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Kulturanthropologische Religionsforschung/Religionsethnologie

(erstellt: Februar 2018)

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1. Zum Begriff der Kulturanthropologie

Der Begriff der Kulturanthropologie wird in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht: Er bezeichnet eine bzw. zwei akademische Disziplinen im Spektrum der Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich empirisch und theoriebildend mit kulturellen Phänomenen der Gegenwart befassen. Im zeitgeschichtlichen und internationalen Vergleich ist/sind diese Wissenschaft/en unter einer Reihe weiterer Namen bekannt. Die im deutschsprachigen Raum lange Zeit übliche Unterscheidung in Völker- und Volkskunde ist inzwischen obsolet, hat aber trotz Umbenennung in Ethnologie und Europäische Ethnologie ihre Spuren hinterlassen. Während sich die Ethnologie für kulturelle Phänomene, Normen und ethnische Gruppen weltweit interessiert, konzentriert sich die Europäische Ethnologie primär auf Entwicklungen in der eigenen Gesellschaft. In Zeiten verstärkter Migration und Globalisierung sind regionalistische Zuordnungen ein fragwürdiger Maßstab für die Unterscheidung von Fachdisziplinen geworden. Folgerichtig haben sich beide Fächer methodisch-thematisch angenähert. Der heutige Fokus liegt auf kulturellen Praktiken, mithilfe derer Identitäten und Differenzen sozial erzeugt werden. Beide Fächer – Ethnologie und Europäische Ethnologie – verstehen sich als Kulturanthropologie, wobei unterschiedliche institutionelle Strukturen, Studiengänge und Akzentsetzungen erhalten blieben. Diese begriffliche Verlagerung ging mit der Internationalisierung der Wissenschaftsdiskurse einher. Die britische Fachbezeichnung (Social Anthropology) und der US-amerikanische Sprachgebrauch (Cultural Anthropology) trugen zum neuen Selbstverständnis als (Sozial- und) Kulturanthropologie erheblich bei, wenn auch je nach Perspektive des Sprechers oder der Sprecherin Unterschiedliches assoziiert wird. Problematisch wird diese sprachliche Unschärfe, wenn der Begriff (etwa infolge einer direkten Übersetzung) auf → „Anthropologie“ verkürzt wird. Während international meist ein sozial- und kulturanthropologisches Verständnis implizit ist, verweist der mehrdeutige deutschsprachige Ausdruck auch auf (a) ein Gebiet der Humanbiologie und insofern angeborene und evolutionsbezogene Variablen des menschlichen Lebens (Physical Anthropology), sowie auf (b) eine philosophische Fachrichtung, die nach dem wesenhaft Menschlichen fragt.

Im Rahmen dieses Lexikons steht die Kulturanthropologie für eine spezifische akademische Perspektive und methodische Herangehensweise an die Erforschung von Religion, Religionen und religionsbezogenen sozialen Phänomenen. Dieser eigenständige Ansatz geht wissenschaftshistorisch aus dem Fachverständnis der oben genannten Disziplinen hervor, insbesondere der Religionsethnologie (Anthropology of Religion). Dieser religionsethnologische bzw. kulturanthropologische Ansatz bildet eine Facette der interdisziplinären Systematik, Religion als wissenschaftlichen Gegenstand zu erforschen neben der → Religionssoziologie, der → Religionspsychologie, der Religionsgeschichte, der Religionsphilosophie etc. So gesehen fungiert die Kulturanthropologie als Teil einer kulturwissenschaftlichen → Religionswissenschaft. Ob sich jemand als Religionswissenschaftlerin oder als Religionsethnologe identifiziert, ist insofern auch eine Frage des Kontextes.

2. Der religionsethnologische Ansatz

Die Religionsethnologie befasst sich mit Glaubensvorstellungen, religiösen Praktiken und Institutionen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Im Vordergrund steht die religiöse Praxis in ihrem produktiven Spannungsverhältnis zur religiösen Lehre (Theorien, Dogmen, Schriften) und die Bedeutungen, die mit dieser Praxis verbunden werden. Untersucht werden Fallbeispiele in ihrem Potenzial, weitreichende Aussagen über den Einfluss des Religiösen in einer Gesellschaft zu machen. Persönliche Sinnbildungsprozesse stehen dabei für sozial vermittelte kollektive Formen und Auffassungen, die Menschen prägen und verändern können. Diese praxisorientierte Perspektive auf Religion privilegiert die Sicht von Laiengläubigen und betont die Konkurrenz von religiösen Spezialisten. Der Blick richtet sich so auf den (beobachtbaren) Umgang mit Religion und insofern auch auf Verflechtungen religiöser Anliegen mit weiteren Interessen und gesellschaftlichen Handlungsbereichen (sozialer, politischer, ökonomischer oder auch medizinischer Art).

Für die Religionsethnologie ist zweitrangig, ob die untersuchten religionsbezogenen Denkmuster und Verhaltensweisen im Rahmen einer „Weltreligion“ legitimiert sind oder nur lokale Reichweite haben. Vielmehr weisen gerade jüngere Studien darauf hin, dass die Vorstellung homogener Religionen diskursiv erzeugt ist, ebenso wie die Annahme, Menschen würden sich überhaupt (nur) auf ein religiöses System beziehen (Heidemann, 2011, 192). Insofern bilden liturgische Formen – religionsethnologisch gesehen – bloß eine Facette der religiösen Praxis, vergleichbar mit Glaubensvorstellungen und entsprechenden Routinen, die mit Etiketten wie „volkstümlich“, „ethnisch“, „populär“ oder „esoterisch“ versehen werden. Das religiöse Leben ist aus religionsethnologischer Sicht fundamental von Überlagerungen gekennzeichnet, die sich nur näherungsweise mit dem Begriff des „Synkretismus“ erklären lassen – schließlich würde dies das Vorhandensein „reiner“ Religionen implizieren. Oft sind es die antagonistisch wirkenden Aspekte im Rahmen scheinbar vertrauter religiöser Systeme, die die kulturanthropologische Aufmerksamkeit auf sich ziehen: Wunderheilungen als Teil christlicher Volksfrömmigkeit, Besessenheitskulte muslimischer Bruderschaften, Geisterverehrung im Buddhismus und viele mehr. Diese Kontraste zeugen davon, dass das religiöse Leben keine isolierte statische Größe bildet, sondern sich gegenüber anderen Anschauungen und Prozessen konstituiert. Außerdem verdeutlichen sie, dass die involvierten Menschen meist keinen Widerspruch in der Kombination einschlägiger Aktivitäten sehen.

Nicht immer war das religionsethnologische Interesse so breit. Gerade in der Anfangszeit konzentrierte sich die kulturanthropologische Forschung auf mündlich tradierte, regional begrenzte „indigene“ Formen an den Grenzen der vertrauten Welt. Im Vordergrund standen z.B. die mythologischen Grundlagen einer Gesellschaft und daraus abgeleitete Normen und Ritualpraktiken. Somit war das Forschungsinteresse bis in die 1960er Jahre auf solche religiösen Formen begrenzt, die außerhalb des akademischen Zuständigkeitsbereichs von Theologie, Islamwissenschaft, Indologie etc. fielen: ein schillerndes Spektrum von der Ahnenverehrung bis zur Zauberei. Die heutige Ausrichtung der Religionsethnologie lässt sich aus guten Gründen nicht mehr in territorialer oder religionsbezogener Hinsicht ein- und abgrenzen. Ziel ist, die Vielfalt und Vielschichtigkeit religiöser Phänomene zu ergründen und dabei Theorien auf mittlerer Ebene zu entwickeln, etwa zur Wirkweise von Ritualen, zur Konzeptualisierung von Un/Reinheitoder zur Verkörperlichung (embodiment) religiösen Wissens.

Forschungsgegenstand und Methodik der Religionsethnologie sind eng mit der Disziplin und Programmatik der Kulturanthropologie verbunden und haben sich mit deren postkolonialer Neujustierung sukzessive verändert und verlagert. Das Interesse an Religion als einem gesellschaftlichen Teilbereich, an der Vielfalt religiöser Formen sowie an Religionsdiskursen ist geprägt vom ethnologischen Leitbild: dem wissenschaftlichen Verstehen des „kulturell Fremden“ (Heidemann, 2011, 12; Eller, 2014, 2; Schmidt, 2015, 81;87;89). Dieses Fremde kann sich auf Vorstellungen und Praktiken in fernen Ländern beziehen, auf bislang verborgen gebliebene Phänomene vor der eigenen Haustür oder in grundsätzlich nicht territorial eingrenzbaren sozialen Räumen. Zentral ist der Anspruch, das Fremde in seiner Eigenlogik zu erfassen, also aus der Perspektive derjenigen, die in verschiedenster Weise – und auch mit konträren Einschätzungen – involviert sind. Die zentrale Methode der Datengewinnung ist die ethnologische Feldforschung (siehe unten).

3. Grundkonzepte und Prämissen

Das Erkenntnisinteresse und methodische Vorgehen der kulturanthropologischen Religionsforschung basiert im Wesentlichen auf drei Grundpfeilern: dem fachspezifischen Verständnis von Kultur (3.1); erkenntnistheoretischen Überlegungen zum Verstehen des Fremden (3.2); und dem Wissen um die Grenzen eines analytischen Religionsbegriffs (3.3).

3.1 Kultur

Ein Verständnis von Kultur war zentral für die Begründung der Völkerkunde als wissenschaftlicher Disziplin im ausgehenden 19. Jahrhundert und wurde im Laufe der Fachgeschichte immer wieder hinterfragt, angepasst und modifiziert. Bereits Mitte des 20. Jahrhunderts kursierten in und außerhalb des Faches und bezogen auf unterschiedliche Anwendungsbereiche mehr als 160 Kulturbegriffe (Kroeber/Kluckhohn, 1952). Die Pluralität und Abhängigkeit von Kulturbegriffen von zeitgenössischen Kulturtheorien lässt sich bis in die Gegenwart verfolgen (Petermann, 2010, 41-64; Hahn, 2013, 17-39). Kurz gesagt bezieht sich der frühe (religions-) ethnologische Kulturbegriff auf Erlerntes im Kontrast zu im biologischen Sinn Vererbtem. Im deutschsprachigen Raum wurde dieser „holistische Kulturbegriff“ maßgeblich von Johann Gottfried Herder (1744-1803) ausformuliert, der unter Kultur das Ausdrucksganze der Lebensart eines Volkes verstand, also eine spezifische Lebensweise von Kollektiven (Berg, 1990, 63). Vor diesem Hintergrund wurde Religion als „Glaube an geistige Wesen“ definiert und für einen grundlegenden Teilbereich der menschlichen „Cultur oder Civilisation“ befunden (Tylor, 2005, 418, englisches Original 1871).

Da der holistische Kulturbegriff auf gesellschaftliche Formationen in ihrer jeweiligen Gesamtheit angewendet wurde, ließ sich auch im Plural von verschiedenen „Kulturen“ sprechen. Wie problematisch eine Übertragung dieser Begrifflichkeit auf räumlich verortete, für ursprünglich befundene Abstammungsgemeinschaften (primordialistische „Völker“) werden sollte, zeigte sich bald. Schon Untersuchungen zum sozialen Wandel aus den 1940er Jahren machten deutlich, dass die Welt kein Mosaik aus verschiedenen, in sich geschlossenen Einzelgemeinschaften oder Nationalkulturen bildet. Mit der wachsenden Einsicht, dass Kulturen keine „organischen“ Gebilde sind (wie Durkheim vermutete), sondern fortlaufenden Veränderungs- und Austauschprozessen unterliegen, orientierte sich die Kulturanthropologie neu (Petermann, 2010; Hahn, 2013, 28;188). Migration, erleichterte Mobilität und neue Kommunikationsmedien führen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts schließlich eine Form globaler Verflechtungen vor Augen, die einen ethnisch-territorial verorteten und in diesem Sinn statischen Kulturbegriff hinfällig machten. Weit über die Kulturanthropologie hinaus setzte sich die Erkenntnis durch, dass kulturelle Grenzen flexibel und Gegenstand sozialer Aushandlungen sind (Paradigma der Transkulturalität). Es ist das soziale Handeln, das Gemeinschaft/en schafft und verändert. Der Kulturbegriff bleibt aus disziplinärer Sicht ein heißes Eisen und wird mit verschiedenen Akzentsetzungen verwendet: für sozial vermittelte Bedeutungen bzw. Bedeutungsmuster, für performativ hervorgebrachte Formen der Selbstvergewisserung, für habituelle und in dieser Hinsicht körperlich gewordene Orientierungen, für geteilte Wissensordnungen und epistemische Gemeinschaften. Der Kulturbegriff wird auch deshalb weiter umstritten sein, weil er Homogenität, Kohärenz und Zeitlosigkeit suggeriert sowie das hierarchische Gefälle verschleiert, das mit jeglicher Kulturbeschreibung diskursiv erzeugt wird (Abu-Lughod, 2014, Original 1991).

3.2 Fremdverstehen

Wie oben bereits angedeutet, hat die Auseinandersetzung mit kultureller Fremdheit (Alterität) in der Kulturanthropologie eine zentrale heuristische Funktion. Kulturanthropologische Studien – insbesondere die → Ethnografie – haben den Anspruch, spezifische Lebenswelten zu analysieren und basieren solchermaßen darauf, Kontraste herauszuarbeiten. Gerade in der kolonialzeitlichen Erforschung religiöser Traditionen führte dies zu einer Reihe von Theorien, die sich im Nachhinein als wissenschaftliche Fiktionen herausstellten (etwa zu Animismus, Totemismus, Fetischismus, Urmonotheismus, Magie: Hausschild, 1993, 307-308).

In der kritischen Aufarbeitung der Fachgeschichte wurde die wissenschaftliche Autorität und der Modus der „Writing Culture“ programmatisch hinterfragt (Clifford/Marcus, 1986; Berg/Fuchs, 1993). Dabei rückten Repräsentationen des Fremden als Mittel der eigenen Identitäts- und Machtpolitiken ins Licht. So dienten etwa auch Beschreibungen des religiös Anderen – etwa von Hexerei oder Besessenheit – zuweilen dazu, sich der eigenen Zivilisation, Rationalität und Moderne zu vergewissern, erst recht vor dem Hintergrund kolonialer Unterwerfung. Diese Diagnose war nicht bloß eine Kritik an den hegemonialen Strukturen des Wissenschaftsbetriebs. Sie verweist auf einen Verzerrungseffekt, dem alle wissenschaftlichen Beschreibungen des Fremden potenziell ausgesetzt sind: den Prozess der „Veranderung“ (Othering, siehe Fabian, 1993, englisches Original 1990). Das bislang Unbekannte kann – auch bei bester Absicht – nicht objektiv oder neutral dargestellt werden. Da sich das Fremde nur standortbezogen, also im Verhältnis zum Eigenen bestimmten lässt, fungiert der Beschreibungsprozess als (Zerr-) Spiegel, in dem das Fremde zum radikal Andersartigen mutieren kann. Ebenso fördern allein sprachliche Kategorien, fremde Situationen auf eine ganz spezifische Weise wahrzunehmen und einzuschätzen: nämlich entlang der gewohnten eigenen Denkfiguren („Nostrifizierung“, Stagl, 1985, 107). Anders ausgedrückt: Das Fremde wird mal exotisiert, mal wird es angepasst an bestehende Normalitätsvorstellungen und Ordnungskategorien. Dazu trägt sowohl die Kategorie der Religion bei als auch das (christlich konnotierte) Repertoire an Begriffen zu ihrer Beschreibung.

Diese erkenntnistheoretische Zwickmühle hat eine politische Dimension: In wessen Interesse findet Forschung statt? Wer darf überhaupt für eine Personengruppe sprechen? Und was heißt das für eine postkoloniale Religionsforschung? Längst meldeten sich Multiplikatoren aus ehemals bevorzugten Untersuchungsregionen selbst zu Wort, übernahmen Lehrstühle an (US-amerikanischen) Universitäten oder entscheiden über Forschungsprogramme. Auch innerhalb der Kulturanthropologie wurden neue Standards gesetzt. Erstens erhöhte sich der Anspruch an Ethnografinnen und Ethnografen, die im Zusammenhang eines Forschungsaufenthalts stehenden Machtverhältnisse kritisch zu reflektieren und im Rahmen ihrer Publikationen darzulegen. Zweitens entstanden neue kollaborative Forschungsformate, in denen im Teamwork an Fragestellungen, Datenerhebung und Ergebnispräsentation gearbeitet wird (Hahn, 2013, 207-216; Falzon, 2016). Drittens setzte sich das Primat einer Mehr- bzw. Vielstimmigkeit durch, um so konträre Positionen, ambivalente Äußerungen und widersprüchliche Befunde zu thematisieren – also auf alternative Deutungshorizonte hinzuweisen.

3.3 Religion

Wie sich oben bereits abzeichnete, hat die kulturanthropologische Religionsforschung ein sehr weites Verständnis von dem, was Religion sein kann bzw. was dafür gehalten wird. Das explizite Bekenntnis zu einer Religionsgemeinschaft oder die Gottesvorstellung bilden nur Teilaspekte.

In der Geschichte der Religionsethnologie hat es viele Versuche gegeben, einen für die kultur- und religionsvergleichende Untersuchung geeigneten analytischen Religionsbegriff zu entwickeln, der frei von konfessioneller oder eurozentrischer Normierung ist. Einer der bekanntesten Vorschläge wurde von Clifford Geertz formuliert, der Religion als „(1) ein Symbolsystem [versteht], das darauf zielt, (2) starke umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen“ (Geertz, 1987, 48, englisches Original 1966). Mit dieser Perspektive gelingt es Geertz, das Spektrum von religiösem Verhalten vis-à-vis etablierten Glaubensvorstellungen als besonderen Bereich religionsethnologischer Forschung auszuweisen und analytisch zugängig zu machen (Schmidt, 2015, 21).

Gerade weil diese analytische Auffassung von Religion weithin rezipiert und aufgegriffen wurde, lässt sich daran ein grundsätzliches Problem aufzeigen, das von Talal Asad (1993) herausgearbeitet und auf den Punkt gebracht wurde: Der scheinbar weltliche, abstrakte Religionsbegriff ist ein diskursives Produkt der Moderne und somit weder ahistorisch noch universal gegeben. Die Vorstellung, dass sich Religiosität an einem bestimmten Bewusstsein festmache – an einer inneren Haltung, an etwas Spürbarem, an Stimmungen – ist eine spezifisch europäisch-christliche Auffassung, die sich erst infolge der Reformation herausbildete. Das Problem: Werden diese eurozentrischen Standards an die Beschreibung vormoderner oder nicht-christlicher Konzepte bzw. Praktiken angelegt, erscheinen diese als defizitär (Winzeler, 2012, 21-35; Bielo, 2015). Sie äußern sich möglicherweise ohne eine für angemessen befundene Hingabe, vergleichsweise „laut“ oder „schematisch“. In der Tat setzen außereuropäische, nicht-christliche Termini, die als Äquivalent zum Religionsbegriff bemüht werden, andere Akzente. Das hinduistische Konzept des dharma beispielsweise bezieht sich auf sozial variierende und für naturgemäß erklärte Weisen der Pflichterfüllung. So sind für religiöses Gelingen statusspezifische Normen entscheidend, weniger die innere Beteiligung oder gar eine universale Moral (Michaels, 1998, 31f.). Vor dem Hintergrund einer im Zuge der europäischen Moderne historisch produzierten weltlichen Kategorie der Religion stellen sich wiederum Fragen nach dem Erfolg der → Säkularisierung, nach Politiken der Abgrenzung und postkolonialen Alternativen.

Ohne Zweifel wurde der moderne Religionsbegriff längst außerhalb europäischer und christlicher Zusammenhänge übernommen. Er ist aus den globalen Diskursen der Gegenwart nicht mehr wegzudenken. Gerade deshalb besteht aus kulturanthropologischer Sicht die Notwendigkeit, den Religionsbegriff zu thematisieren, sobald aus Forschungsinteresse oder in der Öffentlichkeit von „Religion“ die Rede ist. Der Begriff der Religion ist nicht selbsterklärend, sondern muss vor dem Hintergrund seiner diskursiven Konstitutionsbedingungen gefasst werden. So spricht z.B. die Kulturanthropologin Bettina Schmidt im Zusammenhang mit der Erforschung spiritistischer Praktiken in der Karibik von „Religion“, muss dann aber lernen, dass sich die Praktizierenden als Katholiken verstehen und ihren „Dienst an den Geistern“ gar nicht als religiöse Aktivität begreifen (Schmidt, 2015, 9f.). Wann bzw. unter welchen Bedingungen etwas als „religiös“ aufgefasst wird, vor welchem Hintergrund und warum dies möglicherweise strittig ist, bildet daher einen wichtigen Aspekt religionsethnologischer Studien und kann nicht vorab oder pauschal geklärt werden.

4. Methodik

Die zentrale Erkenntnismethode der Kulturanthropologie ist die Feldforschung, eine durch persönliche Anwesenheit, direkte Interaktion und Selbstintegration gekennzeichnete, vergleichsweise zeitintensive Weise, sich mit einer Thematik bzw. einem empirischen Feld zu befassen. Dabei werden verschiedene Verfahren der Datenerhebung kombiniert, insbesondere aus der Qualitativen Sozialforschung (→ Qualitative Sozialforschung in der Religionspädagogik) (Beer, 2008; Breidenstein/Hirschauer/Kalthoff, 2015). Das Ergebnis – und manchmal die Erkenntnisstrategie als solche – wird als Ethnografie bezeichnet.

Den Kern einer Feldforschung bilden an natürliche Gesprächssituationen angelehnte „narrative Interviews“ sowie die „teilnehmende Beobachtung“. Damit ist das temporäre Eintauchen in die untersuchte Lebensrealität gemeint, also die Anwesenheit bei Routinesituationen, das körperlich-emotionale Miterleben, Lernen von Orientierungswissen und gegebenenfalls auch gruppenspezifischen Fertigkeiten (inklusive der Sprache). Das Changieren zwischen engagierter Teilnahme und analytischer Beobachterperspektive soll dazu beitragen, die inhärente Logik des menschlichen Handelns im untersuchten Kontext zu erschließen (Spittler, 2001). Anstoß für diese Haltung war das klassisch-ethnografische Ideal, die Dinge „aus der Perspektive des Eingeborenen“ zu sehen (Malinowski, 2007, 30; englisches Original 1922). Die Datenerhebung kann im Rahmen eines längerfristigen stationären Aufenthalts in einem geografisch abgrenzbaren Rahmen geschehen – etwa an einer Pilgerstätte – oder auch beim Aufsuchen verschiedener, thematisch verbundener sozialer Orte, z.B. einem Meditationszentrum, einer Esoterik-Messe, einem Internetforum zu Spiritualität und viele mehr („mehrortige Feldforschung“). Je nach Forschungsgegenstand bezieht sich das Vor-Ort-Sein also auf unterschiedliche Räume, die erst im Verlauf einer Forschung eine Gesamtheit bilden (Falzon, 2016). In vielen Fällen vermischen sich stationäre Phasen und ein gezielter Wechsel von Forschungsorten.

Eine besondere Herausforderung der religionsethnologischen Forschung stellt der Umgang mit religiösen Wahrheitsansprüchen dar. Was tun, um ein extremes Beispiel zu nehmen, wenn ein nepalesischer Schamane eine im Baum sitzende „Hexe“ sieht, die der anwesende Ethnograf nicht erkennen, sondern allein als „Intensivierung der Spannung“ wahrnehmen kann (Oppitz, 1981)? Der amerikanische Religionsethnologe James Bielo (2015, Chapter 2) hat vier wesentliche Strategien unterschieden, wie mit einer solchen epistemischen Herausforderung im Feld umgegangen wird: (1) mit einer sozialkonstruktivistisch begründeten Distanzierung, also einem „methodologischen Atheismus“ (Berger); (2) mit Verweis auf das menschliche Unvermögen, solcherlei Sachverhalte zu verifizieren („methodologischer Agnostizismus“ nach Smart); (3) mit einem sozialen Mitspielen (So-tun-als-ob) und insofern „methodologischen Ludismus“ (Droogers); oder (4) mit dem Ernstnehmen der schamanischen Perspektive als spezifische Wirklichkeit („methodologischer Theismus“). Alle vier Haltungen haben im Hinblick auf die Forschungssituation und die Erkenntnisgewinnung Vor- und Nachteile. Eine vollständige Identifikation der Forschenden mit der untersuchten Welt ist also nicht vorgesehen, wenn auch in Einzelfällen forscherisches und religiöses Interesse korrelieren.

5. Weiterführende Hinweise

In den letzten 30 Jahren hat sich die Kulturanthropologie stark gewandelt und neu positioniert. Das hat auch den Stellenwert der Religionsethnologie im Fach bzw. für die kulturanthropologische Theorienbildung beeinflusst. Gleichzeitig sind kulturanthropologische Methoden, Denkansätze und Theorien längst in benachbarten akademischen Disziplinen aufgegriffen, etabliert und weiterentwickelt worden. Vor dem Hintergrund globaler und interdisziplinärer Debatten über Religion, der kulturwissenschaftlichen Wende(n) diverser Disziplinen, und der weit über die Kulturanthropologie hinausreichenden Popularität der Feldforschung heben sich religionsethnologische Arbeiten nicht mehr grundsätzlich ab im Spektrum der kulturwissenschaftlichen Religionsforschung. Diese Entwicklung ist sehr zu begrüßen und zeigt, welche weitreichenden Impulse die wissenschaftliche Beschäftigung mit kulturell und religiös Fremdem gesetzt hat. Damit ist die Aufgabe der kulturanthropologischen Religionsforschung nicht obsolet, sondern verändert sich im Gefüge der Forschungslandschaft und -paradigmen – nicht zuletzt um immer wieder auf die Situiertheit, Komplexität und Dynamik religiöser Praxis zu verweisen und die Herausforderungen, die mit ihrer Erforschung einhergehen.

Die Geschichte der Religionsethnologie und ihre wesentlichen Debatten sind gut aufgearbeitet und können – ebenso wie aktuelle Befunde zu Ritualforschung, Embodiment oder Revitalisierung – an verschiedenen Stellen nachgelesen werden (siehe Heidemann, 2011, 184-196; Burkhard, 2011; Winzeler, 2012; Eller, 2014; Bielo, 2015; Schmidt, 2015). Viele ausgewiesene Sozial- und Kulturanthropologen gelten als Pioniere und Klassiker der Religionsforschung (siehe Michaels, 2004; Lambek, 2008). Dazu gehören z.B. Edward B. Tylor (1832-1917), James George Frazer (1854-1941), Émile Durkheim (1858-1917), Alfred R. Radcliffe-Brown (1881-1955), Bronislaw K. Malinowski (1884-1942), Edward E. Evans-Pritchard (1902-1973), Claude Lévi-Strauss (1908-2009), Victor W. Turner (1920-1983), Edith Turner (1921-2016), Mary Douglas (1921-2007), Clifford J. Geertz (1926-2006), Marvin Harris (1927-2001), Pierre Bourdieu (1930-2002), neben etlichen weiteren, höchst lebendigen Religionsethnologen und Religionsethnologinnen.

Literaturverzeichnis

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