt vielmehr an der grundsätzlichen Schwierigkeit, hermeneutische Schlüssel historisch auszuweisen. Jede Erhebung eines Einzelmotivs zum theologischen Zentrum des Alten Testaments ist hermeneutisch-dogmatischer Natur und keine historische Unternehmung.“ (Gertz, 2006, 514).

2.4. Gerhard von Rad

Die Geschichte der Disziplin mit Gerhard von Rad (1901-1971; → von Rad) enden zu lassen, hat wenigstens zwei Gründe. Zum einem ist seine „Theologie“ eines der bedeutendsten Werke unter den alttestamentlichen Theologien des letzten Jahrhunderts. Zum anderen hat er, ohne das im Grunde genommen unlösbare Problem zwischen Theologie und Geschichte, historischer und theologischer Fragegestellung gelöst zu haben, einen Entwurf vorgelegt, in dem er die beiden Bereiche hermeneutisch so verknüpft hat, dass die von ihm erhobenen theologischen Aussagen des Alten Testaments narrativ vergegenwärtigt und für den Diskurs mit anderen Disziplinen der Theologie nutzbar gemacht werden konnten. Er leistet damit einen ähnlichen Spagat wie schon W.M.L. de Wette zu Beginn des 19. Jh.s (s.o. 2.2.). Auch wenn man ihm vorgeworfen hat, das Genre einer Theologie verfehlt (Schmid, 2013, 49) und statt dieser eine „Einleitung“ geschrieben zu haben (Keller, 1958, 308), so hat doch kaum ein Werk vor ihm und schon gar keins nach ihm im deutschsprachigen Raum eine vergleichbare Wirkung in Theologie und Kirche erzielt. Der erste Band mit dem Untertitel „Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen“ erschien 1957 (10. Aufl. 1992), der zweite Band mit dem Untertitel „Die Theologie der prophetischen Überlieferungen“ 1960 (9. Aufl. 1987). Dem zweiten Band hat er einen eigenen Abschnitt über das Verhältnis von Altem und Neuem Testament angefügt, der in seiner Gliederung (A. Die Vergegenwärtigung des Alten Testaments im Neuen; B. Das alttestamentliche Verständnis von der Welt und vom Menschen und der Christusglaube; C. Das alttestamentliche Heilsgeschehen im Lichte der neutestamentlichen Erfüllung; D. Das Gesetz) sowohl den Abstand als auch die Beziehung der beiden Testamente im Blick hat.

G. von Rads Neuansatz ist nur vor dem Hintergrund der Gattungs- (→ H. Gunkel) und Überlieferungsgeschichte (→ M. Noth) zu verstehen (→ historisch-kritische Bibelauslegung). Die Gattungsforschung lehrte ihn, dass die Texte des Alten Testaments nicht zeitlos in den Raum gesprochen, sondern Zeitzeugnisse waren, die einen Sitz im Leben hatten mit Verfassern und Adressaten. Dabei erkannte von Rad, dass die Überlieferungen und Sagen des Alten Testaments (vor allem im Hexateuch) eine spezifische Tendenz und Intention im Zusammenhang übergreifender Bekenntnisse und Kultgestaltungen besaßen. Während H. Gunkel noch an den archaischen Urformen interessiert war, wollte G. von Rad wissen, wie und warum diese Überlieferungen aufbewahrt wurden und welchen Sinn ihre geschichtlichen Veränderungen hatten. Von hier aus begreift er, dass die alttestamentlichen Überlieferungen Credenda, verkündigende Erzählungen, sind, die in immer neuer Weise Gottes Heilshandeln reflektieren (vgl. Kraus, 1970, 134f.). So schreibt er: „Der Gegenstand, um den sich der Theologe bemüht, ist ja nicht die geistig-religiöse Welt Israels und seine seelische Verfassung im allgemeinen, auch nicht seine Glaubenswelt, welches alles nur auf dem Weg von Rückschlüssen aus seinen Dokumenten erhoben werden kann“ (Rad, 1969, Bd. 1, 117f.). Dies ist und bleibt der Bereich der religionsgeschichtlichen Fragestellung. Der Gegenstand der Theologie besteht allein in dem, „was Israel selbst von Jahwe direkt ausgesagt hat“ (ebd., 118).

Das Alte Testament bringt wohl auch Israel zur Sprache, aber in Wahrheit intendiert es, Gottes Wort zur Sprache zu bringen. „Der Theologe muss sich vor allem unmittelbar mit den Zeugnissen beschäftigen, also mit dem, was Israel selbst von Jahwe bekannt hat, und ohne Frage muss er es weithin erst wieder lernen, von Dokument zu Dokument genauer als bisher nach den jeweiligen kerygmatischen Intentionen zu fragen“ (ebd.).

Das neue und entscheidende Stichwort heißt Kerygma (Botschaft). Dieser Begriff, wie er in der Exegese der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts gebraucht wird, scheint vielfach nur ein anderes Wort für Theologie zu sein (vgl. Wolff, 1963). Dennoch ist Kerygma zu einem eminent hermeneutischen Begriff geworden und in der Theologie vor allem durch Rudolph Bultmann (1884-1976; → Bultmann) geprägt. Es geht um Auslegung als verstehende (existentiale) Interpretation, die R. Bultmann in dem Satz zusammenfasst: „Voraussetzung jeder verstehenden Interpretation ist das vorgängige Lebensverhältnis zur Sache, die im Text direkt oder indirekt zu Worte kommt und die das Woraufhin der Befragung leitet. Ohne ein solches Lebensverhältnis, in dem Text und Interpret verbunden sind, ist ein Befragen und Verstehen nicht möglich, ein Befragen auch gar nicht motiviert“. Damit ist aber auch zugleich gesagt, dass jede Interpretation ein bestimmtes Vorverständnis voraussetzt. „Aus dem Sachinteresse erwächst die Art der Fragestellung, das Woraufhin der Befragung, und damit das jeweilige hermeneutische Prinzip“. Vollgültig wird die Interpretation aber erst dann, wenn sich „das Interesse an der Geschichte als der Lebenssphäre“ entzündet, denn die Geschichte ist der Raum, in dem „menschliches Dasein sich bewegt“ (1972, 272f.). Die Tatsache, dass jeder in einer Geschichte steht, verbindet den Text und den Interpreten. Neben R. Bultmann dürfte auch die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers G. von Rad beeinflusst haben, wie Manfred Oeming in einer gründlichen Untersuchung aufgezeigt hat (Oeming, 2001, 41-243, bes. 71-73; vgl. auch Rad, 1969, Bd. 1, 12). Für beide ist die Leistungsfähigkeit der historisch-kritischen Textauslegung insofern begrenzt, als diese nie den Gesamtsinn eines Textes zu erfassen vermag. Dieser wird vielmehr mitbestimmt durch die je eigenen Voraussetzungen und Interessen des Interpreten, die wiederum gar nicht losgelöst werden können von der Wirkungsgeschichte und den Traditionen eines Textes, ohne die er für die Gegenwart belanglos bleiben würde.

Die Überlieferungsgeschichte, insbesondere die der prophetischen Bücher, lehrt von Rad, dass sich das Alte Testament nicht anders lesen lässt „als das Buch einer ständig wachsenden Erwartung“, die in der Geschichte allerdings nie eingelöst worden ist, sondern „die Geschichte des Jahweglaubens charakterisiert durch immer neue Zäsuren, durch immer neue Einbrüche von göttlichen Setzungen, durch Neubeginne, die in traditionsgeschichtlicher Hinsicht neue Perioden einleiten“ (Rad, 1987, Bd. 2, 339-341). Dennoch hat Israel im Laufe seiner Geschichte nicht pausenlos neue Traditionen geschaffen. Vielmehr hält es an den alten Traditionen fest, aktualisiert sie aber im Lichte neuer Heilssetzungen ständig anders und neu. Anhand der Verkündigung der Propheten verdeutlicht er, welche Natur diesen Prozessen zueigen ist. Es handelt sich um einen charismatisch-eklektischen Vorgang. Charismatisch ist dieser insofern, als sich die Propheten keineswegs „bei dieser Vergegenwärtigung des Alten irgendeiner Methode bedient hätten“, sondern sie zeigen sehr wohl auch eine große Freiheit im Umgang mit den Deutungen. Eklektisch ist der Vorgang insofern, als das wirklich Alte und Überholte von den Propheten mit Stillschweigen übergangen und so abgestoßen wird (ebd., 345). Dabei handelt es sich um einen kontinuierlichen Filterprozess, der alte Traditionen im Horizont neuer Geschichtsereignisse weiter interpretiert und adaptiert; dagegen aber das wahrhaft Veraltete und Entwertete abstößt und im Stillschweigen begräbt. Die Geschichte wird so zu einem Prozess hermeneutischer Umschläge und kritischen Filterns.

Von Rad hat den großen Versuch unternommen, das Problem der alttestamentlichen Theologie hermeneutisch zu lösen. Die Botschaft des Alten Testaments ist nicht christlich-dogmatisch umzusprechen oder zu interpretieren. Die Botschaft des Alten Testaments ist nachzuerzählen, denn das Kerygma ist in ihr selbst enthalten. Transponenten des Kerygmas sind Sprache und Geschichte. Die Hermeneutik besteht darin, die Sprache der Geschichte nachsprechend zu verstehen und dabei die Geschichte als das verbindende Medium von einst und jetzt zu begreifen.

Es hat große Auseinandersetzungen um die Theologie G. von Rads gegeben. Der Hauptvorwurf ist der gleiche, der auch gegen H.-G. Gadamers Geschichtshermeneutik erhoben wurde: Kritik an der Geschichte als hermeneutische Basis (vgl. Oeming, 2001, 87-106). Geschichte ist ja kein einheitlicher und sich gleichmäßig vollziehender Vorgang. Nicht alle Geschichte ist Heilsgeschichte und nicht jeder geschichtliche Vorgang trägt Verheißungen in sich. Kann man beim Alten Testament wirklich von einer bis „ins Ungeheuere anwachsenden Erwartung“ sprechen? Denn gerade in der Spätzeit des Alten Testaments gibt es neben und gegen die in der Tat ins Ungeheuere anwachsende Erwartung eschatologisch-frühapokalyptischer Kreise eine mindestens ebenso stark im Kanon vertretene theokratische Strömung (vgl. Plöger, 1959). Es ist die „Janusköpfigkeit“ seines Geschichtsbildes, „dem der modern-kritischen Wissenschaft und dem, das der Glaube Israels erstellt hat“ (Rad, 1969, Bd. 1, 119), die ihm immer wieder vorgeworfen worden ist (F. Baumgärtel; W. Eichrodt; W. Zimmerli; F. Hesse). Bei aller berechtigten Kritik kann allerdings nicht übersehen werden, dass gerade in diesem doppelten Geschichtsverständnis die Größe und Stärke der Theologie G. von Rads liegt, indem „er versucht, das Alte Testament als historisches Dokument mit allen Mitteln der wissenschaftlichen Exegese zur Sprache kommen zu lassen, und zugleich versucht, das Alte Testament als Buch der Kirche zu erweisen und festzuhalten“ (Oeming, 2001, 103f.).

3. Neuere Entwürfe

3.1. Problemstellung

Das Problem, das sich seit der Aufklärung in der Unterscheidung zwischen einer „wahren“ und einer „reinen“ Theologie gestellt und das O. Eißfeldt in der Unterscheidung zwischen Geschichte als dem Gegenstand des Erkennens und Offenbarung als dem Bereich des Glaubens überführt hatte, konnte von Rad mit seinem geschichtshermeneutischen Ansatz in gewisser Weise für sich selbst lösen, aber nicht für die alttestamentliche Wissenschaft insgesamt.

Eine allseitig überzeugende Lösung des Problems ist schon auf Grund der eingangs (s.o. 1.) beschriebenen Aporie auch gar nicht denkbar. Entsprechend stehen alle neueren Entwürfe einer Theologie des Alten Testaments vor der Frage, ob sich diese entsprechend dem exegetisch-methodischen Rüstzeug ausschließlich auf die historisch-deskriptive Betrachtung beschränken oder nicht doch einen systematisch-normativen Ansatz zu wagen habe. Die Antworten darauf sind so vielfältig wie die Theologien und Aufsätze bzw. Studien zur Theologie des Alten Testaments, die im letzten halben Jahrhundert verfasst worden sind.

Diese insgesamt in gebotener Kürze darzustellen ist ebenso schwierig wie sie in Gruppen zu gliedern. Zunächst ist festzustellen, „daß v. Rads Theologie […] keine Nachfolger gefunden hat und die Diskussion ab den 80er, spätestens aber ab den 90er Jahren relativ schnell über ihn hinweggegangen ist“ (Jeremias, 2005, 131). Die einzige Ausnahme, die Jeremias in diesem Zusammenhang vermerkt, ist die im deutschen Sprachraum kaum wahrgenommene Theologie von Samuel Terrien („The Elusive Presence: Towards a New Biblical Theology“, 1978). Er verweist darüber hinaus (ebd.) auf Hermann Spieckermann, der in seinem Artikel zur alttestamentlichen Theologie in der Theologischen Realenzyklopädie (2002) für den Aufbau einer solchen dem traditionsgeschichtlichen Ansatz von G. von Rad insofern nahe steht, als er diesen gliedert in: „1. Theologie der Heilsgeschichte“, „2. Theologie der Prophetie“, „3. Theologie der Heilsgegenwart“, „4. Theologie der Weisheit“ und „5. Theologie der Apokalyptik“. In der Nachfolge G. von Rads sieht sich selbst Rolf Rendtorff, dessen zweibändiges Werk („Band 1: Kanonische Grundlegung“, 1999; „Band 2: Thematische Entfaltung, 2001) allerdings außer dem narrativen Ansatz mit der Theologie G. von Rads wenig zu tun hat.

Neben der Frage einer historisch-deskriptiven oder systematisch-normativen Darstellung sind es im Grund drei Problemkreise, in denen sich die neueren Entwürfe bewegen: 1. Das Problem der „Mitte“ des Alten Testaments, 2. das Problem des „Kanons“ und 3. das wieder neu aufbrechende Problem einer Religionsgeschichte an Stelle einer Theologie des Alten Testaments.

3.2. Die „Mitte“ des Alten Testamens

G. von Rad hatte noch darauf bestanden, dass das Alte Testament im Gegensatz zum Neuen keine „Mitte“ besitzt, in der die verschiedenen Überlieferungen zusammengehalten und von der aus diese theologisch gedeutet werden könnten (1987, Bd. 2, 386). Walther Zimmerli (1907-1983; → Zimmerli) hat dem vehement widersprochen, da seiner Überzeugung nach alle Aussagen des Alten Testaments „im Lichtkegel des einen Gottes, der sich Israel in seinem Namen Jahwe offenbar gemacht hat“ gebündelt und auszulegen sind (Zimmerli, 1980, 445). Er konnte sich dabei auf die gründliche Studie von Rudolf Smend, „Die Mitte des Alten Testaments“ (1970) stützen. Dieser hatte die sog. „Bundesformel“ („Jahwe der Gott Israels und Israel das Volk Jahwes“) als eine solche bestimmt und konnte dafür nicht nur auf J. Wellhausen und B. Duhm, sondern auch auf ältere Theologien des Alten Testaments verweisen, die das Problem einer inneralttestamentlichen Systematik unter Begriffen wie „Grundgedanke“, „Grundprinzip“, „Grundidee“ u.ä. längst reflektiert hatten. W. Zimmerli fokussiert diesen Ansatz dann auf die Offenbarung des Jahwenamens im Exodusgeschehen (Ex 3,14). Dabei ist die im „Namen“ gebotene Mitte keinesfalls statisch, vielmehr zeigt die gesamte Pentateuchüberlieferung wie auch die der Prophetie und Weisheit, dass „der im Namen Jahwe Angerufene […] immer wieder der Freie (ist), der alle ‚Gottesbilder’, in die die Menschen ihn bannen wollen, zerschlägt“ (Zimmerli, 1975a, 11). Ausgehend von dieser „Grundlegung“, in der die verschiedenen Gottesvorstellungen behandelt werden, gliedert er seine bewusst als „Grundriß“ bezeichnete Theologie in weitere vier Abschnitte über „Jahwes Gabe“, „Jahwes Gebot“, „Das Leben vor Gott“ und „Krise und Hoffnung“.

Die Versuche, den Gott Israels, seine „Selbstoffenbarung“ (H. Reventlow, G.F. Hasel) oder die „Selbstoffenbarung seines Namens“ (Zimmerli) als Mitte des Alten Testaments zu bestimmen, können sicher als der weiteste und allgemeinste Nenner angesehen werden. Die Frage aber bleibt, welcher Zusammenhang und welche theologische Grundstruktur sich von hieraus für die Schriften und die Überlieferungen des Alten Testaments ableiten lässt.

Schon Siegfried Wagner (1930-2000) hat darauf hingewiesen, dass die Rede von Gott (Theo-logie) in Form des genitivus objectivus und subjectivus stets doppelt zu bestimmen ist. „Reden von Gott ist … mehr als Rezitation, mehr als Nacherzählung oder Imitation. Reden von Gott, das ist auch das Lob Gottes, das Bekenntnis, das Nachdenken über Gott, das Leiden an Gott und seiner Welt, die Skepsis, das Mißtrauen und der Fluch, der Gott entgegengeschleudert wird, das ist die bewußte Zuwendung zu und die bewußte Abwendung von Gott, die proclamatio und die traditio, und auch die contradictio. Aber auch im Funktionsbereich des genitivus subjectivus muß die Horizontweite in das Bewußtsein gerückt werden. Rede Gottes ist nicht nur das verständliche und das klare, Heil setzende Wort Gottes, Rede Gottes ist auch das dunkle und unbegreifliche Sprechen, Tun und Handeln Gottes in Natur und Geschichte, im kollektiven und individuellen Schicksal, Gottesrede ist auch das schöpferische und erhaltende, das richtende und begnadende Wort. Theologie hat es zu tun mit dem Zuspruch und dem Anspruch Gottes und mit dem Anspruch und dem Zuspruch des Menschen! Das ist der Gegenstand einer Theologie des Alten Testaments, aufgrund der alttestamentlichen Zeugnisse zu sagen, was Gott sagt, was man von Gott sagt, was man zu Gott sagt und was man als von Gott gesagt sagt“ (Wagner, 1996, 41). Damit ist in der Tat alles gesagt, was das Alte Testament von und über Gott aussagt, aber irgendeine Systematik ist damit noch nicht verbunden.

Gerade weil die reflektierte Rede vom „Bund“ Gottes mit Israel und vom „Namen Gottes“ im Deuteronomium und der auf diesem Buch basierenden „deuteronomistischen Theologie“ (→ Deuteronomismus) seinen eigentlichen Ort besitzt, fehlt es auch nicht an Vorschlägen, die dieses Buch (S. Herrmann, 1971) oder die Tora zur „Mitte“ des Alten Testaments erklären (Kaiser, 1993, Bd. 1, 329-353).

Die Schwierigkeiten, ein einzelnes der alttestamentlichen Bücher zur „Mitte“ zu erklären, selbst wenn es wie das → Deuteronomium nachweisliche Auswirkungen auf den Pentateuch (Tora), das sog. „deuteronomistische Geschichtswerk“ und einige Prophetische Bücher (vorab → Jeremia) gehabt hat, sind nicht zu übersehen. Der „Deuteronomismus“ umfasst weder das gesamte Alte Testament, noch besteht in der alttestamentlichen Wissenschaft ein hinreichender Konsens über die Entstehung und Entwicklung dieser gewiss wichtigen theologischen Richtung. Dass die „Mitte“ des Alten Testaments nur schwer von bestimmten Begriffen oder von einem einzigen Buche her definiert werden kann, sondern sich besser von Polen aus bestimmen lässt, ist die Überzeugung von Georg Fohrer (1915-2002). Es selbst sieht diese in dem Gegenüber und „Miteinander von Gottesherrschaft und Gottesgemeinschaft“ (1972, 95-109). In anderer Weise versucht Claus Westermann (1909-2000) das Problem zu lösen. Wie G. Fohrer geht er davon aus, dass sich das Alte Testament kaum unter einem nominalen Begriff wie Bund, Erwählung, Offenbarung, Gerechtigkeit etc. zusammenhalten lässt. Schon weil die Sprache des Alten Testaments „überwiegend verbal ist“ und die verschiedenen Teile des Kanons ganz eigene „Mitten“ aufweisen, sieht er den Zusammenhang in einer Geschehensstruktur der alttestamentlichen Rede von Gott. „Das Einssein Gottes bedingt die Einheit und damit die Kontinuität der Geschichte zwischen Gott und seinem Volk“, die im Alten Testament unter der Relation vom „Wort Gottes“ und der „Antwort des Menschen“ zur Sprache kommt (Westermann, 1985, 11-27). In ähnlicher Weise, wenn auch etwas umständlich, bestimmt dann Horst Dietrich Preuß (1927-1993) für seine Theologie des Alten Testaments die „Mitte“, wenn er in seiner Einleitung schlussfolgert:

„So soll ‚JHWHs erwählendes Geschichtshandeln an Israel zur Gemeinschaft mit seiner Welt’, das zugleich ein dieses Volk (und die Völker) verpflichtendes Handeln ist, als Mitte des AT, damit als Grundstruktur atl. Glaubens, um die sich die folgende Darstellung zu gliedern versucht, bestimmt werden“ (1991, Bd. 1, 29).

Die Frage nach einer „Mitte“ des Alten Testaments wird weiter gestellt werden, auch wenn sich in der Diskussion kaum eine allseits überzeugende Lösung des Problems abzuzeichnen scheint. Wahrscheinlich wäre es sinnvoller, den Begriff der „Mitte“ durch den des „perspektivischen Fluchtpunktes“ (Zimmerli, 1975b, 117) zu ersetzen und an Stelle des Singulars den Plural zu verwenden. Eine alttestamentliche Theologie kann jedenfalls nicht auf „die Frage nach dem inneren Zusammenhang des Alten Testaments, d.h. nach der gedanklichen Strukturierung seines Wissens von Gott, Mensch und Welt“ (Janowski, 2005, 102), verzichten, wenn sie auch heute noch von theologischer Relevanz sein soll.

3.3. Das Problem des Kanons

Die Frage nach einer „Mitte“ des Alten Testaments erübrigt sich allerdings, wenn die im Laufe der Geschichte autorisierten Schriften im Kanon des Alten Testaments nicht als eine mehr zufällig angereihte Sammlung von Büchern verstanden werden, sondern der im Kanon zusammengefasste Gesamtbestand alttestamentlicher Bücher als Rahmen und Richtschnur einer Theologie des Alten Testaments postuliert wird. Die unter dem Namen „canonical approach“ oder „canonical shape“ bekannte Richtung, die ihre Wurzeln in den USA in dem sog. „Biblical Theology Movement“ besitzt (vgl. Reventlow, 1982, 1-10; Schmid, 2013, 44f.), hat in die alttestamentliche Wissenschaft in Deutschland und Westeuropa vor allem durch die Arbeiten von Brevard S. Childs (1923-2007) Eingang gefunden. Die methodischen Grundlagen hat er in seiner Einleitung „The Old Testament as Scripture“ (1979) entwickelt und in „The Old Testament Theology in a Canonical Context“ (1985) ausgeführt. Die These dieser Richtung lautet: „Der Kanon stellt keineswegs bloß eine lose Sammlung verschiedener Literaturwerke dar, sondern ein durchdachtes und wohl durchkomponiertes Ganzes. Dieses übergreifende Ganze des Kanons in seiner Endgestalt muß für die Interpretation aller seiner Teile fruchtbar gemacht werden“ (Oeming, 1988, 241).

Dabei bestreitet B.S. Childs der Exegese nicht das Recht, die alttestamentlichen Texte historisch-kritisch zu untersuchen. Aber für eine Theologie des Alten Testaments besitzt die historische Kritik kaum Bedeutung. Gegenüber der Hypothesenflut der historisch-kritischen Forschung, deren Erkenntnisse in der Wissenschaft nur selten konsensfähig sind, bietet der Kanon eine Einheit, die nicht erst gefunden werden muss, sondern die gesetzt ist. Als „Scripture“ (Heilige Schrift) ist die darin gegebene Einheit für den Theologen verbindlich. Richtig an B.S. Childs’ Sichtweise ist, dass er den Blick von den Einzelüberlieferungen und Einzeltraditionen wieder auf den Gesamtzusammenhang lenkt. Die Schwierigkeiten dieser Richtung beginnen allerdings schon damit, dass B.S. Childs das Problem der Kanongeschichte völlig ausblendet und für seine Theologie den masoretischen Text des Alten Testaments a priori als kanonisch verbindlich voraussetzt. Aber der hebräische Kanon ist nicht der christliche. Selbst das Christentum hat keinen einheitlichen biblischen Kanon. Die Differenzen zwischen den Ostkirchen, der römisch-katholischen Kirche und den aus der Reformation hervorgegangenen protestantischen Kirchen sind erheblich. Hier wird eine „Einheit“ suggeriert, die sich an der Geschichte des Kanons nicht verifizieren lässt. Dies zeigt sich auch an der Theologie des Alten Testaments von Rolf Rendtorff, dem prominentesten Vertreter dieser Richtung in Deutschland. Für ihn stellt die „Bibel“ in ihrer Letztgestalt die „Grundlage“ und „grundlegende Urkunde der jüdischen und christlichen Glaubensgemeinschaften“ dar. Damit wird ausgeblendet, dass das Alte Testament als Hebräische Bibel wenigstens einen doppelten Ausgangspunkt mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Tora versus Prophetie) besitzt, die allerdings im Kanon des Alten Testaments durch den „Propheten“ Mose zusammengehalten werden (Ziemer, 2006). Die Trennung von Juden und Christen vollzog sich jedenfalls nicht nur auf dem Hintergrund von hebräischem und griechischem Kanon, sondern auch durch die frühe Herausbildung einer jeweils verschiedenen zweifachen Grundlegung: Schriftliche und mündliche Tora (Hebräische Bibel und Talmud) versus Altes und Neues Testament (vgl. Rendtorff, 2001, Bd. 2, 301-310). Auch das häufig für die Bedeutung des Kanons beschworene sola scriptura der Reformation ist für die Mehrheit der christlichen Kirchen kein zutreffender Maßstab zur Erfassung ihrer eigentlichen Glaubensgrundlagen. Die Setzung des „Kanons“ als Richtschnur für eine alttestamentliche Theologie löst jedenfalls nicht das Problem, dass sich mit der Aufklärung neben der Frage nach dem biblischen Kanon die nach der Vernunft stellte. Mit der Infragestellung des Inspirationsdogmas (zunächst nur in Teilen der protestantischen Theologie) geht es nicht zuletzt um die Frage, in welcher Weise die Bibel als Gotteswort verstanden werden kann.

Auch wenn der Kanon der alttestamentlichen Schriften sicher in irgendeiner Form den Rahmen für eine Theologie des Alten Testaments absteckt, so bleibt doch die Frage, worin die Einheit oder der Zusammenhang eigentlich bestehen, die durch den Kanon vorgegeben sind. Wenn man nicht „dogmatisch“ davon ausgeht, dass es sich um etwas Vorgegebenes handelt, sondern in Rechnung stellt, dass der Kanon von Menschen gestaltet wurde, dann lässt sich diese Gestalt ohne Kenntnis der Geschichte des Kanons nicht wirklich erfassen.

Einen bewussten Gegenentwurf hierzu bietet die Theologie von Erhard S. Gerstenberger (*1932), der im Titel deshalb auch den Plural verwendet: „Theologien im Alten Testament. Pluralität und Synkretismus alttestamentlichen Gottesglaubens“ (2001). Diese eher sozialgeschichtlich orientierte Religionsgeschichte möchte die Vielfalt der theologischen Zeugnisse im ökumenischen Kontext zur Darstellung bringen. „Die Pluralität und den deutlich erkennbaren Synkretismus der alttestamentlichen Überlieferungen“ hält er deshalb auch „keineswegs für ein Verhängnis, sondern für einen außerordentlichen Glücksfall“ (2001, 9). Von hier aus fragt er zum einen nach dem Kontext, aus dem heraus das Alte Testament heute zu deuten ist, und zum anderen nach dem Stellenwert, den die alttestamentlichen Schriften in der gegenwärtigen theologischen Diskussion beanspruchen können. Dabei wehrt er sich gegen einseitige, den eigenen „Standpunkt“ verabsolutierende Sichtweisen. Exegese und darauf gründende Theologie sind immer „begrenzten, konkreten, kontextuellen Bedingungen unterworfen“, hierin besteht der „Reichtum der ökumenischen christlichen Theologie und des globalen Konzerts aller Religionen“ (ebd., 11). Diese ökumenische Standortbestimmung wie die Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung verbieten es ihm dann, eine Theologie des Alten Testaments ausschließlich als eine am Kanon orientierte Theologie zu entfalten. Das im „canonical approach“ zum Ausdruck kommende „Bedürfnis nach Einheitlichkeit und Verbindlichkeit“ ist seiner Überzeugung nach „ein sehr kurzsichtiges, ungeschichtliches und selbstsüchtiges Prinzip, denn es verdrängt alles, was wir heute über die Entstehung der biblischen Schriften wissen, und will alles, was nicht in unser eigenes, vorher festgelegtes Denk- und Glaubensmuster paßt, von vornherein ausscheiden“ (ebd., 17).

3.4. Theologie oder Religionsgeschichte

Angesichts dieser Sachlage verwundert es nicht, dass die Frage nach einer alttestamentlichen Religionsgeschichte anstelle einer Theologie des Alten Testaments am Ende des letzten Jahrhunderts wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden ist. Provoziert hat diese Rainer Albertz (*1943) mit der These, „daß … in der heutigen Situation die Religionsgeschichte … die sinnvollere zusammenfassende alttestamentliche Disziplin“ darstellt (1992, 37). Er hat damit die Frage nach dem Stellenwert der alttestamentlichen Theologie aufgeworfen und der Religionsgeschichte praktisch den Platz zugewiesen, den diese bisher für sich beansprucht hat.

Zu Recht betont R. Albertz, dass „sich … die beiden Disziplinen ‚Religionsgeschichte Israels’ und ‚Theologie des Alten Testaments’ gegenüber der Frontstellung der zwanziger Jahre deutlich angenähert haben“ (ebd., 36). Deshalb stellt sich für ihn die Frage, was beide Disziplinen letztlich voneinander unterscheidet. Diese ist in der Tat entscheidend: Lässt sich im Bereich der historisch-kritischen Forschung eine theologische Fragestellung von der religionsgeschichtlichen in der Weise trennen, dass das Verhältnis der beiden Disziplinen nicht unter der Scheinalternative von zwei Chimären, von subjektivem und objektivem Textverständnis, und daraus folgernd von theologisch begründetem Glauben und historischem Wissen zur Sprache kommt? Besteht die Möglichkeit, dass beide Disziplinen auf der Grundlage des gleichen methodischen Instrumentariums die alttestamentlichen Aussagen in je eigener, nämlich in ihrer religionsgeschichtlichen und theologischen Dimension, zum Ausdruck bringen? Die Fragen sind nicht leicht zu beantworten, wie die nachfolgende Diskussion um R. Albertz’ religionsgeschichtlichen Ansatz belegt. Das „Jahrbuch für Biblische Theologie“ (Janowski / Zenger, 1995) hat dieser Diskussion einen ganzen Band gewidmet, und auch die Festschrift für Siegfried Wagner „Von Gott reden“ (Vieweger / Waschke, 1995) wird mit mehren Beiträgen zu diesem Thema eröffnet. Während eine Minderheit (T.L. Thompson und N.P. Lemche) das Unternehmen einer Theologie des Alten Testaments grundsätzlich ablehnt, plädiert die Mehrheit dafür, in dieser Fragestellung keine die eine oder andere Disziplin ausschließende Alternative zu sehen, sondern eher die Notwendigkeit beider Disziplinen für die alttestamentliche Wissenschaft zu erkennen. Hans-Jürgen Hermisson hat deren inneren Zusammenhang mit der Formel bestimmt: „Religion ist gelebte Theologie und Theologie je und je definierte Religion“ (2000, 60). In ähnlicher Weise beschreibt James Barr dieses Verhältnis: „The relation between biblical theology and the history of religion is and should be one of overlap and mutual enrichment. And the ultimate reason for this is that the stuff of which biblical theology is built is really biblical religion” (1999, 135).

Die Frage nach der Unterscheidung und dem Zusammenhang könnte erst dann eine befriedigende Antwort finden, wenn die Aufgaben und Grenzen beider Disziplinen genauer definiert sind.

Eine Religionsgeschichte Israels lässt sich kaum allein auf der Grundlage der alttestamentlichen Texte, ja nicht einmal unter dem Vorrang der Text-Überlieferungen, verfassen. Da R. Albertz diese zur Grundlage seiner Religionsgeschichte erklärt, wurde ihm kaum zu Unrecht der Vorwurf gemacht, er habe „eher eine Theologie- und Sozialgeschichte der alttestamentlichen Texte und ihrer Produzenten bzw. Tradenten als eine Religionsgeschichte Palästinas / Israels“ verfasst (Janowski, 2005, 104f.). Eine Religionsgeschichte im engeren Sinne hat in den Texten des Alten Testaments keine „Primärquelle“ und kann schon deshalb auf die Ergebnisse der Archäologie und auf den Vergleich mit der altorientalischen Religionsgeschichte gar nicht verzichten. Sie hat nicht nur das im Alten Testament an Texten Vorgegebene zu interpretieren, sondern in einem hohen Maße die religionsgeschichtlichen Hintergründe der Texte zu rekonstruieren.

Eine Theologie des Alten Testaments hat sich demgegenüber ausschließlich an den Texten des Alten Testaments als ihrer „Primärquelle“ und deren Geschichte zu orientieren. Sie ist dabei durchaus auf die Ergebnisse der religionsgeschichtlichen Forschung angewiesen, weil durch sie wesentliche theologische Entwicklungen, Strukturen und Entscheidungen aufgezeigt werden können, die auf der überlieferungsgeschichtlichen Ebene die alttestamentlichen Texte bis hin zu ihrer Schlussredaktion in verschiedener Weise geprägt bzw. umgeprägt oder auf der traditionsgeschichtlichen Ebene bestimmten Begriffen und Themen einen Vorrang vor anderen eingeräumt haben.

Der Unterschied zwischen beiden wäre dann darin angezeigt, dass die Aufgabe der Religionsgeschichte stärker unter überlieferungsgeschichtlicher und religionsphänomenologischer und die der alttestamentlichen Theologie stärker unter redaktionsgeschichtlicher Ausrichtung zu leisten ist. Die Religionsgeschichte hätte dabei vor allem den geschichtlichen Kontext der alttestamentlichen Überlieferungen und die hinter ihnen weithin verborgenen religionsgeschichtlichen Hintergründe zu erhellen. Im Aufweis jener Entwicklungen, Strukturen und Entscheidungen, die das Alte Testament theologisch geprägt haben, würde sie der alttestamentlichen Theologie eine wesentliche Vorarbeit leisten.

Die Theologie des Alten Testaments hätte demgegenüber die alttestamentlichen Überlieferungen in ihrem redaktionellen Kontext zu erfassen, soweit sie für die Komposition und Konzeption alttestamentlicher Texte und Schriften theologisch relevant geworden sind. Die Religionsgeschichte fände ihren Sinn und ihren Zusammenhalt in dem Nachvollzug der Geschichte und ihrer verschiedenen Perioden. Die Theologie fände ihren Sinn in dem Nachvollzug des Zusammenhalts der verschiedenen Überlieferungen in den theologischen Redaktionen des Alten Testaments.

4. Ausblick

Die alttestamentliche Wissenschaft als Teil der christlichen Theologie wird auf eine Disziplin wie die „Theologie des Alten Testaments“ nicht verzichten können, wenn sie nicht den Diskurs mit den anderen theologischen Fächern aufgeben will. Da der Begriff „Theologie“ aber kein Begriff des Alten Testaments ist, sondern von außen an die Schriften des Alten Testaments herangetragen wird, lassen sich auch nicht allgemein gültige Kriterien für diese Disziplin erstellen. Die Spannung, die in den Unterscheidungen von „wahrer und reiner Theologie“, von „Geschichte“ und „Offenbarung“, von historisch-deskriptiver und theologisch-normativer Darstellung im Laufe der Geschichte immer wieder zu Tage getreten ist, wird sich von daher nicht auflösen lassen. So werden auch weiterhin „Theologien des Alten Testaments“ aus sehr verschiedener Sicht geschrieben, die dann von den Rezensenten ihrer Gattung nach eher als „Religionsgeschichten“, „Einleitungen“ oder „Sozialgeschichten“ beurteilt werden. Das einzige, was mit Sicherheit aus der gegenwärtigen Diskussion um eine Theologie des Alten Testaments gesagt werden kann, ist: „Das Alte Testament enthält zwar keine Theologie, es enthält aber gleichzeitig auch nicht einfach keine Theologie“ (Schmid, 2013, 53). Konrad Schmid, der zu Recht auf diese Spannung verweist, sucht diese durch die „Unterscheidung von impliziter und expliziter Theologie“ zu lösen. Diese Unterscheidung ist ihm in dem doppelten Verständnis des Begriffs „Theo-logie“ als genitivus subjectivus und genitivus objectivus vorgegeben. Während es sich nach dem Verständnis im Sinne des genitivus subjectivus um jene Theologie handelt, die im Alten Testament selbst implizit enthalten ist, geht es bei dem Verständnis im Sinne des genitivus objectivus um die Explikation einer Theologie, die von außen an das Alte Testament gestellt wird. Dies ist keineswegs illegitim. „Auch eine Grammatik der hebräischen Sprache wird nicht von dieser selbst, sondern von aussen her entwickelt, stellt aber selbstredend ein legitimes wissenschaftliches Unterfangen dar“ (ebd., 55). Allerdings sind dann die Prämissen klar zu benennen, von denen aus explizit „nach einer Theologie des Alten Testaments gefragt wird“ (ebd.).

Diese Unterscheidung ist insofern sinnvoll, als sie die beiden Aufgaben einer alttestamentlichen Theologie klar umreißt.

Eine implizite Theologie hätte die Aufgabe, die im Alten Testament selbst zu findenden „Theologisierungsprozesse“ der Überlieferungen und Traditionen historisch-deskriptiv zur Darstellung zu bringen. Hier scheint sich insofern ein Konsens abzuzeichnen, als diese Prozesse heute vor allem in den Redaktionen gesehen werden, auf Grund deren die alttestamentlichen Schriften überhaupt überliefert und kanonisiert worden sind. Dabei kann von der ziemlich sicheren Prämisse ausgegangen werden, dass sämtliche Überlieferungen des Alten Testaments in exilisch-nachexilischer Zeit entweder redigiert oder mit der Absicht neu verfasst worden sind, dem Judentum in der Heimat wie in der Diaspora Zeugnis und Weisung zu sein. Den Kontext einer an Redaktionen ausgerichteten alttestamentlichen Theologie bildet deshalb der Kanon, allerdings nur als formaler Rahmen, innerhalb dessen die verschiedenen alttestamentlichen Überlieferungen und theologischen Richtungen auf der Grundlage sehr unterschiedlicher Kriterien einen Zusammenhang gefunden haben; er bietet keineswegs den Ausweis für die theologische Einheit des Alten Testaments. Deshalb ist auch die Frage nach einer oder nach der Mitte des Alten Testaments nicht nur schwer zu beantworten, sondern eigentlich ausgeschlossen. Mit ihr verbindet sich notwendigerweise die Frage nach der Ausgrenzung bestimmter Teile des Alten Testaments bzw. die nach einem Kanon im Kanon. Sinnvoller scheint es deshalb, nach jenen Bezugsgrößen zu fragen, denen das Alte Testament seinen Zusammenhang verdankt. Hierbei bilden Jhwh einerseits und Israel andererseits den äußeren Rahmen, deren Verhältnis im Inneren durch die Tora bestimmt ist. Während sich der äußere Bezugsrahmen selbstredend daraus ergibt, dass sämtliche Traditionen und Überlieferungen unabhängig von ihrem Alter und ihrer Herkunft im Alten Testament auf Jhwh, den Gott Israels, und auf das von ihm erwählte Volk bezogen worden sind, kommt der Tora wie keinem anderen Teil des Alten Testaments eine den Kanon selbst gestaltende theologische Kraft zu, wie O. Kaiser nachdrücklich herausgestellt hat. Als Jhwhs verpflichtende Weisung an Israel sind der Tora „durch dtr und nachdtr Redaktoren … auch die Vorderen und Hinteren Propheten … explizit als konkrete Auslegung ihrer Segensankündigung und ihrer Fluchandrohung zugeordnet“ (1993, Bd. 1, 329). Unterhalb dieser Bezugsgrößen lassen sich problemlos alle theologischen Leitmotive und zentralen Begriffe einordnen, die bei der Frage um die Mitte des Alten Testaments eine Rolle gespielt haben oder spielen könnten: Der Bund, die Erwählung, das erste Gebot, der offenbare Gottesname, die Geschichte unter dem Aspekt von Heil und Unheil, die Schöpfungsordnung und die weisheitliche Weltsicht. Aber schon auf den ersten Blick wird hier sehr schnell deutlich, dass damit alttestamentlich zentrale Themen genannt sind, denen sich nicht das Alte Testament als Ganzes, sondern immer nur Teile und bestimmte Überlieferungen zuordnen lassen. An A.H.J. Gunnewegs Einsicht, dass die Vielgestaltigkeit des Alten Testaments „sich nicht auf einen Nenner bringen und nicht mit Hilfe eines hermeneutischen Generalbegriffs bewältigen läßt“ (1977, 184), führt jedenfalls kein Weg vorbei.

Eine an den Fortschreibungen und Redaktionen des Alten Testaments ausgerichtete Theologie könnte demgegenüber einen Rahmen finden, innerhalb dessen die Vielgestaltigkeit des Alten Testaments nicht unter abstrakten theologischen Begriffen nivelliert wird, sondern innerhalb im Alten Testament selbst vorgegebener theologischer Leitlinien zur Darstellung gelangt. Die neueren Untersuchungen zur Komposition und Redaktion sowohl zum Pentateuch als auch zum deuteronomistischen Geschichtswerk, zu den Propheten und Schriften haben in höchst unterschiedlicher, teilweise auch noch sich widersprechender, aber insgesamt doch in sehr weitreichender Weise kompositorische Elemente und deren theologische Leitlinien aufzeigen können, die für die Redaktionen einzelner Schriften und Teile des Kanons maßgebend geworden sind. Wählt man sie als Grundlage einer alttestamentlichen Theologie, dann führt dies nicht zu einer der christlichen Dogmatik vergleichbaren Systematik, die dem Alten Testament ohnehin völlig unangemessen wäre. Eine so zur Darstellung gebrachte Theologie des Alten Testaments, die allein Aufgabe der alttestamentlichen Wissenschaft sein kann, wäre historisch betrachtet keinesfalls eine „Religionsgeschichte“, sondern eher eine „Theologiegeschichte“ des frühen Judentums in persischer und hellenistischer Zeit.

Sie bildet zugleich die Grundlage für eine explizite Theologie des Alten Testaments. Als Teilgebiet der christlichen Theologie kann die alttestamentliche Wissenschaft auf die Explikation ihrer implizit gewonnen theologischen Ergebnisse gar nicht verzichten. „Denn als eine christlich-theologische Disziplin steht sie zugleich vor der Aufgabe, das Verhältnis zwischen der klar entwickelten Vorstellung von dem Gott des Alten Testaments mit der von dem Gott des Neuen als dem Vater Jesu Christi so zu bestimmen, daß es einsichtig wird, inwiefern dieses Buch mit seinem dem Volk Israel geltenden Gottesbezeugungen nicht nur den Juden, sondern auch den Christen und zwar als Menschen von heute mitten in der geistigen Krise seiner Welt angeht“ (Kaiser, 1993, Bd. 1, 21). Diese Aufgabe kann die alttestamentliche Wissenschaft nur im Gesamtkontext der christlichen Theologie leisten. Ohne das Ringen und den Streit mit den für den christlichen Glauben bestimmenden theologischen Disziplinen wird das Alte Testament keine wirkliche Relevanz in Theologie und Kirche gewinnen. Natürlich müssen hierfür die theologischen Prämissen offen gelegt werden, weil sonst nicht klar ist, von welchem Standpunkt aus man um das Alte Testament als theologische Disziplin ringt. Für Otto Kaiser als Beispiel sind diese, da evangelische Theologie eine „Theologie des Wortes Gottes“ ist, in dem dreifachen „sola scriptura, sola fide et solus Christus“ der lutherischen Reformation gegeben: „Das erste bindet Theologie und Kirche an die Schrift als ihre Grundlage und Norm. Das zweite sichert die Rechtfertigung des Sünders durch Gott und damit die Tatsache, daß sich der Mensch die Freiheit seines Lebens nicht verdienen kann, sondern sie sich zusagen und schenken lassen muß, wenn er sie bewähren will. … Das dritte solus bindet Glaube und Leben an Jesus Christus als die offenbare oder heimliche Mitte der Schrift. Es hat seinen Realgrund nicht in einer spekulativen Christologie, sondern in der Erfahrung der Rechtfertigung des Sünders durch die Botschaft von Jesu Kreuz und seiner Auferstehung“ (1993, Bd. 1, 75f.). Auch die Unterscheidung zwischen „Gesetz und Evangelium“, „Kern und Schale“ bzw. Kerygma und Paränese, wie sie sich im Lauf der Theologiegeschichte herausgebildet hat, könnte immer noch einen brauchbaren Leitfaden für eine explizite Theologie des Alten Testaments darstellen, wenn diese Unterscheidung gesamtbiblisch gedacht und nicht einfach kategorial der eine Begriff dem Alten und der andere dem Neuen Testament zugeordnet wird. Eine Theologie des Alten Testaments ist im Zusammenhang ihrer impliziten und expliziten Darstellung immer eine christliche Disziplin. Sie wird dadurch, wie Bernd Janowski zu Recht betont, „nicht untauglich für den christlich-jüdischen Dialog“ (2005, 99).

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