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Jerusalem, himmlisches

(erstellt: April 2007)

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1. Einführung

Die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem ist explizit zunächst im Neuen Testament, insbesondere im Galaterbrief (wohl um 55/56 n. Chr. verfasst), der Johannesapokalypse (gegen Ende der Regierung Domitians [81-96 n. Chr.]) und dem Hebräerbrief (Datierung zwischen 64 und 96 n. Chr.) belegt und erscheint später auch im rabbinischen Schrifttum, das in einem längeren Zeitraum nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. entstanden ist. Weitere ältere Überlieferungen aus dem Bereich der Pseudepigraphen (z.T. aus vorchristlicher Zeit, aber auch aus dem 1. Jh. n. Chr.) deuten zumindest implizit auf diese Vorstellung hin und ergänzen das Bild. Insgesamt ist festzustellen, dass das Motiv in der Regel im weitesten Sinne der eschatologischen Vorstellungswelt angehört. Es steht in enger Beziehung zu der Vorstellung einer endzeitlichen Erbauung der Gottesstadt in Glanz und Herrlichkeit, die seit der nachexilischen Zeit eine bedeutende Rolle spielte (vgl. hierzu insbesondere die einschlägigen Belege bei Deuterojesaja, s.a. auch Tob 13 und Tob 14,4-7 [Lutherbibel: Tob 14,6-9]; Sir 36; Sir 51,12 „[nicht in Lutherbibel]“; Bar 5; PsSal 11; SibOr 3; 5,247-268; 5,414-433; zu allen Texten ausführlich die Monographien von Söllner und Müller-Fieberg).

2. Das himmlische Jerusalem im Neuen Testament

2.1. Die Offenbarung des Johannes

Der ausführlichste Beleg für die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem findet sich in der Offenbarung des Johannes. Am Ende seiner Visionen und am Ende der gesamten Schrift sieht der Seher Johannes – nach dem Untergang Babels (Apk 18), dem Tausendjährigen Reich (Apk 20,1-6), dem letzten Kampf gegen den Satan (Apk 20,7-10) und dem Weltgericht (Apk 20,11-15) – „die heilige Stadt, das neue Jerusalem von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann“ (Apk 21,2; zitiert nach der Lutherübersetzung). Wenn die Stadt als „Hütte Gottes bei den Menschen“ bezeichnet wird und Gott, der bei den Menschen wohnen und ihr Gott sein wird (man beachte die Rezeption der sog. Bundesformel, z.B. Ex 6,7; Lev 26,12 und Dtn 26,17-19; Dtn 29,12), „alle Tränen von ihren Augen“ abwischen wird und Tod und Schmerz überwunden sein werden, so wird deutlich, dass diese Stadt die neue Schöpfung Gottes veranschaulicht, in der Not und Leiden der jetzigen Existenz durch die Nähe Gottes endgültig besiegt sein werden.

Die Stadt hat einen quadratischen Grundriss (Apk 21,15f), ihre hohen Mauern, in denen sich zwölf Tore mit Engeln und den Namen der zwölf Stämme Israels befinden (Apk 21,12), bestehen aus Edelsteinen (Apk 21,11.18-21; vgl. Jes 54,11ff). Bezeichnenderweise hat dieses neue Jerusalem keinen Tempel; „denn der Herr, der allmächtige Gott ist ihr Tempel, er und das Lamm“ (Apk 21,22), d.h. Jesus Christus. Diese Gegenwart Gottes und Christi erleuchtet die gesamte Stadt, so dass es nur noch Tag sein wird. Wenn die Stadttore aus diesem Grunde nicht verschlossen werden müssen, so deutet dies auf einen Zustand des Friedens und der Sicherheit hin. Außerdem wird die Stadt Ziel einer großen Völkerwallfahrt sein, durch die Pracht und Reichtum der Völker in sie hineinkommen werden. Alles Unreine sowie alle, die Gräuel und Lüge tun, werden freilich in der Gottesstadt keinen Platz haben. Ein „Strom lebendigen Wassers …, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes“ sowie die „Bäume des Lebens, die tragen zwölfmal Früchte“ und deren Blätter „zur Heilung der Völker dienen“ (Apk 22,1) verweisen zudem auf die Entsprechung zwischen Gottesstadt und Paradies.

Der Text enthält zahlreiche intertextuelle Anspielungen auf die alttestamentliche Paradiesdarstellung (Gen 2f) sowie auf die Schilderung des neuen Tempels bei Ezechiel (Ez 40-48; vgl. hierzu insbesondere Hieke, 2006, 13-15; Müller-Fieberg, 2003, 190ff), so dass insgesamt deutlich wird, dass die Schöpfung in der Endzeit unter einem christologischen Vorzeichen wieder an die Idealität des Anfangs zurückkehrt; es handelt sich somit um eine Art „restaurative Utopie“ (zum Begriff G. Scholem, 1976, 125; zum Text insgesamt s. ausführlich auch Müller-Fieberg, 2003, 38-235).

2.2. Der Hebräerbrief

Während die Johannesapokalypse über die gegenwärtige Existenz Jerusalems keine Angaben macht, weisen verschiedene Aussagen des Hebräerbriefes darauf hin, dass dessen Verfasser von der Präexistenz der Stadt ausging: Die Stadt, auf die bereits → Abraham wartete und die auch das Ziel der anderen Glaubenszeugen ist, ist von Gott bereitet (Hebr 11,16; beachte den Aorist hētoímasen „er hat bereitet“). Im Glauben an Jesus Christus ist es der Gemeinde möglich, bereits jetzt in der Gegenwart der noch unerlösten Welt an diesem Verheißungsgut teilzuhaben. So führt nämlich der Verfasser des Hebräerbriefs aus: „Sondern ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abel“ (Hebr 12,22-24; zum Gegenwartsaspekt s.a. Hengel, 2000, 270).

2.3. Der Galaterbrief

In Gal 4,21-31 steht das Motiv im Kontext einer allegorischen Auslegung, die das Verhältnis zwischen dem gesetzesfrommen Judentum und den Christusgläubigen beschreiben möchte. → Hagar, die Mutter von Abrahams erstgeborenen Sohn → Ismael, wird auf den Bundesschluss am Sinai bezogen, „der zur Knechtschaft gebiert“; sie ist ein „Gleichnis für das jetzige Jerusalem, das mit seinen Kindern in der Knechtschaft lebt“. Damit ist Hagar Symbol für das gegenwärtige Jerusalem.

Dieser Stadt wird „das Jerusalem, das droben ist“, gegenübergestellt. Dieses himmlische Jerusalem wird als die „Freie“ und „unsere Mutter“ bezeichnet, d.h. die Mutter derer, die Kinder der Verheißung sind. Die Frage, wie das Motiv vom „Jerusalem, das oben ist“, konkret verstanden werden muss, war Gegenstand zahlreicher Auslegungen und Interpretationsversuche (s. hierzu die Verweise bei Söllner, 1998, 162f); insgesamt ist wohl auf den freien, durchaus originären Umgang des Paulus mit dem Motiv zu verweisen. Um die Aussage zu verstehen, muss man sich klar machen, dass die Vorstellung von Jerusalem als Mutter bereits in der Tradition vorgegeben ist (s. Jes 54,1f; Jes 66,11; LXX Ps 86,5; zum Ganzen Schwemer, 2000, 203-219). Diese Wendung bringt – ganz allgemein gesprochen – die unmittelbare Zugehörigkeit zur Gottesstadt, die wohl auch Schutz und Sicherheit mit einschließt, zum Ausdruck. Ist das obere Jerusalem nun nach den Ausführungen des Paulus die Mutter der gesetzesfreien Christusgläubigen, so kommt hier – abstrakt gesprochen – die enge Verbindung der Christusgläubigen mit diesem Heilsgut zum Ausdruck sowie die Tatsache, dass diese Christusgläubigen bereits in der Gegenwart daran partizipieren können. Paulus möchte mit diesen Ausführungen im vorliegenden Kontext deutlich machen, dass die unbeschnittenen Galater die wahre Abrahamskindschaft besitzen (s. hierzu auch Gal 3,7). Zugleich unterstreicht er die Bedeutung des gesetzesfreien Evangeliums, wie sie insgesamt in dem Brief thematisiert wird. „Ganzes Gewicht liegt auf der präsentischen Relevanz dieser himmlischen Stadt und nicht auf der eschatologischen Offenbarung. Das obere Jerusalem als »freie Mutter« zu haben und dessen Kinder zu sein, diese Aussagen dienen Paulus als Ausweis dafür, mit dieser lokalen Größe der himmlischen Welt bereits gegenwärtig in Verbindung zu stehen und sie als Garanten für die Richtigkeit der eigenen Position zu besitzen“ (Söllner, 1998, 169). Der Ausdruck „oberes Jerusalem“ in Gal 4,26 „hat daher sowohl eine im höchsten Maße legitimierende Funktion für den paulinischen Standort als auch eine identitätsstiftende für den Status seiner Adressaten“ (Söllner, 1998, 169).

3. Das Motiv des „oberen Jerusalem“ in der rabbinischen Literatur

In der rabbinischen Literatur erscheint das himmlische Jerusalem als integraler Bestandteil des Kosmos, wenn es nach dem Babylonischen Talmud, Traktat Chagiga 12b im Rahmen eines siebengeschossigen Weltgebäudes positioniert wird: „Auf Wohnung (hebr. זבול), d.h. im vierten Himmel, sind Jerusalem, der Tempel und der Altar errichtet, und Michael, der große Fürst, steht an diesem Ort und bringt Opfer dar“ (Text Talmud 2). Die Dienstengel, die Gott lobpreisen, befinden sich im fünften Himmel, während Gott selbst – umgeben von Seraphim und Ofannim – im siebten Himmel thront. Diese Aufteilung zwischen dem Tempel und Gottesstadt einerseits und dem himmlischen Jerusalem andererseits, die zunächst überraschen mag, lässt sich am einfachsten so erklären, dass sich hier die nachexilische Konzeption der Relation von Tempel und Thron widerspiegelt, wonach der Thron Gottes demnach eben nicht im Tempel selbst, sondern in der himmlischen Welt anzusiedeln ist (s. z.B. Ps 102,13ff; vgl. auch die Konzeption des Tempelweihgebets 1Kön 8,22-52; insbes. V.28-30.32.34.39 u.ö.).

Das Jerusalem, das sich in der himmlischen Welt befindet, ist in der rabbinischen Literatur im Gegensatz zu den christlichen Belegen keine (präsent-)eschatologische Größe. Die Rabbinen erwarten für die Heilszeit, für die vor allem die Befreiung von der römischen Oberherrschaft erhofft wird und die als Zeit gilt, in der die Tora von ganz Israel erfüllt werden wird, den konkreten Aufbau und die Erhöhung der irdischen Stadt (s. hierzu z.B. Sifre Devarim §1; Babylonischer Talmud, Traktat Baba Batra 75b – Text Talmud; weitere Belege bei Ego, 1989, 102f; s.a. die 14. Bitte des → Achtzehngebets). Ein Gesamtblick auf die Quellen freilich zeigt, dass zumindest das Motiv des himmlischen Tempels mittelbar im Kontext der eschatologischen Erwartungen der Rabbinen steht: Wenn sich der himmlische Tempel – auf einer vertikalen Achse gedacht – nämlich senkrecht oberhalb des Platzes des irdischen Tempels befindet (s. hierzu die zahlreiche Auslegungen zu Ex 15,17; für Zusammenstellung der einschlägigen Belege mit Übersetzungen s. Ego, 1989, 73-95), so fungiert dieser himmlische Tempel sozusagen als „Platzhalter“ für den irdischen Tempel. Gerade in den Jahren nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und nach dem Bar-Kochba-Aufstand kommt dieser Vorstellung eine eminente Bedeutung zu: Nach der Umwandlung Jerusalems in die heidnische Stadt Aelia Capitolina war es Juden – abgesehen vom Jahrestag der Tempelzerstörung am 9. Ab – in der Regel verboten, Jerusalem zu betreten. Der himmlische Tempel verankert somit die Heiligkeit des irdischen Tempelplatzes und damit die Heiligkeit der Stadt kosmologisch in der himmlischen Welt und unterstreicht diese damit auf plastische Art und Weise (hierzu Ego, 1989, 99f).

Ansonsten verbindet sich das Motiv des oberen Jerusalem in der rabbinischen Literatur v.a. mit der theologischen Vorstellung des Mitleidens Gottes: Weil Gott seine irdische Stadt nicht mehr betreten kann, weigert er sich auch, seine himmlische Stadt zu betreten (hierzu z.B. Babylonischer Talmud, Traktat Taanit 5a, Text Talmud 2; Seder Elijahu Zuta 21 S. 36; diese Text sowie weitere Belege bei Ego, 1989, 143-147; ebenda 148 weitere Texte mit verwandten Vorstellungen wie z.B. dem „Mitleiden“ des himmlischen Tempels oder der Engel, 148-162).

4. Implizite Belege für das himmlische Jerusalem in der pseudepigraphischen Literatur aus hellenistisch-römischer Zeit

Neben diesen expliziten Belegen für das himmlische bzw. obere Jerusalem finden sich in der Literatur des antiken Judentums auch implizite Hinweise auf diese Vorstellung. So nimmt man an, dass auch im Wächterbuch des äthiopischen Henochbuches (äthHen 1-36; ca. Ende 3. / Anfang 2. Jh. v. Chr.) auf eine entsprechende Vorstellung angespielt wird (→ Henoch). Bei seiner zweiten Reise durch die himmlische Welt gelangt Henoch nämlich an die Straforte der Frevler (äthHen 21,1-10) sowie in die Unterwelt, in der sich die Geister der Seelen der Toten bis zum Tage ihres Gerichtes sammeln (äthHen 22), und darüber hinaus zur Mitte der Erde. Dort schaut er „einen gesegneten fruchtbaren Ort, <wo es Bäume gab> mit treibenden Zweigen“ (zitiert nach der Übersetzung von S. Uhlig); eine Schlucht, die in unmittelbarer Nähe dieses Berges liegt, wird als der Gerichtsort bestimmt; vermutlich ist der Berg selbst jener Ort, wo die Gerechten den Herrn der Herrlichkeit als König der Welt preisen (äthHen 26,1-27,4). Wie von M.T. Wacker deutlich herausgearbeitet wurde, setzt diese Beschreibung die Topographie Jerusalems voraus (zum Ganzen s. Wacker, 1982, 234-257, spez. 245-250); nach äthHen 25,2 wird an diesen Ort einst auch der Lebensbaum verpflanzt werden (hierzu Söllner, 1998, 19). Auf die Vorstellung von einem himmlischen Jerusalem, das in der Endzeit auf die Erde herabkommt, spielt wohl auch die Tierapokalypse (äthHen 85-90) an, wenn von der Installation eines „neuen Hauses“ im Kontext der eschatologischen Ereignisse erzählt wird (äthHen 90,28-38).

Auf Jerusalem als eine präexistente Größe deuten ferner auch Belege, die in die Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels zu datieren sind. Wenn hier auch nicht explizit von der „himmlischen Stadt“ oder dem „himmlischen Jerusalem“ die Rede ist, so wird doch deutlich, dass Jerusalem als Stadt des künftigen Heils bereits in der Zeit der gegenwärtigen Not und Bedrückung eine transzendente Realität besitzt.

Dies zeigt zunächst das 4. Buch Esra, das am Ende des 1. Jh.s n. Chr. als Reaktion auf die Zerstörung des Jerusalemer Tempels entstand (→ Esra-Schriften, außerbiblische). Esra befindet sich – so die Erzählung dieses Buches – nach der Zerstörung des Salomonischen Tempels in Babel. Deutlich drückt er seine Not und Angefochtenheit aus: Nicht die Todverfallenheit der Menschheit im Allgemeinen ist es, die ihn bedrückt, sondern das Schicksal des Gottesvolkes im Besonderen: „Was alle Menschen betrifft – du weißt das besser! Aber um dein Volk – darum leide ich; um dein Erbe, darum traure ich; um Israel – darum bin ich traurig; um die Nachkommen Jakobs – darum bin ich erregt“ (4Esr 8,15f, zitiert nach der Übersetzung von J. Schreiner). Daraufhin beginnt Esra, für Israel ein Gebet zu sprechen, um das göttliche Erbarmen zu erbitten. Aus dem Buchkontext geht hervor, dass die nun folgende Antwort aus dem Munde des Engels Uriel erfolgt:

„ … viele Nöte machen die Weltbewohner in der letzten Zeit beklagenswert, weil sie in großem Hochmut gewandelt sind. Du aber denk an dein eigenes Los und frag nach der Herrlichkeit derer, die dir gleichen. Denn für euch ist das Paradies geöffnet, der Baum des Lebens gepflanzt, die kommende Welt bereitet, die Seligkeit vorbereitet, die Stadt erbaut, die Ruhe zugerüstet, die Güte vollkommen gemacht, die Weisheit vollendet. Die Wurzel des Bösen ist vor euch versiegelt, die Krankheit vor euch ausgetilgt, der Tod verborgen; die Unterwelt ist entflohen, die Vergänglichkeit ist vergessen. Die Schmerzen sind vergangen, und erschienen ist am Ende der Schatz der Unsterblichkeit. Frag also nicht weiter nach der Menge derer, die zugrunde gehen. Denn auch sie hatten die Freiheit empfangen, und sie haben den Höchsten verachtet, sein Gesetz nicht beachtet und seine Wege verlassen, dazu noch auch seine Gerechten zertreten. Sie haben in ihrem Herzen gesprochen, es gebe keinen Gott, und zwar obwohl sie wußten, daß sie sterben müßten. Wie deshalb auch das Verheißene euch in Empfang nimmt, so jene Durst und Qualen, die vorbereitet sind“ (4Esr 8,50-59; zitiert nach der Übersetzung von J. Schreiner).

Außerdem wird Esra geweissagt, dass sich in der Heilszeit die „unsichtbare Stadt erscheinen und das jetzt verborgene Land“ zeigen wird (7,25f; s.a. das Motiv der Transfiguration der trauernden Frau zum eschatologischen Jerusalem in 4Esr 10,44.54; zum Ganzen u.a. Söllner, 1998, 262-286 mit Verweisen auf die ältere Literatur).

Noch weiter geht die syrische Baruchapokalypse, die ca. 90 n. Chr. als Trostbuch entstanden ist (→ Baruch-Apokalypse). Dem irdischen Jerusalem wird hier abgesprochen, das es die wirkliche Stadt Gottes ist. Auf die Frage hin, warum die Stadt denn untergehen musste, antwortet Gott dem klagenden Baruch:

Und der Herr sprach zu mir: „Diese Stadt wird eine Zeitlang preisgegeben, das Volk wird eine Zeitlang gezüchtigt, und die Welt wird nicht vergessen werden. Oder meinst du vielleicht, dies sei die Stadt, von der ich gesagt habe: >In meine Hände habe ich dich gezeichnet<? Nicht ist es dieser Bau, der nun in eurer Mitte auferbaut. Es ist bei mir, was offenbar wird werden, was hier schon seit der Zeit bereitet ward, in der das Paradies zu schaffen ich beschlossen hatte. Und ich habe es dem Adam gezeigt, bevor er sündigte; als er aber das Gebot übertreten hatte, wurde es ihm weggenommen, genauso wie das Paradies. Und danach zeigte ich es meinem Knecht Abraham, in der Nacht zwischen den Opferhälften. Und weiter zeigte ich es Mose auf dem Berge Sinai, als ich ihm das Bild des (Stifts-) Zeltes zeigte und aller seiner Geräte. Siehe (so) ist es nun bewahrt bei mir gleichwie das Paradies“ (SyrBar 4,1-7 zitiert nach der Übersetzung von A.F.J. Klijn, JSHRZ V/2, 124f.).

Auch hier scheint Jerusalem eine präexistente Größe darzustellen, die einst dann allen offenbar werden wird (hierzu Söllner, 1998, 287-296; zum Ganzen s.a. die ausführlichen Analysen bei Müller-Fieberg, 2003, 283-366; mit Verweisen auf die ältere Literatur).

5. Ausblick: Wirkungsgeschichtliche Aspekte

Himml-Jerusalem 2

Die Vorstellung vom himmlischen Jerusalem spielte weiterhin christlicherseits in der Alten Kirche und im Mittelalter als eschatologisches Symbol eine wichtige Rolle (ausführlich hierzu für die Alte Kirche s. u.a. Hengel, 275-280; Markschies; Prigent, 390-400; Thraede, 1996, 728-756; zum Mittelalter Köpf, 2001, 448 mit weiterführenden Hinweisen). Eine besondere Bedeutung kam ihr im Mönchtum zu, das sich „seit alters als irdische Vorwegnahme der künftigen Herrlichkeit verstand“ (vgl. z.B. Bernhard von Clairvaux, der Clairvaux als „Jerusalem“ bezeichnete), „dem h.J. ganz durch innere Hingabe, Nachahmung im Lebenswandel verbunden“ (Ep. 64,2; Köpf, 2001, 448). Schließlich findet sich diese Vorstellung auch in der erbaulichen Literatur und im Kirchenlied, wobei z.T. eine starke Fokussierung auf den individuell-eschatologischen Bereich festzustellen ist (s. z.B. M. Meyfarts Lied „Jerusalem, du hochgebaute Stadt“ [1626]; zum Ganzen Köpf, 2001, 448).

Das Motiv der himmlischen Gottesstadt, insbesondere wie es in der Offenbarung des Johannes beschrieben wird, übte auch auf die christliche bildende Kunst bedeutenden Einfluss aus. Früheste Belege entstammen dem 4. und 5. Jh. (z.B. Sarkophag von Mailand, 380; Apsismosaiken in Rom in S. Pudenziana 402-417 oder S. Maria Maggiore 432-440; Köpf, 2001, 448); zudem finden sich in zahlreichen mittelalterlichen Bibelhandschriften Darstellungen der Stadt, die sich an der Apokalypse des Johannes orientieren (s. hierzu die Arbeiten von Kühnel, Prigent). Das christliche Kirchengebäude galt in der alten Kirche als irdisches Abbild des himmlischen Jerusalem (Köpf, 2001, 448). Darüber hinaus wurde immer wieder die These vertreten, dass die Beschreibung des vom Himmel herabschwebenden Jerusalem mit seinen Lichtern, Farben und konkreten Maßangaben beim Bau der gotischen Kathedrale eine bedeutende Rolle spielte (vgl. hierzu H. Sedlmayer 1976 [die Anfänge zu diesem Werk liegen bereits in den 30er Jahren], sowie die kritische Auseinandersetzung mit dieser These bei W. Schlink, 1997/98).

Literaturverzeichnis

1. Lexikonartikel

  • Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart 1933-1979
  • Reallexikon für Antike und Christentum, Stuttgart 1950ff.
  • Lexikon der christlichen Ikonographie, Freiburg i.Br. 1968-1976 (Taschenbuchausgabe, Rom u.a. 1994)
  • Theologische Realenzyklopädie, Berlin / New York 1977-2004
  • Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1992
  • Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Tübingen 1998ff.
  • Calwer Bibellexikon, Stuttgart 2003

2. Weitere Literatur

  • Ego, B., 1989, Im Himmel wie auf Erden. Studien zum Verhältnis von himmlischer und irdischer Welt im rabbinischen Judentum (WUNT II/34), Tübingen.
  • Hengel, M., 2000, Die »auserwählte Herrin«, die »Braut«, die »auserwählte Herrin« und die Gottesstadt, in: M. Hengel u.a. (Hgg.), La Cité de Dieu / Die Stadt Gottes, Tübingen, 245-286.
  • Hieke, Th., 2006, Der Seher Johannes als neuer Ezechiel. Die Offenbarung des Johannes vom Ezechielbuch her gelesen, in: D. Sänger (Hg.), Das Ezechielbuch in der Johannesoffenbarung (BTS 76), Neukirchen-Vluyn, 1-30.
  • Klijn, A.F.J., 1976, Die syrische Baruchapokalypse (JSHZR V/2), Gütersloh.
  • Köpf, U., 2001, Jerusalem, himmlisches, in: RGG 4. Aufl., Bd. 4, Tübingen, 448-449.
  • Kühnel, B., 1987, From the Earthly to the Heavenly Jerusalem. Representations of the Holy City in Christian art in the First Millenium (Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte. Supplementheft 42), Rom u.a.
  • Markschies, Chr., 2000, Himmlisches und irdisches Jerusalem im antiken Christentum, in: M. Hengel u.a. (Hgg.), La Cité de Dieu / Die Stadt Gottes, Tübingen, 303-350.
  • Müller-Fieberg, R., 2003, Das „neue Jerusalem“ – Vision für alle Herzen und Zeiten? Eine Auslegung von Offb 21,1-22,5 im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition und literarischer Rezeption (BBB 144), Berlin.
  • Prigent, P., 2003, Le Jérusalem Céleste. Histoire d´une tradition iconographique du quatrième siècle à la réform (Editions Saint Augustin), Saint-Maurice.
  • Prigent, P., 2000, Le Jérusalem Céleste. Apparition et développement du thème iconographique de la Jérusalem celeste dans la christianisme, in: M. Hengel u.a. (Hgg.), La Cité de Dieu / Die Stadt Gottes, Tübingen, 367-404.
  • Schlink, W., 1997/1998, The Gothic Cathedral as Heavenly Jerusalem: A Fiction in German Art History, Jewish Art 24, 275-285.
  • Scholem, G., 1976, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. Mit einer Nachbemerkung: Aus einem Brief an einen protestantischen Theologen, in: ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums (sv 414), Frankfurt, 121-169.
  • Schreiner, J., 1981, Das 4. Buch Esra (JSHZR V/4), Gütersloh.
  • Schwemer, A.M., 2000, Himmlische Stadt und himmlisches Bürgerrecht bei Paulus (Gal 4,26 und Phil 3,20), in: M. Hengel u.a. (Hgg.), La Cité de Dieu / Die Stadt Gottes, Tübingen, 195-244.
  • Sedlmayr, H., 1976, Die Entstehung der Kathedrale, Graz.
  • Sim, U., 1996, Das himmlische Jerusalem in Apk 21,1-22 im Kontext biblisch-jüdischer Tradition und antiken Städtebaus (BAC 25), Trier.
  • Söllner, P., 1998, Jerusalem, die hochgebaute Stadt. Eschatologisches und himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und frühen Christentum (TANZ 25), Tübingen.
  • Thraede, K., 1996, Art. Jerusalem II (Sinnbild), in: RAC 17, Stuttgart, 718-764.
  • Uhlig, S., 1984, Das Äthiopische Henochbuch (JSHRZ V/6), Gütersloh.
  • Wacker, M.T., 1982, Weltordnung und Gericht. Studien zu 1 Henoch 22, Würzburg.
  • Bildteil: Himmlisches Jerusalem, in: Faszination Jerusalem, Welt und Umwelt der Bibel, 16, 2000, 52-57.

Abbildungsverzeichnis

  • Das himmlische Jerusalem (Facundus-Handschrift des Beatus-Apokalypsekommentars von 1047 n. Chr.). Aus: Wikimedia Commons; © public domain; Zugriff 5.5.2007
  • Das himmlische Jerusalem als Hoffnung für das darunter dargestellte brennende Köln auf einer Tür des Südportals des Kölner Doms (Ewald Mataré 1953). © public domain (Foto: Klaus Koenen, 2010)

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